Lesefehler als Fenster in die Gedankenwelt (eine Blickrichtungsanalyse)
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- Wilhelmine Koch
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1 Lesefehler als Fenster in die Gedankenwelt (eine Blickrichtungsanalyse) G. Schneider, I. Badel Bei der Lektüre einen Textes lesen wir häufig einen Satz mehrfach, bis der "Lesefehler" gefunden ist, der für unsere Verunsicherung verantwortlich war. Beim Vorlesen werden diese Lesefehler meist deutlich bemerkt. Jedoch ist es nicht einfach, die Ursachen für die Fehllesungen zu ergründen, da es unterschiedliche Arten von Lesefehlern gibt und sehr viele unbewusste Faktoren hineinspielen. Erst die Korrelation des gesprochenen Wortes zum Ort des Blickpunktes am geschriebenen Wort sowie die Analyse des Verständnisses des Textes können hier weiter helfen. Abb.1 Kamerasystem zur Analyse der Blicksteuerung beim Lesen Diese Arbeit stellt eine experimentelle Anordnung vor, die einige Ursachenfaktoren bei Schwierigkeiten in der Aneignung von Lesesicherheit und Leseflüssigkeit zu analysieren hilft. Die Ergebnisse wurden an berliner Schulen mit einem mobilen Labormessplatz des Instituts für Rehabilitationswissenschaften [Abteilung1]; in Zusammenarbeit mit der Grundschulpädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin [Abteilung2] gewonnen. Experimentelles Die Blickrichtung beim Lesen wurde mit Hilfe eines 3-Kamerasystems [EyeLink] aufgenommen, wobei die Pupillen- Reflex-Beziehungen der Bewegungen beider Augen ins Verhältnis zur Stellung des Kopfes zu einem Computerbildschirm gesetzt wurde. Somit konnten mit hinreichender örtlicher und zeitlicher Genauigkeit (4ms) die Blickrichtung und damit der Ort des Blickes auf dem Text auf einem Computerbildschirm bestimmt werden. Überblick zur Eye-Trecking-Technik unter [Schneider & Kurt 2000] Lesefehler.doc - 1 -
2 Der Leseprozess ist eine Verbindung von Denken und Sprechen. Beim Lesen werden Vermutungen angestellt, die in einem sehr schnellen Rhythmus verworfen oder bestätigt werden. Gedanklich eilt der Lesende dem Lesen voraus. Wobei das visuelle Erfassen des Textes dem lauten Lesen zeitlich vor- oder sogar nacheilen kann. Lesen ist somit kein flüssiges Aussprechen des Schriftbildes als Buchstabenfolge, sondern ein kognitives Probierverhalten [Goodman] mit der ständigen Bereitschaft zur Bildung oder dem Verwerfen einer unscharfen gedanklichen Hypothese über den Fortgang des Lesestoffs. Mit "einem Blick" erfassen bedeutet nicht, dass der Sinn eines Teils des Textbildes mit einem ruhenden Blick (Fixation) optisch erfasst wird, sondern hinter diesem "einem Blick wird eine Reihe von unbewussten optischen Stichproben aus dem Textbild verstanden, die mit einem sich ständig anpassenden gedanklichen hypothetischen Textinhalt abgeglichen werden. Mit einer Fixation können nur ca. 3-5 Buchstaben scharf auf der Netzhaut foveal abgebildet werden. Darüber hinaus sind bis ca. 10 Buchstaben nur noch allgemeine Informationen über z.b. Größe der Buchstaben und Wortlänge parafoveal zu erkennen. Abb.1a Blickbereiche beim Lesen eines 12-jährigen kompetenten Lesers an: Es war einmal ein alter Mann, der war 87 Jahre gelbe Punkte: Fixationen regressive Sakkade Fixationen Sakkade Abb.1b zeitlicher Verlauf des Blickes eines kompetenten Lesers auf der obigen Textzeile mit Fixationen und Sakkaden sowie einigen regressiven Sakkaden Lesefehler.doc - 2 -
3 Fehler beim Lesen als Fenster in die Gedankenwelt Fehllesungen sind faszinierend, da sie häufig darauf hinweisen, dass unsere Hypothese vom Fortgang der Geschichte eine andere ist, als der Autor im Sinn hatte. Es kommt auch bei kompetenten Lesern vor, insbesondere beim überfliegenden Lesen, wie morgens in der Tageszeitung, dass diese kreative Diskrepanz erst nach mehreren Sätzen entdeckt wird. Erst sehr spät spürt der Leser selbst eine Unstimmigkeit, die ihn den Satz nochmals lesen lässt. Diese Fehllesungen fallen im Gegensatz zu den zeitnahen Leseproblemen am Wort oder dem Sinn auf, die häufig mit phonologischer Kompetenz beim lauten Vorlesen überspielt werden können. Sie zeigen, dass die Vorstellungen von den Satz- und Worthypothesen sehr viel stärker sein können als visuell fixierte Wörter und Satzteile, die eine Korrektur des Lesezieles einleiten könnten. Klassifikation von Verleser nicht sinnentstellende kreative Verleser (sinnvolle Wortersetzungen) Verleser durch sinnfremde Satz- oder Worthypothesen Wortkorrektur zeitnah zur Aussprache (orthographische, semantische Korrektur) phonologisch oder graphemisch ähnliche, aber sinnfremde Wörter sonstige Verleser (z.b. ungenaue oder falsche Artikulation) Dominanz von Satz- und Worthypothesen Bei der 12 Jahre alten Leserin hatte eine zum Text fehlerhafte Hypothese der Überschrift: Mäuse auf dem Kopf dazu geführt, dass die Leserin für den 3-seitigen Text annahm, die handelnde Person hatte anscheinend die Mäuse auf dem Kopf. (im Text machten die Mäuse einen Kopfstand) [Badel;Schneider2004] Abb. 2 Satzhypothesen im Vergleich zu visuelle Informationen des Textes: Als Labon bemerkte, dass er Mäuse im Haus hatte,.. Die Wörter der Zeile Als Labon bemerkte, dass er Mäuse im Haus hatte,.. liest sie vornehmlich mit ein oder zwei Fixationen pro Wort. Sie liest jedoch vor: dass er Mäuse auf dem Kopf hatte. Dabei fixiert sie zwischen den Worten im Haus und lässt sich durch die Information, 3 Worte statt zwei, nicht von ihrer Hypothese vom Sinn des Satzes abbringen, die der Geschichte einen vollständig anderen Sinn geben würde. In Abb.2 ist zuerkennen, dass gedanklichen Hypothesen viel stärker sein können als die visuellen Stichproben, die eigentlich unsere Fehler viel früher korrigieren müssten. Diese möglicherweise produktive Leistung ist im Leseunterricht sehr sensibel zu thematisieren und nicht zu stigmatisieren. So müssen grammatikalisch und semantisch mögliche "Verlesungen" von z.b. Konzentrationsschwierigkeiten, fehlende Übung, fehlende Motivation zur Leistung, emotional angespannter Einstellung oder Überförderung abgegrenzt werden. Im obigen Beispiel hat die Leserin auf Anfrage auch die Sinnlosigkeit ihrer Hypothese erkannt, aber nicht durch den Text korrigieren lassen. Das Beispiel beleuchtet den Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sowie Fixationen beim Lesen. Lesefehler.doc - 3 -
4 Nicht sinnentstellende kreative Verleser Nicht sinnentstellend ist der Verleser merkte statt bemerkte. Trotz Fixation der Vorsilbe be... wird diese nicht in das Wort einbezogen. Ähnlich wurde friedfertiger Mensch kreativ als friedlicher Mensch gelesen. Die Feinanalyse ergibt drei deutliche Fixationen (von 300ms auf 120ms abnehmend) auf dem Wort friedfertig Abb. 3 Worthypothesen im Vergleich zu visuelle Informationen friedfertig Lesefehler.doc - 4 -
5 Regressive Sakkaden zur schnellen Wort und Hypothesenkorrektur Sofortiges stilles Korrigieren zwischen wenigen Worten dagegen fällt dem Zuhörer nicht auf, da die Korrektur über eine rückwertsgerichtete Blickrichtung (regressive Sakkaden) als interner Korrekturvorgang den Ablauf des vorgelesenen Textes nicht stört. Bei erwachsenen kompetenten Lesern sind ca. 20% der Blicksprünge regressive Sakkaden (Abb.1b) und weisen somit darauf hin, dass direkt am Wort oder in einer inhaltlichen Substruktur des Satzes (z.b. Artikel zum Substantiv) eine Textverarbeitung gedanklich angelaufen ist. An den beiden Zeilen:......Sie fingen an, ihn zu stören. Sie vermehrten sich immer weiter, und schließlich konnte selbst Labon es nicht mehr ertragen., können bei Lisa einige Merkmale selektiert werden. vermehrten und Abb.3 Das unbekannte Wort vermehrten versuchte Lisa mit drei Fixationen zu erlesen. Für dieses relativ lange Wort ein vernünftiger Ansatz. Jedoch ab der zweiten Silbe kommt es zu keiner sinnvollen Wort-Hypothese und Lisa gleitet visuell buchstabierend zurück auf den Wortanfang. Danach erfolgt eine Fixation in die dritte Silbe und mit wiederholtem Zurückgleiten im Word. Vorgelesen hat Lisa das Wort aber relativ flüssig, nahezu unbemerkt leicht lautierend. In dem Satzteil:.., und schließlich konnte selbst Labon es nicht.. sind sehr viele regressive Sakkaden zu erkenn. Die Fixationen sind aber stabil im Wort ohne dass visuell buchstabiert wird. Dies lässt den Schluss zu, dass die Worte bekannt sind, jedoch für eine inhaltliche Sinngebung die Satzstellung oder die Interpunktion zu schwer ist. Zu vermuten ist, dass.. konnte selbst Labon es... hypothetisch.. konnte es selbst Labon.. erwartet wurde oder das Komma vor dem und irritierte. ( schließlich wurde nur auf dem schl fixiert, um dann nochmals das und zu fixieren.) Die Aussprache ist nur ein leichter Versprecher auf schließlich mit sofortiger Korrektur. Lesefehler bei Leseschwäche Erst sehr viele regressive Sakkaden weisen darauf hin, dass der Text für das Kind zu schwer ist oder neurologisch begründete okulomotorische Störungen vorliegen. (Abb.4) Jedoch sind viele regressive Sakkaden nicht das alleinige Merkmal einer starken Leseschwäche. Visuelles Lesefehler.doc - 5 -
6 Gleiten in den Fixationen weist ganz allgemein auf Unsicherheiten hin, die aber sehr viele Ursachen haben können. Bei dieser Unterscheidung ist eine Analyse der Blickrichtung am Text sehr hilfreich. Abb.4a Blickverlauf eines 9-jährigen Kind mit sehr starken Lesestörungen an einem leichten und bekannten Text (viele regressive Sakkaden) Abb.4b Kompetent lesendes 9-jähriges Kind an der gleichen Textstelle Die hier eingesetzte Registrierung des rein optischen Wahrnehmens der Schrift über den Blickort und der Blickdauer bzw. der Augenbewegungen kann jedoch nur ein sehr schwaches Indiz für die komplexen Prozesse sein, die sich auf die Textverarbeitung beziehen - jedoch ist es eine Möglichkeit, über eine objektive Messmethoden physiologischer Größen zumindest Lesefehler.doc - 6 -
7 indirekt und interpretierend auch auf einige gedankliche bzw. kognitive Vorgänge bei Leseschwierigkeiten schließen zu können. Lesefehler durch Homophone bzw. Homographe Häufige Verlesungen treten bei phonologisch oder graphemisch ähnlichen, aber sinnfremden Wörtern auf, so genannten Homophonen (z.b. Rat und Rad) bzw. Homographen (z.b. Bank) oder bei unterschiedlicher Aussprache, den Heterophonen und gleichem Schriftbild. (z.b. Tenor) Es erscheint sinnvoll, diese Verleser über die Annahme der phonologisch vermittelten Wortidentifikation. zu erklären, bei der angenommen wird, dass die Schriftsprache im Vergleich zur Lautsprache sekundär und auf die eine oder andere Weise von dieser abgeleitet ist. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob auch bei der visuellen Worterkennung der Inhalt über eine Buchstabenketten vermittelt wird, bevor das dazugehörige Wort im mentalen Lexikon abgerufen wird oder ob beim Lesen direkt eine phonologische Repräsentation aktiviert wird. Diese Frage, ist ein sehr kontrovers diskutiertes Thema in der Psycholinguistik [van Orden 1987] und hat unmittelbare Auswirkung auf die Ermittlung der Ursachen und der Therapie von Leseschwierigkeiten. Es betrifft die Übung bei Lese-Rechtschreib-Schwäche mit Einzelwörtern, Nonsenswörtern, Buchstabenkombinationen oder Buchstabenverdrehungen, die keine oder nur eine geringe unmittelbare phonologische Repräsentation ansprechen. Bei diesen Therapien wird stärker die mentale graphemische Repräsentation: Visueller Input Buchstaben mentaler Lexikoneintrag: Phoneme Wort angesprochen, die wahrscheinlich beim Text-Lesen nicht sehr dominant ist. Die zurzeit weitgehend anerkannte phonologisch vermittelte Wortidentifikation, die über die Methode der semantischen Kategorie; [van Orden 1987] bestätigt wurde: Visueller Input Buchstaben phonemischer Lexikoneintrag: Lautrepräsentation erfordert Übungen am gesprochen Wort und Satz. Der Lexikoneintrag für ein Wort enthält damit die Aussprache des Wortes, so dass über punktuelle Buchstabenidentifikation im Wort im Zusammenhang mit der gebildeten Hypothese vom Wort nach erfolgtem Lexikonzugriff sofort eine phonologische Repräsentation des gesamten Wortes zur Verfügung steht. Abb. 5 Satzüberlegenheitseffekt [Tulving, Mandler, and Baumal 1964] Visuelle Suche des O bei sehr kurze (tachistoskopische) Darbietung von Sätzen mit zusätzlich 4- Wörtern: Filled with dirt and disorder oder 8-Wörtern The huge slum was filled with dirt and disorder Somit sind Leseübungen bei Lese-Rechtschreib-Schwäche zu bevorzugen, die die unmittelbare phonologische Repräsentation im Satzzusammenhang ansprechen. Lesefehler.doc - 7 -
8 Nur in Ausnahmefällen und bei schwierigen Wörtern wird die Buchstaben-Kette vollständig visuell aufgenommen und direkt der entsprechende graphemische Lexikoneintrag über eine Graphem-Phonem-Korrespondenzregel abgerufen. (In Abb.3 bei dem Wort vermehrten.) Literatur: [van Orden 1987] Van Orden, G.C. (1987). A rows is a rose : spelling, sound and reading. Memory and Cognition, 15, [Abteilung1]; Abteilung Rehabilitationstechnik und Informatik, Ltr. Prof. Dr.-Ing. J. Kurt; Instituts für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin [Abteilung2]; Abteilung Grundschulpädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin, Ltr. Prof. Dr. R. Valtin [Badel; Schneider 2004] I. Badel; G. Schneider Analyse des Leseverständnisses mithilfe des Blickverhaltens gut und schwach lesender Kinder ; IGLU in Vorbereitung [EyeLink] EyeTracking Techniken; Kanada; [Goodman] Goodman, Kenneth S.: Die psycholinguistische Natur des Leseprozesses, in: Hofer, Adolph (Hrsg.): Lesenlernen: Theorie und Unterricht. Düsseldorf 1976 [Schneider & Kurt 2000] Schneider G. Kurt; J Technische Prinzipien zur Messung der Blickrichtung und Augenbewegungen ; Abteilung Rehabilitationstechnik und Informatik Lesefehler.doc - 8 -
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