Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil I Einzelne Rechtfertigungsgründe. Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf
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- Jasmin Inken Fiedler
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1 Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil I Einzelne Rechtfertigungsgründe Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf
2 I. Notwehr, 32 Die Notwehrlage besteht in einem gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff auf ein rechtlich geschütztes (notwehrfähiges) Rechtsgut. Einen Sonderfall der Notwehr bildet die Nothilfe, d.h. das Einschreiten zugunsten eines Dritten. Auch hier gelten die allgemeinen Notwehrregeln. 2
3 Notwehr Ein Angriff i.s.d. 32 liegt vor, wenn durch menschliches Verhalten Güter oder sonstige Interessen bedroht sind. Attacken durch Tiere fallen also nicht darunter. Nach h.m. muss das menschliche Angriffsverhalten Handlungsqualität besitzen, also willensgesteuert sein. 3
4 Notwehr Auch in einem Unterlassen kann ein Angriff liegen, wenn eine besondere Pflicht zum Tätigwerden besteht. Ein schuldhaftes Handeln wird von der h.m. nicht verlangt. 4
5 Notwehr Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch nicht abgeschlossen ist (z.b. Notwehr gegen einen fliehenden Dieb). Ein Angriff ist rechtswidrig, wenn er nicht seinerseits durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. 5
6 Notwehr Die Notwehrhandlung ist die Handlung, um deren Rechtfertigung es geht. Sie muss zur Abwehr des Angriffs geeignet, erforderlich und geboten sein. 6
7 Notwehr Da Notwehr der Angriffsabwehr dient, muss sich die Notwehrhandlung gegen den Angreifer richten. Eine Notwehrhandlung ist geeignet, wenn sie eine sofortige und sichere Abwehr des Angriffs erlaubt. Sie ist erforderlich, wenn es kein milderes Mittel zur Angriffsabwehr gibt. 7
8 Notwehr Ist die Notwehrhandlung geeignet und erforderlich, so gestattet 32 u.u auch die Tötung des Angreifers. Art. 2 MRK steht dem nach h.m. nicht entgegen, da er nur im Verhältnis Staat- Bürger gilt. 8
9 Notwehr Jede Notwehrhandlung muss außerdem geboten sein. Über das Erfordernis der Gebotenheit wird das (sonst allzu "schneidige") Notwehrrecht eingeschränkt. Die wichtigsten Fallgruppen sind: (1) Extremes Missverhältnis zwischen geschütztem und verletztem Rechtsgut. 9
10 Notwehr (2) Angriffe von Kindern, Geisteskranken und sonst schuldlos Handelnden (z.b. Betrunkenen). (3) Enge persönliche Beziehungen zwischen Angreifer und Angegriffenem. (4) Notwehrprovokation. Sie tritt in zwei Typen auf: der Absichtsprovokation und dem "sonst schuldhaften Herbeiführen einer Notwehrlage". 10
11 Notwehr Nach einer im Vordringen befindlichen Lehre gilt jedenfalls im letzteren Fall die "Dreistufentheorie": Ausweichen - Schutzwehr - Trutzwehr. Die Behandlung der Absichtsprovokation ist außerordentlich strittig; richtigerweise wird man auch hier die "Dreistufentheorie" anzuwenden haben. 11
12 Notwehr Subjektiv muss die Notwehrhandlung von Verteidigungswillen getragen sein. Dazu gehört nicht nur die Kenntnis der Notwehrlage, sondern auch das Handlungsziel, den Angriff abzuwehren. Allerdings können daneben auch noch andere Motive wirksam sein. 12
13 Notwehr Liegt das subjektive Notwehrelement nicht vor, so ist der Täter nach noch h.m. wegen eines vollendeten Delikts strafbar. 13
14 Beispiel: Notwehr, 32 - Voraussetzungen Sachverhalt: A ist sauer, da ihn gerade seine Freundin verlassen hat. Seinen Frust will er an B auslassen und greift ihn an. Doch A hat ein zweites Mal Pech. B hat den schwarzen Gürtel und verpasst A ein blaues Auge. Strafbarkeit des B gemäß 223? 14
15 Beispiel: Notwehr, 32 - Voraussetzungen I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit 1. Notwehrlage (+) 2. Notwehrhandlung (+) Geeignetheit und Erforderlichkeit (+) Gebotenheit (+) 3. Verteidigungswille (+) 15
16 Beispiel: Notwehr, 32 - Voraussetzungen Die Tat des B ist gemäß 32 gerechtfertigt. III. Ergebnis B ist nicht strafbar wegen Körperverletzung gemäß
17 Beispiel: Notwehr gegenwärtiger Angriff Sachverhalt: Räuber R versucht, O auszurauben. O, der als Einzelkämpfer ausgebildet ist, schlägt den R daraufhin kampfunfähig. Als R bereits regungslos am Boden liegt, tritt ihm O noch einmal kräftig in die Nieren. Strafbarkeit des O gemäß 223? 17
18 Beispiel: Notwehr gegenwärtiger Angriff I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Notwehrlage Angriff (+) Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch fortdauert. 18
19 Beispiel: Notwehr gegenwärtiger Angriff R lag schon am Boden, so dass von ihm keine Gefahr mehr ausging. Es liegt daher kein gegenwärtiger Angriff mehr vor. Die Tat des O ist nicht gemäß 32 StGB gerechtfertigt. 19
20 Beispiel: Notwehr gegenwärtiger Angriff III. IV. Schuld Nur bei Notwehrüberschreitung aus Verwirrung, Furcht und Schrecken wird der Täter nicht bestraft, 33. hier: (-) Ergebnis O ist strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des R. 20
21 Beispiel: Notwehr menschlicher Angriff Sachverhalt: A hat B die Freundin ausgespannt. Den Schmerz über die Trennung will B auch den A spüren lassen. Deshalb hetzt er seinen Rottweiler Zeus auf A. A greift zu seinem Schönfelder und erschlägt das Tier. Strafbarkeit des A gemäß 303? 21
22 Beispiel: Notwehr menschlicher Angriff 22 I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung gemäß 32? Notwehrlage Angriff Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen.
23 Beispiel: Notwehr menschlicher Angriff Angreifer kann grundsätzlich nur ein Mensch sein. Hier benutzt B allerdings den Hund als Waffe, daher ergibt sich die Rechtfertigung aus 32 (a.a. 228 BGB). Die Tat des A ist gemäß 32 gerechtfertigt. 23
24 Beispiel: Notwehr menschlicher Angriff IV. Ergebnis A ist nicht strafbar wegen Sachbeschädigung gemäß
25 Beispiel: Notwehr Erforderlichkeit der Notwehrhandlung Sachverhalt: A wird in der Kneipe von dem äußerst aggressiven B grundlos mit einem Messer angegriffen. A zieht seine Pistole und schießt dem B in die Beine. Vielleicht hätte es auch ausgereicht, den neben ihm stehenden Bierkrug nach B zu werfen. Strafbarkeit des A gemäß 223? 25
26 Beispiel: Notwehr Erforderlichkeit der Notwehrhandlung 26 I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung gemäß 32? Notwehrlage (+) Notwehrhandlung Erforderlichkeit Erforderlich ist ein Mittel, wenn es geeignet ist, den Angriff abzuwehren und das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt.
27 Beispiel: Notwehr Erforderlichkeit der Notwehrhandlung A muss sich nicht auf das Risiko einer unzureichenden Abwehrhandlung einlassen. Da auch die anderen Voraussetzungen des 32 vorliegen, ist die Tat gemäß 32 gerechtfertigt. 27
28 Beispiel: Notwehr Erforderlichkeit der Notwehrhandlung IV. Ergebnis A ist nicht strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des B. 28
29 Beispiel: Notwehr Gebotenheit der Notwehrhandlung Sachverhalt: Weltkriegsveteran A hat dem Jugendlichen B mehrmals erklärt, dass er die Finger von seinem Kirschbaum lassen solle. Als B wieder an den verbotenen Früchten nascht, sieht der an einen Rollstuhl gefesselte A keine andere Möglichkeit, als den B mit seiner Schrotflinte aus dem Baum zu holen, nachdem er einen Warnschuss abgegeben hatte. B wird dabei getötet. Strafbarkeit des A gemäß 212? 29
30 Beispiel: Notwehr Gebotenheit der Notwehrhandlung I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung gemäß 32? Erforderlichkeit (+), da für A kein milderes Mittel ersichtlich ist; zudem hat er einen Warnschuss abgegeben. 30
31 Beispiel: Notwehr Gebotenheit der Notwehrhandlung Gebotenheit (Einschränkung des Notwehrrechts aus sozialethischen Gründen) (-) Es liegt ein krasses Missverhältnis zwischen geschütztem Rechtsgut und Schaden vor. III. Rechtswidrigkeit (+) 31
32 Beispiel: Notwehr Gebotenheit der Notwehrhandlung IV. Schuld (+) V. Ergebnis A ist strafbar wegen Totschlags gemäß 212 zum Nachteil des B. 32
33 Beispiel: Notwehr fehlender Verteidigungswille 33 Sachverhalt: Ehefrau A wartet auf die Heimkehr ihres Ehemanns vom wöchentlichen Zechgelage. Als die Tür aufgeht, schlägt sie dem Eintretenden mit voller Wucht das Nudelholz auf den Kopf. Danach macht sie das Licht an, um ihr Werk zu begutachten. Es liegt nicht ihr Ehemann, sondern der stadtbekannte Einbrecher H vor ihr. Strafbarkeit der A gemäß 223?
34 Beispiel: Notwehr fehlender Verteidigungswille 34 I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung gemäß 32? Problem: Es liegt ein Notwehrlage vor, aber der A fehlt der Verteidigungswille. Nach BGH wird A wegen vollendeter Tat bestraft.
35 Beispiel: Notwehr fehlender Verteidigungswille III. Schuld (+) IV. Ergebnis A ist strafbar wegen vollendeter Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des H (a.a. vertretbar). 35
36 Beispiel: Notwehr - Absichtsprovokation Sachverhalt: A ist mal wieder auf Schlägertour. Als Jurastudent will er aber nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Deshalb macht er den ganzen Abend dem B gegenüber anzügliche Bemerkungen über das abwechslungsreiche Liebesleben von B s Freundin. Erwartungsgemäß platzt dem B nach zwei Stunden der Kragen und er greift den A an. Darauf hat A nur gewartet und schlägt den B k.o.. Strafbarkeit des A gemäß 223? 36
37 Beispiel: Notwehr - Absichtsprovokation I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung gemäß 32? Problem: Gebotenheit bei Absichtprovokation Kein Notwehrrecht, da A den Angriff selbst herbeigeführt hat und deswegen nicht schützenswert ist. 37
38 Beispiel: Notwehr - Absichtsprovokation 38 Begründung: fehlender Verteidigungswille Nach anderer Ansicht steht A ein abgestuftes Notwehrrecht zu. III. Schuld (+) IV. Ergebnis A ist strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des B (a.a. vertretbar).
39 II. Rechtfertigender Notstand, Der rechtfertigende Notstand beruht auf dem Gedanken, dass in einer Notstandslage die geschützten und die verletzten Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen (umfassende Güter- und Interessenabwägung). Er wurde als Rechtfertigungsgrund zuerst in den Fällen medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche anerkannt.
40 Rechtfertigender Notstand 40 Die Notstandslage besteht in einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut. Eine gegenwärtige Gefahr ist ein Zustand, der bei ungehinderter Weiterentwicklung einen Schaden herbeiführen wird. Für die Beurteilung einer Situation als "Gefahr" ist also empirisches Wissen erforderlich. Auch Dauergefahren sind gegenwärtig.
41 Rechtfertigender Notstand Die Notstandshandlung, also die Handlung, um deren Rechtfertigung es geht, muss zur Gefahrenabwehr geeignet und erforderlich sein. Eine Rechtfertigung nach 34 erfordert ferner eine umfassende Abwägung zwischen den vom Täter geschützten und den von ihm beeinträchtigten Interessen. 41
42 Rechtfertigender Notstand Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte wesentlich überwiegen. Bei der Interessenabwägung sind nicht nur der Rang der betroffenen Rechtsgüter zu berücksichtigen, sondern auch der Grad der ihnen drohenden Gefahren, die Art der Handlung (Tun oder Unterlassen), 42
43 Rechtfertigender Notstand die handelnden Personen (Gefahrtragungspflichten) und die Auswirkungen einer möglichen Rechtfertigung auf die Rechtsordnung insgesamt. 43
44 Rechtfertigender Notstand Die Funktion der Angemessenheitsklausel neben der umfassenden Güter- und Interessenabwägung ist unklar. Richtig dürfte sein, sie in der Abwägung aufgehen zu lassen. Eine Rechtfertigung nach 34 erfordert außerdem den sog. "Rettungswillen" als subjektives Rechtfertigungselement. 44
45 Rechtfertigender Notstand Sonderfälle des rechtfertigenden Notstands finden sich in 228 BGB (defensiver Notstand) und 904 BGB (aggressiver Notstand). 45
46 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Sachverhalt: A ist schwer verletzt und braucht dringend eine Bluttransfusion. C hat die (seltene) Blutgruppe des A, weigert sich aber, Blut für A zu spenden. Dr. Brinkmann sieht keine andere Möglichkeit und nimmt das Blut zwangsweise ab. Strafbarkeit von Dr. Brinkmann gemäß 223? 46
47 Beispiel: Rechtfertigender Notstand I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Notwehr 32 Es liegt kein Angriff des C auf A oder Dr. B vor. ( ) 47
48 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Notstand 34 - Notstandslage (+) - Notstandshandlung (+) - Interessenabwägung und Angemessenheitsklausel ( ), da die Verweigerung Teil seines Rechts auf freie Selbstbestimmung darstellt. 48
49 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Rechtfertigung ( ) III. Schuld (+) IV. Ergebnis Dr. B ist strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des C. 49
50 Beispiel: Notwehr defensiver Notstand Sachverhalt: A hatte vergessen das Hoftor zu schließen. Wachhund Ajax nutzt diese Chance, um den Postboten B anzufallen. Durch den gezielten Wurf eines Postpakets auf Ajax kann sich B retten. Ajax verstirbt an einem Schädelbasisbruch. Strafbarkeit des B gemäß 303? 50
51 Beispiel: Notwehr defensiver Notstand I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit 1. Notwehr 32 (-), da kein menschlicher Angriff vorliegt. 2. Defensiver Notstand 228 BGB (+), da die Gefahr von der Sache selbst ausgeht. 51
52 Beispiel: Notwehr defensiver Notstand IV. Die Handlung des B ist nicht rechtswidrig. Ergebnis B ist nicht strafbar wegen Sachbeschädigung gemäß
53 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Fehlen der Erforderlichkeit 53 Sachverhalt: A geht mit seinem Freund B in die Diskothek. A spricht den Abend über sehr dem Alkohol zu. Auf der Treppe stürzt A und zieht sich eine schwere Kopfverletzung zu. Der ebenfalls stark alkoholisierte B bietet dem A an, ihn ins Krankenhaus zu fahren, was dieser auch annimmt. Auf der Fahrt geraten beide in eine Verkehrskontrolle. B hat eine BAK von 2,0 0/00. Die Alarmierung eines Krankenwagens wäre ohne weiteres möglich gewesen. Strafbarkeit des B gemäß 316?
54 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Fehlen der Erforderlichkeit I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigender Notstand gemäß 34? Problem: Erforderlichkeit der Handlung Unter mehreren geeigneten Mitteln ist das relativ mildeste zu wählen. 54
55 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Fehlen der Erforderlichkeit Anstatt andere Verkehrsteilnehmer mit seiner Trunkenheitsfahrt zu gefährden, hätte B den Krankenwagen alarmieren müssen. Daher fehlt es an der Erforderlichkeit der Rettungshandlung. Rechtswidrigkeit (+) 55
56 Beispiel: Rechtfertigender Notstand Fehlen der Erforderlichkeit III. Schuld (+) IV. Ergebnis B ist strafbar wegen Trunkenheit im Verkehr gemäß
57 Beispiel: Rechtfertigender Notstand - Dauergefahr 57 Sachverhalt: Ein Mann sucht in unregelmäßigen Abständen das Haus des A auf. Auch die Installation einer Alarmanlage hilft nichts. Selbst der Schuss mit seiner Schreckschusspistole kann den Mann nicht davon abhalten, weiter das Grundstück des A aufzusuchen. Die eingeschaltete Polizei rät A zu einem Waffenschein. Das Leben der Familie ändert sich seit den nächtlichen Besuchen dramatisch. Sie ziehen sich völlig aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, leiden unter Schlafstörungen und sind in ständiger Sorge um die Kinder. Eines Nachts kann A den Mann stellen. Als dieser flüchtet, schießt ihm A ins Bein. Strafbarkeit des A gemäß 223, 224?
58 Beispiel: Rechtfertigender Notstand - Dauergefahr I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Notwehr gemäß 32? ( ), Flucht kein Angriff Rechtfertigung gemäß 127 StPO? ( ), 127 StPO erlaubt derartige Maßnahmen zur Festnahme nicht. 58
59 Beispiel: Rechtfertigender Notstand - Dauergefahr Rechtfertigender Notstand gemäß 34? Dauergefahr für Hausrecht und Intimsphäre; Gegenwärtigkeit (+) Nicht anders abwendbar (+), da andere Sicherungsmittel, wie Alarmanlage und Schreckschusspistole, nicht ausreichten; auch Hilfe der Polizei eingeholt. 59
60 Beispiel: Rechtfertigender Notstand - Dauergefahr III. A ist gemäß 34 gerechtfertigt (a.a. BGH NJW 1979, 2053: 35). Ergebnis A ist nicht strafbar gemäß 223,
61 III. Einwilligung Abgrenzung vom Einverständnis Die gesetzlich nicht geregelte rechtfertigende Einwilligung ist vom tatbestandsausschließenden Einverständnis zu unterscheiden. Ein Einverständnis ist nur anzunehmen, wenn der Gesetzeswortlaut eine Berücksichtigung des Opferwillens zulässt. 61
62 Beispiel: Einverständnis 62 Sachverhalt: A ist Trickdieb. Er klingelt bei der 80jährigen B und bittet um Einlass, da er Spenden für bedürftige Kinder in Afrika sammle. Während B in ihrem Schlafzimmer nach dem Geldbeutel sucht, entwendet A aus dem Wohnzimmer der B eine wertvolle Vase. Bei Kenntnis der wahren Absichten des A hätte B diesen nie in die Wohnung gelassen. Strafbarkeit des A gemäß 123?
63 Beispiel: Einverständnis I. Tatbestand Wohnung (+) Eindringen Eindringen ist das Betreten der geschützten Räume gegen den Willen des Berechtigten. Hier: Einverständnis 63
64 Beispiel: Einverständnis Problem: Das Einverständnis der B wurde von A erschlichen. Das Einverständnis hat tatsächlichen Charakter. Solange das Einverständnis bewusst und freiwillig erklärt wurde, ist dieses wirksam. Eindringen (-) 64
65 Beispiel: Einverständnis II. Ergebnis A ist nicht strafbar wegen Hausfriedensbruch gemäß 123 (wohl aber nach 242). 65
66 Einwilligung Die Möglichkeit einer Einwilligung in einen Rechtsgutsverlust ergibt sich aus dem grundgesetzlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht, das jedoch nicht unbegrenzt gilt. Die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung sind: 66
67 Einwilligung - Voraussetzungen (1) Allgemeine Verfügbarkeit (Disponibilität) des Rechtsguts; beachte die Abstufung Eigentum / körperliche Unversehrtheit ( 228) / Leben ( 216) (2) Verfügungsberechtigung speziell des Einwilligenden 67
68 Einwilligung - Voraussetzungen (3) Einwilligungsfähigkeit (allgemeine Urteilsfähigkeit) Nach h.m. schließt auch die Einwilligung eines Minderjährigen die Rechtswidrigkeit aus; nach a.a. gelten für Vermögens- und Eigentumsverletzungen die 105 ff BGB analog. 68
69 Einwilligung - Voraussetzungen 69 (4) Freiheit von Willensmängeln Nach h.m. ist eine durch Täuschung beeinflusste Einwilligung stets unwirksam, nach a.a. ist eine durch Täuschung beeinflusste Einwilligung nur dann unwirksam, wenn die Täuschung eine "rechtsgutsbezogene Fehlvorstellung" bewirkt hat, d.h. es muss eine Fehlvorstellung gerade hinsichtlich des preisgegebenen Guts erweckt worden sein.
70 Einwilligung - Voraussetzungen (5) Keine Sittenwidrigkeit des Einwilligung, 228 (gilt nach h.m. nur bei Einwilligungen in Körperverletzungen) (6) Die Einwilligung muss vor der zu rechtfertigenden Tat erfolgen und bei Tatbegehung fortbestehen. Eine nachträgliche Genehmigung hat keine rechtfertigende Kraft. 70
71 Einwilligung - Voraussetzungen (7) Die Einwilligung muss ausdrücklich oder zumindest konkludent erfolgen. (8) Der Täter muss in Kenntnis der Einwilligung handeln (subjektives Rechtfertigungselement) 71
72 Beispiel: Einwilligung Sachverhalt: A ist mit ihrer Nase nicht zufrieden. Deshalb geht sie zu dem berühmten Schönheitschirurgen Dr. M. M klärt sie detailliert über die Risiken der Operation auf und lässt sie ein Formular unterschreiben, in dem sie sich mit der Behandlung einverstanden erklärt. Die Operation geht schief. Strafbarkeit des M gemäß 223? 72
73 Beispiel: Einwilligung I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigende Einwilligung Voraussetzungen: Disponibles Rechtsgut (+) Einwilligungsfähigkeit (+) Freiwilligkeit (+) 73
74 Beispiel: Einwilligung 74 Kein Sittenverstoß nach 228 (+) Erklärung der Einwilligung nach außen (+) Subjektives Rechtfertigungselement (+) M handelte rechtmäßig. III. Ergebnis M ist nicht strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil der A.
75 Sittenwidrigkeit von Schönheitsoperationen Die Grenzziehung ist im Einzelnen strittig. - Einfache Schönheitsoperationen - Ästhetisch nicht angezeigte Gesichtsveränderungen - Erhebliche Brustvergrößerungen bei sehr jungen Frauen - Verstümmelungen 75
76 Wann liegt Sittenwidrigkeit vor? Die Tat verstößt gegen die guten Sitten, wenn die Körperverletzung dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht. Zu berücksichtigen sind Art und Umfang der Körperverletzung (sekundär auch) der mit ihr verfolgte Zweck 76
77 BGHSt 49, Sachverhalt Nach den Feststellungen zeigte die Lebensgefährtin des Angeklagten, Irene R., großes Interesse an der Ausübung außergewöhnlicher sexueller Praktiken, vor allem sogenannter»fesselspiele«. Hierzu gehörte unter anderem, daß der Angeklagte, der an diesen»spielen«kein Interesse hatte und dabei selbst angekleidet blieb, mit einem Gegenstand Druck auf ihren Kehlkopf, ihr Zungenbein und ihre Luftröhre ausüben musste, um auf diese Weise den von ihr erstrebten vorübergehenden Sauerstoffmangel hervorzurufen, der für sie eine erregende Wirkung hatte. 77
78 BGHSt 49, Sachverhalt Nachdem eine zeitlang derartige Fesselspiele nicht mehr stattgefunden hatten, weil der Angeklagte Sicherheitsbedenken geäußert hatte, verlangte Frau R. von ihm am Tattag erneut die Durchführung eines Fesselspiels und bereitete die dazu erforderlichen Utensilien (Stricke, ein Holzstück sowie ein Metallrohr) selbst vor. Der Angeklagte sträubte sich zunächst und kam ihrem Wunsch dann doch nach. 78
79 BGHSt 49, Sachverhalt Wegen der Leibesfülle von Frau R., die in letzter Zeit deutlich an Körperumfang zugenommen hatte, äußerte er aber Bedenken, da er auf Grund der Fixierung der Beine über den Bauch hinweg zum Kopf befürchtete, diese könnte keine Luft mehr bekommen. Sie zerstreute seine Bedenken jedoch und verlangte, er solle dieses Mal statt des bisher verwendeten Stricks das Metallrohr benutzen. 79
80 BGHSt 49, Sachverhalt Der Angeklagte äußerte auch insoweit zunächst Vorbehalte, ließ sich dann aber umstimmen und fesselte seine Lebensgefährtin wie von ihr gewünscht. Zunächst benutzte er für den Würgevorgang das bereit gelegte Holzstück, ging dann auf Wunsch seiner Lebensgefährtin dazu über, das Metallrohr zum Würgen zu verwenden. Bei diesem Würgevorgang kam die Lebensgefährtin zu Tode. 80
81 BGHSt 49, 166 Zur Einwilligung Einverständlich vorgenommene sadomasochistische Praktiken, die zu Körperverletzungen führen, verstoßen nicht als solche gegen die `guten Sitten` im Sinne von 228 StGB Die Grenze zur Sittenwidrigkeit ist dann überschritten, wenn bei vorausschauender objektiver Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Tat der Einwilligende durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird. 81
82 IV. Die mutmaßliche Einwilligung Die mutmaßliche Einwilligung stellt einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund dar, der jedoch gegenüber der ausdrücklich oder konkludent erklärten Einwilligung subsidiär ist. Die mutmaßliche Einwilligung tritt in zwei Formen auf: 82
83 Die mutmaßliche Einwilligung (1) Handeln im Interesse eines Betroffenen, der vor dem Eingriff nicht befragt werden kann. (z.b.: Notoperation eines bewusstlos eingelieferten Patienten) An die Unmöglichkeit einer Befragung sind wegen des Selbstbestimmungsrechts hohe Anforderungen zu stellen. 83
84 Die mutmaßliche Einwilligung (2) Handeln bei mangelndem Interesse des Betroffenen (z.b.: Aufsammeln von reichlich umherliegendem fremden Fallobst) 84
85 Die mutmaßliche Einwilligung Subjektive Rechtfertigungsvoraussetzung ist die Absicht des Täters, dem mutmaßlichen Willen des Rechtsgutsinhabers zu genügen. Eine Mindermeinung verlangt darüber hinaus eine gewissenhafte Prüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen. 85
86 Beispiel: Mutmaßliche Einwilligung - Aufbau Sachverhalt: Arzt A findet den bewusstlosen B. Vor Ort leitet er erste Rettungsmaßnahmen ein, indem er ihm eine Infusion und mehrere Medikamente verabreicht. B überlebt. Strafbarkeit des A gemäß 223? 86
87 Beispiel: Mutmaßliche Einwilligung - Aufbau I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Mutmaßliche Einwilligung Voraussetzungen: Disponibles Rechtsgut und keine Sittenwidrigkeit nach
88 Beispiel: Mutmaßliche Einwilligung - Aufbau Subsidiarität Vorrang der tatsächlichen Einwilligung Keine vorherige Befragung möglich Kein entgegenstehender Wille des Betroffenen Hypothetischer Wille des Betroffenen (ex ante) 88
89 Beispiel: Mutmaßliche Einwilligung - Aufbau Subjektives Element er will im Interesse des Betroffenen handeln Rechtswidrigkeit (-) III. Ergebnis A ist nicht strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des B. 89
90 V. Das elterliche Züchtigungsrecht Eine maßvolle körperliche Züchtigung durch die Eltern ist gerechtfertigt, wenn ein hinreichender Anlass besteht, die Züchtigung zu Erziehungszwecken geboten ist und subjektiv zu Zwecken der Erziehung durchgeführt wird. 90
91 Das elterliche Züchtigungsrecht Minimale Züchtigungen (z.b. der Klaps auf den Po eines Kleinkinds) können sozialadäquat sein und fallen dann noch nicht unter den Tatbestand des 223. Lehrer besitzen nach h.m. kein Züchtigungsrecht. 91
92 Beispiel: Recht zur körperlichen Züchtigung Sachverhalt: Der 5jährige A will auf eine viel befahrene Straße laufen. Sein Vater B kann ihn gerade noch davon abhalten. Um ihn in Zukunft von derartigen Unüberlegtheiten abzuhalten, versetzt er ihm eine leichte Ohrfeige. Strafbarkeit des B gemäß 223? 92
93 Beispiel: Recht zur körperlichen Züchtigung 93 I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Elterliches Züchtigungsrecht (abgeleitet aus Art. 6 GG, wird nicht von 1631 II BGB verdrängt) Hinreichender Züchtigungsanlass Objektiv geboten und subjektiv vom Erziehungsgedanken beherrscht.
94 Beispiel: Recht zur körperlichen Züchtigung III. Züchtigung in Art und Intensität maßvoll und in angemessenem Verhältnis zur Verfehlung und körperlichen Verfassung des Kindes (+/-) Ergebnis B ist nicht strafbar wegen Körperverletzung gemäß 223 zum Nachteil des A. (a.a. vertretbar) 94
95 VI. Festnahmerecht gemäß 127 StPO Das Festnahmerecht gem. 127 I StPO steht jedermann zu. Dazu zählen auch Polizeibeamte. Nach h.m. ist eine vorläufige Festnahme gem. 127 I StPO nur gegenüber dem wirklichen Täter zulässig. Die Tat muss tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft begangen sein. 95
96 Festnahmerecht gemäß 127 StPO Nach einer stark vertretenen Mindermeinung soll dagegen eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat ausreichen. 96
97 Beispiel: Festnahmerecht gemäß 127 StPO 97 Sachverhalt: In der Würzburger Innenstadt ertönt die Alarmsirene der Stadtsparkasse. B rennt mit einer Plastiktüte durch die Menschenmenge. A glaubt endlich sein sportliches Talent ausspielen zu können und hält den B fest. Später stellt sich heraus, dass es sich nicht um den Bankräuber handelte, sondern B lediglich schnell zum Essen nach Hause wollte. Strafbarkeit des A wegen 239?
98 Beispiel: Festnahmerecht gemäß 127 StPO I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit Festnahmerecht 127 StPO Auf frischer Tat betroffen oder verfolgt Problem: Begriff der Tat im Sinne des 127 StPO 98
99 Beispiel: Festnahmerecht gemäß 127 StPO 99 E.A.: setzt eine tatsächlich begangene Tat voraus BGH: bloßer Tatverdacht ausreichend BayObLG: Der Festnehmende muss nach Zusammenschau aller äußeren Umstände nach seiner Lebenserfahrung ohne vernünftige Zweifel zu dem Schluss kommen, dass rechtswidrige Tat vorliegt. (+/-)
100 Beispiel: Festnahmerecht gemäß 127 StPO III. Ergebnis B ist nicht strafbar wegen Freiheitsberaubung gemäß 239 zum Nachteil des B (a.a. vertretbar). 10 0
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