Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht I (Staatsorganisationsrecht) Fall 9: Vermittlungsausschuss

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Transkript:

Institut für Öffentliches Recht Wintersemester 2011/2012 Universität Augsburg Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht I (Staatsorganisationsrecht) Fall 9: Vermittlungsausschuss A. Erzwingung des Zusammentritts des Vermittlungsausschusses Die Bundesregierung könnte im Wege des Organstreits gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG gegen den Vermittlungsausschuss vorgehen. I. Zulässigkeit des Organstreitverfahrens 1. Beteiligtenfähigkeit a. Beteiligtenfähigkeit der Bundesregierung, 63 BVerfGG Die Bundesregierung ist in 63 BVerfGG ausdrücklich als beteiligtenfähig genannt. b. Beteiligtenfähigkeit des Vermittlungsausschusses aa. 63 BVerfGG Der Vermittlungsausschuss gehört nicht zu den in 63 BVerfGG genannten Organen. Der VA könnte jedoch als ein mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil der genannten Organe beteiligtenfähig sein. Wie sich aus Art. 77 II GG ergibt, ist der VA jedoch weder ein Organteil des Bundesrates noch des Bundestages, sondern besteht aus Mitgliedern beider Organe. Wenn man noch die Funktion des VA als Vermittler zwischen Bundestag und Bundesrat hinzunimmt, ergibt sich eindeutig, dass der VA ein eigenständiges Organ und nicht etwa ein Organteil ist. bb. Art. 93 I Nr. 1 GG Der Wortlaut der Normierung der Beteiligtenfähigkeit ist in Art. 93 I Nr. 1 GG weiter als in 63 BVerfGG. Zusätzlich zu den obersten Bundesorganen und deren Organteilen ist nach Art. 93 I Nr. 1 GG auch ein "anderer Beteiligter, (der) durch dieses Grundgesetz... mit eigenen Rechten ausgestattet (ist)", beteiligtenfähig. Wie sich aus Art. 77 II GG ergibt, ist der VA ein solches selbstständiges Verfassungsorgan, das durch das GG mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Als einfaches Gesetzesrecht kann 63 BVerfGG die weitergehende verfassungsrechtliche Normierung nicht wirksam einschränken. Der VA ist beteiligtenfähig 1. 2. Gegenstand des Organstreits, Art. 93 I Nr. 1 GG, 64 I BVerfGG Erforderlich ist weiterhin, dass ein Streit um gegenseitige Rechte und Pflichten aus dem Grundgesetz vorliegt. Dabei müssen insoweit rechtserhebliche Maßnahmen oder Unterlassungen geltend gemacht werden, 64 I BVerfGG. Hier wendet sich die Bundesregierung gegen die Weigerung des Vermittlungsausschusses zusammenzutreten. Diese Weigerung stellt ein rechtserhebliches Unterlassen dar, so dass ein tauglicher Antragsgegenstand gegeben ist. 1 BVerfGE 20, 18.

3. Antragsbefugnis, 64 I BVerfGG Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, in seinen verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten verletzt zu sein. Nach dem Sachvortrag ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Bundesregierung in ihrem Recht auf Einberufung des VA verletzt worden ist. 4. Form und Frist a. Form, 23 BVerfGG Der Antrag ist schriftlich und mit Begründung einzureichen. b. Frist, 64 III BVerfGG Der Antrag ist binnen sechs Monaten zu stellen. II. Begründetheit des Organstreits Nach 67 S. 1 BVerfGG hat das BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des beanstandeten Verhaltens zu entscheiden. Dem Charakter des Organstreits entsprechend ist der Antrag jedoch nicht schon bei Vorliegen einer verfassungswidrigen Handlung begründet, sondern erst, wenn dadurch der Antragsteller auch in seinen verfassungsrechtlichen Rechten verletzt ist (a.a. vertretbar). 1. Verfassungswidriges Handeln oder Unterlassen des VA Der VA handelte verfassungswidrig, wenn er nach Art. 77 II 4 GG tatsächlich verpflichtet wäre, sich einzuberufen und zusammenzutreten. Die Bundesregierung kann die Einberufung des VA nach Art. 77 II 4 GG verlangen, sofern es sich bei dem im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Gesetz um ein Zustimmungsgesetz handelt. Seite 2 von 8

Institut für Öffentliches Recht Wintersemester 2011/2012 Universität Augsburg a. Vorliegen eines Zustimmungsgesetzes Die Zustimmungsbedürftigkeit der geplanten Verfassungsänderung - die in Form eines formellen Gesetzes erfolgt - ergibt sich aus Art. 79 II GG. b. Verpflichtung zum Zusammentritt aa. Wortlaut Der Wortlaut von Art. 77 II 4 i. V. m. Art. 77 II 1 GG ist jedoch eindeutig: wenn die dazu berechtigten Bundesorgane die Einberufung des VA "verlangen" - der VA beruft sich dann selbst ein - ist der Vermittlungsausschuss verpflichtet, dem Folge zu leisten. bb. Ausnahme Es stellt sich die Frage, ob diese Verpflichtung zur Einberufung ausnahmsweise entfällt, wenn das Gesetzgebungsvorhaben formell und materiell verfassungswidrig ist. Die Aufgabe des VA, die sich aus Art. 77 GG ergibt, ist es gerade, unterschiedliche Auffassungen und Konflikte im Gesetzgebungsverfahren zwischen den daran beteiligten Bundesorganen durch einen vermittelnden Vorschlag beizulegen. Der VA ist gerade das Forum für den Austausch kontroverser Meinungen. Der VA hat gerade nicht die Aufgabe, sich zum Schiedsrichter über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzgebungsvorhaben aufzuschwingen. Der VA hat zusammenzutreten, auch wenn er die geplante Verfassungsänderung für verfassungswidrig hält. 2. Verletzung der verfassungsrechtlichen Rechte der Bundesregierung Das sich aus Art. 77 II 4 GG ergebende Recht der Bundesregierung, die Einberufung des VA zu verlangen, wird durch dessen Weigerung zusammenzutreten verletzt. B. Verfassungsmäßigkeit der geplanten Verfassungsänderung I. Formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes 1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Änderungen des Grundgesetzes fallen nach Art. 79 GG in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Für den vorliegenden Fall spielt es dabei keine Rolle, dass nicht der einfache Gesetzgeber, sondern der Verfassungsgeber handelt. 2. Gesetzgebungsverfahren Ferner müsste ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren durchgeführt worden sein. a. Gesetzesinitiative, Artikel 76 I GG i.v.m. 76 I GO BT Hier wurde die Gesetzesvorlage durch 12 Abgeordnete eingebracht. aa. Verstoß gegen 76 I i.v.m. 75 I lit. a GO BT Das Vorgehen der Abgeordneten verstößt gegen 76 I GO BT, wonach ein Gesetzentwurf entweder von einer Fraktion ( 10 I GO BT) oder 5 % der Mitglieder des Bundestages, d.h. von mindestens 31 Abgeordneten ( 1 I, 6 V BWG: derzeit 620 Abgeordnete) unterzeichnet sein muss. bb. Gesetzesbeschluss trotz fehlerhafter Einbringung der Vorlage

Trotz der nicht ausreichenden Unterstützung der Gesetzesvorlage hat der Bundestag den Gesetzesbeschluss nach Art. 77 I GG gefasst. Von besseren Bearbeitern kann erwartet werden, dass sie in dieser Situation nicht einfach von einer Verfassungswidrigkeit des Gesetzes wegen Verstoßes gegen das Gesetzgebungsverfahren ausgehen, sondern sich Gedanken über die Auswirkungen des Verstoßes gegen 76 I GOBT machen. 76 I GOBT ist nur eine Ausführungsvorschrift zu dem in Art. 76 I GG enthaltenen Tatbestandsmerkmal "aus der Mitte des Bundestages" 2. Ein Verstoß gegen die Ausführungsnorm ist nicht unbedingt einem direkten Verstoß gegen eine GG-Norm gleichzusetzen, zumal auch eine kleinere Gruppe von Abgeordneten, die nicht Fraktionsstärke besitzt, dem Begriff "aus der Mitte des Bundestages" gerecht werden kann. Die Regelungen der GOBT zur Fraktionsstärke und zu den damit zusammenhängenden Rechten reflektieren politische Praktikabilität und die Notwendigkeiten eines geordneten und funktionierenden parlamentarischen Betriebs. Diese Regeln dienen dem internen Funktionieren des Parlaments und sind daher lediglich als Ordnungsvorschriften zu qualifizieren. Wenn der Bundestag wie im vorliegenden Fall sich über den ganz offensichtlichen Fehler bei der Einbringung des Gesetzesentwurfs durch einen ordnungsgemäßen Gesetzesbeschluss hinwegsetzt und sich damit die Gesetzesvorlage zu eigen macht, ist der Verstoß gegen die Ordnungsvorschrift des 76 I GOBT damit geheilt bzw. unbeachtlich. 3 Zudem kann auch auf den Art. 82 I GG verwiesen werden, der lediglich verlangt, dass ein Gesetz nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommen sein muss. b. Umgehung der Beteiligungsrechte des Bundesrates, Art. 76 II GG Hier stellt sich das Problem, ob die Tatsache, dass die Abgeordneten, die den Gesetzentwurf einbringen, auf Anregung und mit Formulierungshilfe des Bundesinnenministers handeln, möglicherweise eine unzulässige Umgehung der Beteiligungsrechte des Bundesrates gem. Art. 76 II GG bedeutet. Denn ein von der Bundesregierung eingebrachter Gesetzentwurf ist nach Art. 76 II 1 GG in einem ersten Durchgang zunächst dem Bundesrat zuzuleiten. Dieses bekannte Problem stellt sich nach dem vorliegenden Sachverhalt jedoch nicht. Es handelt sich nicht um einen ursprünglich von der Bundesregierung erarbeiteten Gesetzentwurf, sondern es wird erstens nur angeregt und Formulierungshilfe geleistet, und zweitens agiert vor allem nicht die Bundesregierung als Kollegium, sondern lediglich ein Bundesminister. Eine Umgehung von Art. 76 II 1 GG kann also nicht angenommen werden. Sollte allerdings - weniger gut vertretbar - eine solche Umgehung hier angenommen werden, müssen diese Bearbeiter zu dem Ergebnis kommen, dass trotz gewisser Bedenken ein solches Vorgehen nach ganz allgemeiner Auffassung und richtigerweise nicht als verfassungswidrig anzusehen ist. II. Materielle Verfassungsmäßigkeit der geplanten Verfassungsänderung, Art. 79 III GG 1. Verfassungswidrigkeit wegen Berührung der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung 2 Vgl. BVerfGE 1, 144 (153): In welcher Weise Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestages beim Bundestag eingebracht werden können, bestimmt Art. 76 I GG nicht. Die Form des Gesetzgebungsverfahrens überläßt das Grundgesetz der Geschäftsordnung und der politischen Praxis. 3 Vgl. Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 552; Schmalz, Staatsrecht, Rn. 448. Seite 4 von 8

Dieser Aspekt der Ewigkeitsgarantie betrifft die Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung (im Bereich der Landesgesetzgebung würden die Länder nicht mitwirken, sondern allein handeln). Die geplante Verfassungsänderung beinhaltet jedoch allein eine Einschränkung der Landesgesetzgebung. 2. Verfassungswidrigkeit wegen Berührung der Gliederung des Bundes in Länder Die durch die Verfassungsänderung bewirkte Einschränkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder kann unter Art. 79 III GG allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Gliederung des Bundes in Länder relevant sein. a. Bundesstaatlicher Aufbau Art. 79 III GG garantiert den föderalen Charakter der Bundesrepublik. Danach muss lediglich gewährleistet sein, dass die Bundesrepublik überhaupt ein Bundesstaat ist, dass es also im Extremfall mindestens zwei Länder gibt. b. Staatsqualität der Länder Art. 79 III GG garantiert auch, dass die Länder als Staaten, nicht nur als dezentrale Verwaltungseinheiten, erhalten bleiben. Die Länder sind "Staaten mit eigener, wenn auch gegenständlich beschränkter, nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter Hoheitsmacht" 4. Die Staatsqualität der Länder wird so lange nicht tangiert, wie den Ländern in Landesangelegenheiten ein nennenswertes Mindestmaß an originären Gesetzgebungskompetenzen erhalten bleibt, das sogenannte "Hausgut", ein unentziehbarer Kern eigener Aufgaben. Ob dadurch, dass die Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen an die Einhaltung zusätzlicher Kriterien gebunden wird, in den Kern eigenständiger Staatlichkeit der Länder eingegriffen wird, ist näher zu prüfen. (Die Garantie der Staatsqualität der Länder kann auch über Art. 79 III 3. Alt. i. V. m. Art. 20 I GG konstruiert werden.) aa. Eingriff in die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder Die vorgeschlagene Verfassungsänderung bezieht sich, wie sich durch die Einfügung der neuen Vorschrift in Art. 72 GG ergibt, allein auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz der Länder. Die ausschließliche, sich aus Art. 30 GG ergebende Ländergesetzgebungskompetenz wird nicht betroffen. 4 BVerfGE 34, 9, 19 f. Seite 5 von 8

Institut für Öffentliches Recht Wintersemester 2011/2012 Universität Augsburg bb. Übermäßige Einschränkung der konkurrierenden Ländergesetzgebungskompetenzen? Nach dem System des GG, insbesondere Art. 30 und 72 GG, stehen die konkurrierenden Kompetenzen ursprünglich den Ländern zu, und der Bund kann nur unter bestimmten Voraussetzungen von ihnen Gebrauch machen. Aus der Sicht der Länder regelt Art. 72 GG, unter welchen Bedingungen die Gesetzgebungskompetenzen der Länder enden. Der vorgeschlagene neue Absatz 2a fügt diesen Beendigungsgründen eine neue und zusätzliche Sperre durch das Widerspruchsrecht der Bundesregierung hinzu. Dieses Widerspruchsrecht hat zwei Voraussetzungen. (I) Materielle Voraussetzungen Zum einen müssen die materiellen Voraussetzungen vorliegen, unter denen der Bundesgesetzgeber die Kompetenz an sich ziehen könnte. Insoweit wird die Kompetenz der Länder durch die Verfassungsänderung nicht zusätzlich eingeschränkt. (II) Wichtige Interessen Das Widerspruchsrecht der Bundesregierung setzt kumulativ weiter voraus, dass durch ein Landesgesetz "wichtige Interessen des Bundes gefährdet würden". Nachdem durch den Verweis auf das Vorliegen der Gründe des Art. 72 II GG bereits ein "gesamtstaatliches Interesse" an der bundesgesetzlichen Regelung vorausgesetzt wird, führt die Notwendigkeit der Gefährdung wichtiger Interessen des Bundes als Voraussetzung des Widerspruchsrechts dazu, dass das Widerspruchsrecht engere Voraussetzungen hat als die Inanspruchnahme der Bundesgesetzgebungskompetenz. Das Widerspruchsrecht kann eine Gesetzgebung durch die Länder also nur in solchen und nicht einmal in allen Fällen verhindern, wo der Bundesgesetzgeber durch Inanspruchnahme der Bundesgesetzgebungskompetenzen auch nach bisheriger Rechtslage die Landesgesetzgebungskompetenz beenden könnte. Die Länder werden demgemäß an nichts gehindert, was nicht ohnehin bereits unter dem Vorbehalt der Bundesgesetzgebungskompetenz steht. Zudem handelt es sich um eine rein verfahrensrechtliche Einschränkung. 3. Unantastbarkeit der bundesstaatlichen Ordnung, Art. 79 III i. V. m. 20 I GG Durch die geplante Verfassungsänderung würde die Landesgesetzgebung, ohne dass der Bund die konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten übernimmt, in diesem Bereich von der Widerspruchsmöglichkeit der Bundesregierung abhängig und dieser wird dadurch ein neuartiger verfahrensrechtlicher Einfluss auf die Landesgesetzgebung zugebilligt. a. Gegenseitige Unabhängigkeit und Nichteinmischung als Ausprägung des Bundesstaatsprinzips Die gegenseitige Unabhängigkeit und Nichteinmischung von Bund und Ländern ist nicht durchgängig, sondern nur in Kernbereichen geschützt. Bund und Länder sind vielfältig miteinander verflochten.

Institut für Öffentliches Recht Wintersemester 2011/2012 Universität Augsburg b. Abhängigkeit der konkurrierenden Landesgesetzgebung Nach bisheriger Rechtslage kann der Bund grundsätzlich die konkurrierende Landesgesetzgebungskompetenz dadurch beenden, dass er selbst legislativ von entsprechenden Kompetenzen Gebrauch macht. Die geplante Verfassungsänderung eröffnete die Möglichkeit, dass der Bund, wenn die Voraussetzungen zur Übernahme der Gesetzgebungskompetenz vorliegen und zusätzlich die Interessen des Bundes gefährdet würden, die Gesetzgebungskompetenz der Länder blockieren kann, ohne zugleich selber legislativ tätig zu werden. Hierdurch wird die bislang durch Art. 30, 70 ff. GG garantierte lückenlose Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen entweder auf die Länder oder auf den Bund durchbrochen und die Möglichkeit eröffnet, dass weder der Bund noch die Länder gesetzgeberisch tätig werden. Es kann mit guten Gründen vertreten werden, dass hierin eine gravierende Änderung im bundesstaatlichen Verhältnis, konkreter in der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern liegt, die mit Art. 30 GG unvereinbar ist und daher mit dem durch Art. 79 III in Verbindung mit Art. 20 I GG für unantastbar erklärten Grundsatz der Bundesstaatlichkeit unvereinbar ist. 4. Verfassungswidrigkeit wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung, Art. 79 III i. V. m. Art. 20 II 2 GG Da durch die geplante Verfassungsänderung die Bundesregierung in die Lage versetzt werden würde, die Landesgesetzgebung zu blockieren, stellt sich die Frage, ob diese Abhängigkeit der Landes-Legislative von der Bundes-Exekutive mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar ist. a. Verhältnis Bundesregierung - Bundesgesetzgebung Mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung wäre es unvereinbar, wenn die Bundesregierung eine Aufgabe des Bundesgesetzgebers wahrnehmen würde. Zu dieser Prüfung besteht Anlass, weil nach der geplanten Verfassungsänderung nicht mehr nur die Legislative des Bundes die konkurrierende Landesgesetzgebungskompetenz beenden könnte, sondern auch die Exekutive des Bundes. aa. Nicht-Widerspruch der Bundesregierung durch ausdrückliche Unbedenklichkeitserklärung oder Schweigen Wenn die Bundesregierung einem Landesgesetzgebungsvorhaben nicht widerspricht oder diesem ausdrücklich zustimmt, handelt es sich dabei nicht selbst um einen Akt der Gesetzgebung. Der Bundesgesetzgeber wird in seiner Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt, denn es steht ihm auch nach der geplanten Verfassungsänderung frei, unter den Voraussetzungen des Art. 72 II GG eine Gesetzgebungsmaterie an sich zu ziehen oder nicht. bb. Widerspruch der Bundesregierung Wenn die Bundesregierung einem Landesgesetzgebungsvorhaben widerspricht, ist dieses ebenfalls kein Akt der Gesetzgebung, und der Bundesgesetzgeber wird nicht zur Gesetzgebung verpflichtet, sondern bleibt seinerseits frei, unter den Voraussetzungen von Art. 72 II GG eine Materie an sich zu ziehen oder nicht. b. Verhältnis Bundesregierung - Landesgesetzgeber aa. Geltung des Gewaltenteilungsprinzips

Art. 20 II 2 GG unterscheidet nicht zwischen Bund und Ländern, sondern verpflichtet eine unteilbare Staatsgewalt, die von Bund und Ländern mit ihren Organen wahrgenommen wird. Der Grundsatz der Gewaltenteilung gilt auch im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesorganen. bb. Bindung des Landesgesetzgebers Durch einen Widerspruch der Bundesregierung wird der Landesgesetzgeber seiner Gesetzgebungskompetenz beraubt. Dieses widerspricht grundsätzlich dem Gewaltenteilungsgrundsatz. Es wird auch in den Kernbereich des Landesgesetzgebers eingegriffen, weil der materiell große Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen und damit ein wesentlicher Bereich der Landeshoheit betroffen ist. Daher verstößt die geplante Verfassungsänderung gegen Art. 79 III i. V. m. 20 II 2 GG. III. Endergebnis Die geplante Verfassungsänderung ist nach Art. 79 III i. V. m. 20 I bzw. 20 II 2 GG verfassungswidrig, weil sie gegen die Grundsätze sowohl der bundesstaatlichen Ordnung als auch der Gewaltenteilung verstößt. Seite 8 von 8