Arbeitsgemeinschaft zur Vorlesung Sachenrecht im SS 2014 bei Prof. Dr. Mathias Schmoeckel. Fall 5 Die Handtasche
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- Brigitte Kaiser
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1 Dr. Oliver Mörsdorf Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Arbeitsgemeinschaft zur Vorlesung Sachenrecht im SS 2014 bei Prof. Dr. Mathias Schmoeckel Fall 5 Die Handtasche Jurastudentin Susi Sorglos (S) hat sich mit ihrem Freund Traugott Trödel (T) in einem Bistro verabredet. Als S das Lokal betritt, ist T wie üblich noch nicht da. Nachdem sie einen Tisch gewählt und sich einen ersten Prosecco bestellt hat, beschließt sie daher, sich auf der Toilette noch einmal schnell die Lippen nachzuziehen. Als sie zurückkehrt, ist T immer noch nicht eingetroffen. Leider fehlt nun aber auch die Krokodilslederhandtasche, die S zusammen mit ihrem Mantel am Tisch zurückgelassen hatte. Acht Monate später erkennt S vor dem Hörsaal ihre Handtasche am Arm einer ihr namentlich bekannten Mitstudentin (M). Auf die wütende Forderung der S, die Handtasche auf der Stelle auszuhändigen, erklärt M, dass sie die Tasche bereits vor über sieben Monaten an einer Bushaltestelle gefunden und noch am selben Tag zum Fundamt gebracht habe. Da sich dort niemand gemeldet habe, habe sie die Handtasche vor zwei Tagen wieder dort abgeholt und betrachte diese nunmehr als ihr Eigentum. Die Ausführungen der M entsprechen der Wahrheit. Tatsächlich hatte nämlich der Gelegenheitsdieb Kuno Klaumeyer (K) die Handtasche der S in dem Bistro entwendet und anschließend an seine Freundin Hiltrud Hehle (H) verschenkt. H fand die Handtasche jedoch von Beginn an abscheulich und hatte sie zunächst nur angenommen, um K nicht zu enttäuschen. Einige Tage später ließ sie daher die Handtasche absichtlich an der besagten Bushaltstelle stehen, wo sie von M gefunden wurde. S zeigt sich von den Ausführungen der M gleichwohl unbeeindruckt. In einem günstigen Moment entreißt sie der M die Handtasche und verlässt das Universitätsgebäude, ehe M reagieren kann. 1
2 Frage 1: Kann M, nachdem sie sich von dem Schreck erholt hat, von S die Herausgabe der Handtasche verlangen? Frage 2: Kann sich S vor Gericht gegen eine auf Herausgabe gerichtete Klage der M mit einer Widerklage wehren? Anhang 33 ZPO. Besonderer Gerichtsstand der Widerklage. (1) Bei dem Gericht der Klage kann eine Widerklage erhoben werden, wenn der Gegenanspruch mit dem in der Klage geltend gemachten Anspruch oder mit den gegen ihn vorgebrachten Verteidigungsmitteln in Zusammenhang steht. (2)... 2
3 Lösungsskizze Frage 1: Anspruch der M gegen S auf Herausgabe der Tasche? A. Anspruch aus 861 (Besitzschutz) (+) 1. Vorheriger Besitz der M, 854 I (+) 2. Entzug durch verbotene Eigenmacht ( 858 I) a) Entzug bzw. Störung des Besitzes ohne den Willen des Besitzers (+). b) Widerrechtlichkeit (+) 3. Fehlerhafter Besitz der S (+) 4. Kein Ausschluss gem. 861 II (+) II. Keine Einwendungen (+) B. Anspruch aus 985 (-) 1. Eigentum der M (+) 2. Besitz der S, 854 I (+) II. Keine Einwendungen (-) 2. Arglisteinrede, 242, 977 (Rechtsfolgenverweis auf 818) (+) C. Anspruch aus 1007 I, III (-) 1. Bewegliche Sache (+) 2. früherer Besitz der M (+) 3. heutiger Besitz der S (+) 4. Bösgläubigkeit der S bzgl. ihrer (fehlenden) Besitzberechtigung (+), 932 II! 5. Kein Ausschluss nach 1007 III (+) II. Jedenfalls Arglisteinrede, 242, 977, 818 (+) D. Anspruch aus 1007 II, III (-) 1. früherer Besitz der M (+) 2. heutiger Besitz der S (+) 3. Abhandenkommen der Sache bei M (+), II. Einwendung: Früheres Abhandenkommen (bei S) (+) E. Anspruch aus 823 I ivm 249 I (-) (+) 1. Tatbestand a) Rechtgutverletzung (+): b) Verletzungshandlung (+) c) Haftungsbegründende Kausalität (+) d) Rechtswidrigkeit (+) e) Verschulden (+) 2. Rechtsfolge: Schadensersatz a) Schaden (+): Besitzverlust b) Ersatz durch Herausgabe der Tasche als Naturalrestitution ( 249 I) II. Aber: Arglisteinrede, 242, 977, 818 F. Anspruch aus 812 I 1, 1. Alt. (-) I. Erlangtes Etwas (+): Besitz (vermögenswerter Vorteil durch Nutzungsmöglichkeit) II. Durch Leistung der M (-) G. Anspruch aus 812 I 1, 2. Alt. (-) (+) 1. Erlangtes Etwas (+): Besitz 3
4 2. Auf andere Weise (d.h. nicht durch Leistung) auf Kosten der M (+) 3. Ohne Rechtsgrund (+) II. Aber: Arglisteinrede, 242, 977 (+) Frage 2: Zulässigkeit der Widerklage der P (Anspruch aus 977, 812)? Lösung: Frage 1: Anspruch der M gegen S auf Herausgabe der Tasche? A. Anspruch aus 861 (Besitzschutz) (+) Sog. possessorischer Anspruch (=allein aus dem entzogenen Besitz abgeleiteter und von einem Besitzrecht unabhängiger Besitzschutzanspruch) 1. Vorheriger Besitz der M, 854 I (+) Besitz = die von der Verkehrsanschauung anerkannte tatsächliche Sachherrschaft einer Person über eine Sache (getragen von einem - natürlichen Besitzwillen),Hier: M = unmittelbare Eigenbesitzerin 2. Entzug durch verbotene Eigenmacht ( 858 I) a) Entzug bzw. Störung des Besitzes ohne den Willen des Besitzers. Hier (+), da M mit der Wegnahme der Handtasche durch S nicht einverstanden war. b) Widerrechtlichkeit (+). Es lag insbesondere kein Fall der Selbsthilfe isd 229 (Durchsetzung oder Sicherung eines Anspruchs vermittels privater Gewalt) vor, da die Durchsetzung vermeintlicher Ansprüche der S nicht erschwert gewesen wäre (M war der S als Mitstudentin namentlich bekannt.) 3. Fehlerhafter Besitz der S (+), da S selbst verbotene Eigenmacht geübt hat (vgl. 858 II 1) 4. Kein Ausschluss gem. 861 II (+) II. Keine Einwendungen (+) Beachte: Gegenüber den possessorischen Ansprüchen der 861, 862 können Gegenansprüche, die sich aus einem Recht zum Besitz ableiten (sog. petitorische Ansprüche) grundsätzlich nicht geltend gemacht werden ( 863, Ausnahme: 864 II) 4
5 B. Anspruch aus 985 (-) 1. Eigentum der M (+) Ursprünglich Eigentum der S. Kein Eigentumserwerb der H ( 935) keine Aneignung durch M ( 958 I), keine herrenlose Sache (Aufgabe des Eigentums, 959) aber: Eigentumserwerb der M durch Fund ( 973), verlorene Sachen = nicht herrenlose aber besitzlose Sachen, Ablauf von 6 Monaten nach Anzeige (hier sogar Ablieferung) der Fundsache bei zuständiger Behörde 2. Besitz der S, 854 I (+) II. Keine Einwendungen (-) 1. Recht zum Besitz (RzB) gem. 986 (-) Aber: Evtl. könnte man gleichwohl ein RzB annehmen, da S gegen M einen Anspruch aus 977, 818 auf Rückübereignung hat Unterschied zur Arglisteinrede ( dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est, vgl. 2): Kein EBV! 2. Arglisteinrede, 242, 977 (Rechtsfolgenverweis auf 818) (+) C. Anspruch aus 1007 I, III (-) Bedeutung der Ansprüche aus 1007 ist gering (Bsp.: Kläger kann seinen früheren Besitz, nicht aber sein Eigentum beweisen.) 1. Bewegliche Sache (+) 2. früherer Besitz der M (+) 3. heutiger Besitz der S (+) 4. Bösgläubigkeit der S bzgl. ihrer (fehlenden) Besitzberechtigung gegenüber M ( 932 II)! 5. Kein Ausschluss nach 1007 III (+) II. Jedenfalls Arglisteinrede, 242, 977, 818 (+) 5
6 D. Anspruch aus 1007 II, III (-) 1. früherer Besitz der M (+) 2. heutiger Besitz der S (+) 3. Abhandenkommen der Sache bei M (+), II. Einwendung: Früheres Abhandenkommen (bei S) (+) E. Anspruch aus 823 I ivm 249 I (-) (+) 1. Tatbestand a) Rechtgutverletzung (+):Störung des Eigentums sowie Entzug des berechtigten Besitzes (sonstiges Recht, da Ausschluss- und Nutzungsfunktion) b) Verletzungshandlung (+) c) Haftungsbegründende Kausalität (+) d) Rechtswidrigkeit (+) insbes. kein Fall des 229 (Rechtfertigungsgrund) e) Verschulden (+) 2. Rechtsfolge: Schadensersatz a) Schaden (+): Besitzverlust b) Ersatz durch Herausgabe der Tasche als Naturalrestitution ( 249 I) II. Aber: Arglisteinrede, 242, 977, 818 Merke: Teilweise wird 858 (verbotene Eigenmacht) als Schutzgesetz verstanden; dann auch Anspruch aus 823 II i.v.m Ebenfalls erwägenswert: 823 II ivm 242, 249 StGB (Irrtum über normatives TBM der Fremdheit ist unbeachtlich, sofern S den rechtlichsozialen Gehalt erfasst Parallelwertung in der Laiensphäre) Im Ergebnis aber kein Unterschied, da die Arglisteinrede auch hier greift. F. Anspruch aus 812 I 1, 1. Alt. (-) I. Erlangtes Etwas (+): Besitz (vermögenswerter Vorteil durch Nutzungsmöglichkeit) II. Durch Leistung der M (-): keine bewusste zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens 6
7 G. Anspruch aus 812 I 1, 2. Alt. (-) Merke: 861 ist Sondervorschrift zur Eingriffskondiktion und geht dieser vor. Nur wenn auf Seiten des vorherigen Besitzers neben dem reinen Besitz auch eine Besitzberechtigung vorliegt, erhält der Besitz einen Zuweisungsgehalt, in den im Sinne des 812 eingegriffen werden kann (vgl. nachfolgend unter 2). (+) 1. Erlangtes Etwas (+): Besitz 2. Auf andere Weise (d.h. nicht durch Leistung) auf Kosten der M (+), da der Besitz an der Handtasche in den Zuweisungsgehalt der Eigentümerin M fällt 3. Ohne Rechtsgrund (+) II. Aber: Arglisteinrede, 242, 977 (+) Frage 2: Zulässigkeit der Widerklage der P (Anspruch aus 977, 812)? z.t: Sinn und Zeck des 863 = Ausschluss jeder auf petitorische Ansprüche gestützten Verteidigung gegenüber possessorischen Ansprüchen auch im Rahmen einer Widerklage. h.m: 863 soll nur langwierigen Streit über vermeintliche Besitzrechte verhindern - nicht aber eine Widerklage des Beklagten. 863 läuft auf diese Weise nicht leer: Über die regelmäßig zuerst entscheidungsreife Besitzschutzklage kann ein Teilurteil ergehen ( 301 ZPO). Sind aber Klage und Widerklage begründet und gleichzeitig entscheidungsreif wird die Klage analog 864 II (Prozessökonomie; Vermeidung widersprüchlicher Urteile) abgewiesen und der Widerklage stattgegeben (BGH NJW 1979, 1358). 7
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