Fall 1 Versalis/Kommission
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- Christina Reuter
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1 Fall 1 (EuGH, Urteil v Rs. C 511/11 Versalis/Kommission). Die Versalis SpA (V, Sitz in Brindisi, Italien) wurde als Beteiligte eines Kautschukkartells durch die Europäische Kommission zu einem Bußgeld ihv. 272 Mio. Euro verpflichtet. An diesem Kartell war auch ihre Schwester, die Syndial SpA (S, Sitz: Italien) beteiligt. In dem von der Kommission zugrunde gelegten Zeitraum des Kartellverstoßes ( ) hatten V und S aber nicht gleichzeitig am Kartell teilgenommen, sondern nacheinander gehandelt, wobei V im Zeitraum bis 1999 tätig war, S danach bis Ende 2002). An V und S hält die Gesellschaft EniChem SpA (Eni, Sitz Italien) jeweils 100 % der Stimmrechte. Nach Verhängung des Bußgeldes gab V ihre Tätigkeit in der Kautschukproduktion auf und übertrug ihre Werkstätten an die Eni. V wendet sich nun gegen das Bußgeld mit folgenden beiden Einwänden: Erstens: V könne nicht wie die übrigen Beteiligten für den ganzen Zeitraum von 1996 bis 2002 Verantwortung tragen, da sie nur von 1996 bis 1999 am Kautschukkartell mitgewirkt habe. Zweitens: Das Bußgeld könne gegenüber V keinen Abschreckungseffekt mehr erzielen, da V auf dem Markt nach Übertragung ihrer Produktionsstätten an E nicht mehr tätig sei und nicht mehr tätig werden könne. 1
2 Fall Versalis (2) Ist die Verhängung des Bußgeldes nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO Nr. 1/2003 rechtmäßig? Art. 23 Abs. 2 lit. a VO Nr. 1/2003 lautet: "Die Kommission kann gegen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen Bußgelder verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig a) gegen Art. 81 [nunmehr Art. 101; Anm. Oe.]... des Vertrages verstoßen." 2
3 Versalis Konstellation hält 100 % der Stimmrechte an Syndia SpA Eni SpA hält 100 % der Stimmrechte an Versalis SpA Kartell Bayer AG Dow Chemical Company Shell NL 3
4 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (1) Kommission kann Bußgeld unter den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 lit. a VO Nr. 1/2003 festsetzen, wenn V gegen Art. 101 AEUV schuldhaft verstoßen hat. 1. V müsste ein Unternehmen sein a) Problem: V ist zu 100 % von Eni SpA beherrscht. Ist V ein Unternehmen? (1) Funktionaler Unternehmensbegriff: Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von der Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Bei V eigentlich (+) (2) Selbständigkeitspostulat: Ein Unternehmen ist jede Einheit, die auf den Märkten zu autonomen Entscheidungen fähig ist. Dies ist bei V zweifelhaft, da V von Eni vollstndig beherrscht wird und keine eigene Geschäftspolitik gegenüber Eni betreiben kann. 4
5 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (2) (3) Aber: V muss mit einem Bußgeld belegt werden können, wenn V und Eni eine wirtschaftliche Einheit bilden. Eine wirtschaftliche Einheit besteht aus einem Verbund von selbstständigen Rechtsträgern, die unter einer einheitlichen Leitung stehen, so dass alle wirtschaftlich betrachtet von einer einzelnen Entscheidungsstelle gelenkt werden. Grund: Das Bußgeld muss gegenüber jedem zur wirtschaftlichen Einheit zählenden Rechtsträger verhängt werden können, damit der Anwendungsbereich des Kartellrechts nicht umgangen werden kann. Ein Bußgeldbescheid könnte sonst durch gesellschaftsrechtliche Gestaltung ins Leere laufen, wenn das Vermögen innerhalb der wirtschaftlichen Einheit auf einen Träger verlagert würde, der selbst am Verstoß nicht beteiligt ist. 5
6 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (3) Die wirtschaftliche Einheit wird bei einer 100 %igen Beherrschung vermutet. Diese Voraussetzungen liegen bei V vor. (b) Zwischenergebnis: V ist ein Unternehmen. 2. Verbotene Verhaltensweise Beteiligung an einer Vereinbarung isd. Art. 101 Abs. 1 AEUV. Problem: Verantwortlichkeit von V für die Zeit nach 1999? Zurechnung der Tätigkeit des Schwesterunternehmens Syndia an V Rn. 54 ff.? Dagegen: V und Syndia sind rechtlich eigenständig. Anders, wenn auch die Schwesterunternehmen untereinander eine wirtschaftliche Einheit bilden. 6
7 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (4) Problem: Bilden V und S eine wirtschaftliche Einheit? Ausschlaggebend ist der Zweck der Lehre: Verhinderung von Umgehungen des Art. 101 AEUV durch gesellschaftsrechtliche Gestatlungen und die damit verbundene Verlagerung von Verantwortlichkeiten im Unternehmensverbund. Passt dieser Gedanke auch auf die Zurechnung zwischen Schwestergesellschaften? Wenn sie einheitlich gelenkt werden, besteht auch hier die Gefahr, dass kartellrechtliche Verantwortlichkeit und Vermögen voneinander getrennt werden. Für die Kommission können dadurch Nachweisschwierigkeiten entstehen, wann die Verantwortlichkeit der einen Schwester endete und die der anderen begann. Dies gefährdet die effiziente Durchsetzung des Kartellrechts. 7
8 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (5) Dies ist hier der Fall. Deshalb muss V der Handlungsanteil von S zugerechnet werden c) Problem: Einstellung der werbenden Tätigkeit durch V und damit Aufgabe der Unternehmensstellung. Aber: V bildet eine wirtschaftliche Einheit mit Eni. Deshalb muss jeder zur wirtschaftlichen Einheit herangezogen werden können. Andernfalls könnten durch Betriebsstilllegungen und -veräußerungen innerhalb des Konzerns Bußgelder erspart werden: Die Tochter würde ihr Unternehmen auf die Mutter oder eine Schwester übertragen und könnte sich dann auf den fehlenden Präventionseffekt eines an sie gerichteten Bußgeldes berufen. 8
9 Lösungsskizze Fall 1 Versalis (6) d) Zwischenergebnis: V ist hier das Unternehmen isd. Art. 101 Abs. 1 AEUV ivm. 23 Abs. 2 lit. a VO Nr. 1/ V müsste sich schuldhaft an einem Preiskartell beteiligt haben. In Betracht kommt eine fahrlässige Begehungsweise. Fraglich ist, ob V für den Zeitraum von 1999 bis 2002 das Verschulden ihrer Schwestergesellschaft nach den Grundsätzen über die wirtschaftliche Einheit zugerechnet werden kann. Dies muss aus denselben Überlegungen heraus bejaht werden, die auch für die Zurechnung der Handlungsbeiträge der S gegenüber V gelten (oben 2). Denn andernfalls drohte wieder ein Leerlaufen der Durchsetzung des Kartellrechts, diesmal auf subjektiver Tatbestandsebene. 4. Ergebnis: Das Bußgeld ist hier zu Recht erteilt. 9
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11 Fall 2: Consiglio nazionali de geologi (EuGH, Urt. v C 136/12 Consiglio nazionali de geologi) Der Berufsverband der italienischen Geologen Consiglio nazionale dei geologi (CNG) hat Standesregeln erlassen, die die Würde des Berufs schützen sollen. Nr. 5 dieser Regeln sieht vor, dass italienische Geologen nicht unter einem bestimmten Stundensatz arbeiten sollen. Diese Regeln hat der Vorstand des CNG beschlossen; nach Nr. 1 der Regeln sind diese nicht verbindlich, sondern dienen nur der Orientierung der Mitglieder. Die Autorità garante della concorrenza e del mercato (AGCM, die italienische Kartellberhörde) hat dagegen ein Bußgeld wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV verhängt. Der CNG richtet an Sie die Frage, ob ein solcher Verstoß vorliegt. 11
12 Lösungsskizze Fall 2 (1) Frage: Verstoß der Standesregel Nr. 5 gegen Art. 101 AEUV? (Hinweis: Das Bußgeld ergibt sich nicht aus Art. 23 Abs. 2 lit. a VO Nr. 1/2003, sondern aus italienischem Kartellverfahrensrecht) 1. Es müsste der Beschluss einer Unternehmensvereinigung vorliegen. Maßgeblich ist der Normzweck: Das Tatbestandsmerkmal BeU soll eine Umgehung der nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen Vereinbarung in zwei Schritten (Formulierung Oechsler) verhindern. In einem ersten Schritt schließen sich die Unternehmen demselben Träger an; in einem zweiten Schritt macht dieser ihnen Vorgaben, die als Gegenstand einer Vereinbarung kartellrechtlich verboten wären. a) Ist der CNG eine Unternehmensvereinigung? Setzt voraus (1) einen Dachverband, (2) dem Unternehmen als Mitglieder angehören. 12
13 Lösungsskizze Fall 2 (2) Im Fall: Geologen als Unternehmer? Bieten ihre Leistungen gegen Entgelt an und sind daher Unternehmer. Problem: CNG könnte aber keine Unternehmensvereinigung sein, weil er die Grundsätze des beruflichen Standesrechts entwickelt und überwacht. Problem: Handelt es sich bei CNG um einen Träger der öffentliche Aufgaben wahrnimmt, die nicht dem Kartellrecht unterfallen?! EuGH (Tz. 44): Nur in zwei Fällen vorstellbar: (1) Ausübung hoheitlicher Gewalt (EuGH Rn. 44). (2) wenn ein Träger nach dem Solidaritätsprinzip organisiert ist. Dazu EuGH, C-350/07- Kattner Stahlbau GmbH, Tz. 53 ff.: Das Unionsrecht lässt den Mitgliedstaaten Freiraum, Systeme sozialer Sicherung zu schaffen. 13
14 Lösungsskizze Fall 2 (3) Charakteristisch für das Solidaritätsprinzip ist, dass die Mitglieder gleichmäßige Beiträge entrichten, die unabhängig von der Höhe der durch das System übernommenen Risiken sind. Hinzukommen muss eine staatliche Aufsicht. In solchen Fällen muss das Kartellrecht zurückstehen, um diese Systeme nicht zu gefährden und die Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht zu beeinträchtigen.! Beides liegt hier nicht vor. Die im öffentlichen Interesse liegende Tätigkeit der CNG in Bezug auf das Standesrecht der Geologen rechtfertigt keine Ausnahme von Art. 101 AEUV; andernfalls bestünde Umgehungsgefahr! b) Standesregel Nr. 5 = Beschluss? Beschluss = Ausdruck des Willens eines Trägers, das Verhalten seiner Mitglieder regeln zu wollen (EuGH, Urt /85 Verband der Sachversicherer, Tz. 32). 14
15 Lösungsskizze Fall 2 (4) Problem: Hier entscheidet nicht die Mitgliederversammlung, sondern der Vorstand. Genügt auch ein Vorstandsbeschluss? Da der Vorstand bzw. die Geschäftsführung den Träger vertritt (im deutschen Recht: 26 II 1, 714 BGB) kann auch in einem Vorstandsbeschluss der Wille des Trägers zum Ausdruck kommen, das Verhalten seiner Mitglieder zu regeln. Vor allem aber: Zweck des Tatbestandsmerkmals Beschluss = Keine Umgehung des Verbots der Vereinbarung zwischen Unternehmen in zwei Schritten. 2. Problem: Der Beschluss wird von CNG als unverbindliche Orientierungshilfe bezeichnet. Entscheidend: Besteht ein ernsthafter Wille von CNG, das Verhalten der Mitglieder zu koordinieren? Ja, denn CNG stellt Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Standesregel Nr. 5 und der Würde des Geologenberufs her => Erkennbar zentrales Anliegen des Berufsverbandes. 15
16 Lösungsskizze Fall 2 (5) Es wird im Zweifel immer ein Binnendruck ausgeübt werden, die Standesregel Nr. 5 umzusetzen, auch wenn der zwingende Charakter und die Sanktionsmittel nicht transparent gemacht werden. Auch eine unverbindliche Empfehlung kann unter diesen Voraussetzungen einen Beschluss darstellen (EuGH, Urt /85 Verband der Sachversicherer, Tz. 29; EuGH vorliegend Tz. 46). Ergebnis: Beschluss einer Unternehmensvereinigung liegt vor 2. Wettbewerbsbeschränkung a) Betroffener Markt = sachlich für entgeltliche Leistungen der Geologen, räumlich: Italien. b) Beschränkung der Preisbildungsfreiheit (Mindestpreise) als Kernbeschränkung = Hardcore-Kartell, das nicht freistellungsfähig ist. c) Bezwecken: WB ist hier objektiv bezweckt, da sie typische Folge des Inhalts von Standesregel Nr. 5 ist. 16
17 Lösungsskizze Fall 2 (6) 3. Zwischenstaatlichkeitsbezug Jede unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potenzielle Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels auf dem Binnenmarkt. Ein Kartell, das sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates erstreckt, hat schon seinem Wesen nach die Wirkung, die Abschottung der Märkte auf nationaler Ebene zu verfestigen, indem es die vom Vertrag gewollte wirtschaftliche Verflechtung behindert. (EuGH vorliegend, Tz. 50). 4. Spürbarkeit: wegen der Kernbeschränkung und der Betroffenheit des gesamten italienischen Marktes. 5. Ergebnis: Ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV liegt vor. 17
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