Handrock Baumann. Vergeben und Loslassen in Psychotherapie und Coaching E-BOOK INSIDE + ARBEITSMATERIAL ONLINE-MATERIAL

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1 Handrock Baumann Vergeben und Loslassen in Psychotherapie und Coaching E-BOOK INSIDE + ARBEITSMATERIAL ONLINE-MATERIAL

2 Handrock Baumann Vergeben und Loslassen in Psychotherapie und Coaching Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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4 Anke Handrock Maike Baumann Vergeben und Loslassen in Psychotherapie und Coaching Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

5 Anschriften der Autorinnen: Dr. Anke Handrock Steinbeis-Transfer-Institut Positive Psychologie und Prävention Boumannstraße Berlin Dipl.-Psych. Maike Baumann Institut für Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde Universität Potsdam Am Neuen Palais Potsdam Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN Print ISBN E-Book (PDF) 1. Auflage 2017 Programm PVU Psychologie Verlags Union in der Verlagsgruppe Beltz Weinheim Basel Werderstraße 10, Weinheim Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Natalie Brecht Bildnachweis: Getty Images / Joe Drivas Einbandtypografie und Herstellung: Lelia Rehm Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter:

6 Inhaltsübersicht Vorwort 11 Teil I Grundlagen 13 1 Einführung 15 2 Strukturen des Vergebens 21 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung 31 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit 57 Teil II Prozess 77 5 Der Prozess des Vergebens 79 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen 89 7 Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen 99 8 Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken, inneren Einwänden und schwierigen Gefühlen konstruktiv umgehen Fünfte Phase Ausrichtung auf die Zukunft und Gestaltung des Kontaktes zum Verletzer Vergeben in Gruppen 163 Anhang 169 Arbeitsmaterialien 171 Literatur 212 Sachwortverzeichnis 217 Inhaltsübersicht 5 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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8 Inhalt Vorwort 11 Teil I Grundlagen 13 1 Einführung Verwendete Begriffe Was ist Wording? Geschichte und Hintergründe Ein Überblick 17 2 Strukturen des Vergebens Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen Andere Vergebensmodelle Die Erweiterung der Modelle durch den Einsatz schematherapeutischer Modusarbeit 29 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung Entschuldigen Entschuldigung Verzeihen Verzeihung Vergeben Vergebung Interpersonelles Vergeben Intrapersonelles Vergeben Selbstvergeben Versöhnen Versöhnung Vor und Nachteile des Vergebens Was ist Vergeben nicht? Häufige Irrtümer über Vergeben Der Nutzen des Vergebens Die Kosten des Vergebens und der Nutzen des Nicht-Vergebens Systemische Aspekte im Zusammenhang mit Vergebungsprozessen Systemischer Ausgleich und systemische Ausgleichsprinzipien Das Grundprinzip der Anerkennung und Leistung der Ausgleichsverpflichtung Das Recht des Schuldners auf Mahnung »Verzinsung«der Schuld 55 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit Was ist (moralische) Schuld? Was kann im engeren Sinne vergeben werden und was nicht? 57 Inhalt 7 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

9 4.1.1 Weitere Schuldarten Wie entsteht eine (moralische) Schuldkonstruktion? Weitere Aspekte des Schuldempfindens EXKURS: Entwicklung der Schuldfähigkeit EXKURS: Religionsbezogene Aspekte der Vergebung Zusätzliche Dimensionen religiöser Vergebung Judentum Christentum Islam Hinduismus Buddhismus 74 Teil II Prozess 77 5 Der Prozess des Vergebens Äußere Rahmenbedingungen Der Begleiter in Vergebensprozessen Hinweise für den Klienten zum Umgang mit Briefen und Tagebüchern Indikation und Kontraindikationen Prozessablauf Motivation 85 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen Ziel des Vergebens und Verständnis seiner Bedeutung Mögliche Auswirkungen von Festhalten und Loslassen Erste formale Entscheidung zum Vergeben 96 7 Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen Nüchterne Betrachtung der Ursprungssituation Emotionale Realisierung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes Kurze Einführung in das Modusmodell Das Innere Kind (Jüngere Selbst) trösten Innere Einwände und Ansprüche Umgang mit Rachegedanken Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes Entschiedenheit erlangen eine andere Person beraten Entschiedenheit erlangen Die Situation aus der Zukunft betrachten und Verantwortung übernehmen Inhalt

10 8 Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben Verständnis für die Situation des Täters erarbeiten kognitives Vorgehen Die Sicht des Täters erkunden emotionsfokussiertes Vorgehen Dankesbrief als weiterführende Aufgabe emotionsfokussiertes Vorgehen Die schriftliche Anklage emotionsfokussiertes Vorgehen Änderung des Prozesses bei neuen Erkenntnissen Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen Den Täter imaginativ mit der Vergebung konfrontieren Formales Vergebensritual durchführen Ausstellung der Vergebensurkunde Exkurs: Wirkungaspekte des Vergebensrituals Integration des Vergebens im Sinne der Modusarbeit Radikale Akzeptanz des verbleibenden Schadens Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen Klärung des Vorhandenseins eventueller Mitschuld Umgang mit Schuldgefühlen ohne objektivierbare Schuld Sich selbst vergeben Umgang mit Aktivierungen beim Selbstvergeben Beide Kinder trösten Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken, inneren Einwänden und schwierigen Gefühlen konstruktiv umgehen Rückfallprophylaxe Umgang mit Gedanken und inneren Einwänden Möglichkeiten den eigenen Zustand zu verändern kurzfristige Unterbrechung von Mustern Erhöhung von Selbstmitgefühl und Mitgefühl Self-Compassion-Mantra Mantra des Selbstmitgefühls Loving-Kindness-Meditation (LKM) Fünfte Phase Ausrichtung auf die Zukunft und Gestaltung des Kontaktes zum Verletzer Sich auf die eigene Zukunft ausrichten Ausrichtung an den eigenen Werten Everest-Ziele Den weiteren Umgang mit dem Verletzer klären Der Kontakt zum Verletzer Die Vertrauensbereitschaft des Klienten Erwartungen an den Verletzer 156 Inhalt 9 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

11 10.3 Um Verzeihung bitten Das Zielverhalten beschreiben lassen Ansätze zur Versöhnungsarbeit»sich zusammensetzen, um sich auseinanderzusetzen« Nutzen aus dem Vergeben ziehen posttraumatisches Wachstum Vergeben in Gruppen Voraussetzungen für Gruppenprozesse Anregungen für Vergebensprozesse in Gruppen Ausblick 168 Anhang 169 Arbeitsmaterialien 171 Literatur 212 Sachwortverzeichnis Inhalt

12 Vorwort Die Zahl der Klienten, die langfristig mit vergangenen Situationen hadern und im Groll stecken bleiben, scheint immer stärker zuzunehmen. Linden et al. (2007) haben im klinischen Setting bereits eine spezifische Grollstörung (Embitterment Disorder) postuliert. Auch im betrieblichen Bereich wird dem Verhaftetsein in Groll und Hader sowie einer persistierenden Unversöhnlichkeit verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Bright und Exline (2011) beschreiben sowohl die Fähigkeit zu vergeben, als auch die Fähigkeit, durch adäquate Führung ein Vergeben in Organisationen zu begleiten, als relevantes Merkmal positiver Führungsfähigkeit. Peterson und Seligman (2004) betrachten Vergebensfähigkeit als psychologische Stärke und sehen sie somit als einen Baustein für ein gelingendes, glückliches Leben an. Dennoch ist Vergeben ein Thema, das bisher in der Literatur über Therapie und Coaching im deutschsprachigen Raum eher selten behandelt wird. Es findet zwar in der Selbsthilfeliteratur und im religiösen Bereich durchaus Beachtung, aber die formalisierte Literatur zur Begleitung von Vergebensprozessen im Rahmen von Therapie und Coaching ist eher rar. Das mag seinen Ursprung darin haben, dass Vergeben primär aus dem religiösen Bereich stammt, und daher eine gewisse Scheu herrscht, derartige Prozesse im säkularen Bereich einzusetzen. Das ist nachvollziehbar, da viele Vergebungsbücher im deutschsprachigen Raum bestimmte religiöse oder philosophische Grundhaltungen mehr oder weniger implizit voraussetzen. Der hier vorgestellte Prozess beschreibt explizit nur die psychologischen Komponenten, die bei allen Klienten unabhängig von ihrer religiösen oder säkularen Grundhaltung zu erwarten sind. Da Vergeben jedoch für religiöse Menschen auch eine spirituelle Dimension hat, findet sich zur Orientierung eine Zusammenfassung zu den spirituellen Aspekten des Vergebens in verschiedenen Religionen. Dieses Buch zeigt einen praxisorientierten Weg zum Umgang mit Groll. Auf der Basis der Untersuchungen von Worthington (2005) und Enright (2006) und des Modusmodells der Schematherapie bietet es einen strukturierten Ansatz zur Begleitung von Klienten, die aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, mit bestimmten Episoden in ihrem Leben abzuschließen. Dabei gehen wir davon aus, dass diesem Prozess in aller Regel eine Bearbeitung der zugrunde liegenden Ursprungssituation vorangegangen ist. Das Modell bietet eine Ergänzung des bisher vorhandenen Repertoires des Coachs oder Therapeuten. Dieses Buch basiert auf den Erfahrungen und Berichten vieler Klienten und dem Austausch mit zahlreichen Kollegen. Ihnen allen möchten wir an dieser Stelle herzlich danken! Vorwort 11 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

13 Auch ohne die grundsätzliche Unterstützung und Nachsicht von Freunden und Familie wäre es uns nicht möglich gewesen, dieses Buch zu verfassen. All diesen lieben Menschen sei an dieser Stelle für Ihre Geduld und Hilfe in ganz besonderem Maße gedankt. Besonders Frau Dipl.-Psych. Claudia Zahn und Frau Stephanie Sievers, M. Sc.-Psych., möchten wir an dieser Stelle noch einmal für ihre Unterstützung danken. Die Zusammenarbeit mit dem Beltz Verlag und insbesondere mit unserer Lektorin, Frau Brecht, war für uns eine ganz besonders wertvolle Unterstützung. All unsere Rückfragen, Wünsche, Ideen und Probleme konnten jederzeit und wenn nötig auch ganz unbürokratisch und kurzfristig geklärt werden. Selbstverständlich sind wir wie jeder Mensch auch selbst Betroffene von Verletzungen und Kränkungen. Auch diese Erkenntnisse sind gemeinsam mit unseren professionellen Erfahrungen in dieses Buch eingeflossen. Wir laden Sie ein, die hier dargestellten Prozesse sowohl für sich selber, als auch für ihre Klienten zu nutzen und wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre und der Anwendung. Berlin, Frühling 2017 Anke Handrock Maike Baumann 12 Vorwort

14 Teil I Grundlagen 1 Einführung 2 Strukturen des Vergebens 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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16 1 Einführung Dieses Buch gliedert sich in mehrere Abschnitte. Im ersten Abschnitt finden Sie die Hintergründe und die Grundlagen sowie ein Überblick über vorhandene Vergebensmodelle. Anschließend wird die Abgrenzung und Verwendung der verschiedenen Begriffe, die im Zusammenhang mit Vergeben eingesetzt werden, näher untersucht. Das ist erforderlich, da viele Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch ausgeprägte Überschneidungen aufweisen (wie beispielsweise Verzeihen, Entschuldigen oder Vergeben). Für Klienten ist es hilfreich, wenn diese Überschneidungen und unrealistische Erwartungen vor Beginn des entsprechenden Prozesses besprochen werden. Im dritten Abschnitt schließt sich die Darstellung der verschiedenen Prozessschritte beim Vergeben an. Die Basis der Darstellung orientiert sich an Worthington. Dabei werden die einzelnen psychologischen Vorgänge durch schematherapeutische Modusarbeit unterlegt und so handhabbar gemacht. Selbstverständlich muss das Vorgehen jeweils an die zugrunde liegende Ausgangssituation angepasst werden.! Vergebensprozesse werden einerseits eingesetzt, wenn Klienten unter dramatischen Umständen Angehörige verloren haben oder selber überfallen oder verletzt worden sind. Andererseits können sie Anwendung finden, wenn Klienten in der Familie oder im Beruf Kränkungen ausgesetzt waren. In manchen Fällen sind Klienten vollständig ohne eigenes Zutun in die Verletzungssituation hineingeraten und zufällig Opfer geworden, da sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. In anderen Fällen sind sie gezielt Opfer von kriminellen oder politischen Aktivitäten geworden, zu denen sie nichts beigetragen haben und die sie auch nicht verhindern konnten. Im Gegensatz dazu stehen Situationen, in denen der Coach oder Therapeut deutlich erkennbare Anteile an der Mitgestaltung der auslösenden Situation durch das definierte Opfer erkennen kann. Teilweise tritt sogar für den Begleiter die Frage auf, wer der Täter und wer das Opfer in der beschriebenen Situation ist. In all diesen unterschiedlichen Situationen sind Vergebensprozesse prinzipiell denkbar. Die gerade beschriebenen unterschiedlichen Aspekte, in denen Vergebensprozesse möglich sind, erfordern in den verschiedenen Situationen unterschiedliche therapeutische Vorarbeit und eine angepasste Strukturierung des Vergebensprozesses. Dennoch ist der Grundablauf des Prozesses nahezu identisch und der Ablauf der Schritte ist für die unterschiedlichsten Situationen anpassbar. 1 Einführung 15 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

17 1.1 Verwendete Begriffe Da die in diesem Buch dargestellten Prozesse sich sowohl für den Einsatz im therapeutischen Bereich, als auch im Coaching und gegebenenfalls in weiteren Bereichen eigenen, sprechen wir häufig generalisierend vom Prozessbegleiter oder kurz vom Begleiter. Darin drückt sich auch unser Verständnis aus, dass der Begleiter zwar die Formate anbietet und zur Verfügung stellt, inhaltlich jedoch den Prozess nicht beeinflusst, sondern begleitet. Um den religiösen Begriff der Vergebung von den beschriebenen psychologischen Vorgängen abzugrenzen, sprechen wir prinzipiell vom Vergeben und von Vergebensprozessen. Lediglich, wenn diese Prozesse abgeschlossen sind, verwenden wir (aus Gründen der sprachlichen Eleganz) die Formulierung, dass»vergebung«erfolgt ist. Zu Beginn des Prozesses sprechen wir von Täter und Opfer. Damit folgen wir der Zuschreibung, die die Klienten für sich selber und den entsprechenden Verursacher verwenden. Die Zuschreibungen Täter und Opfer aktiviert aber gleichzeitig komplette Assoziationsfelder. Daher verwenden wir von dem Moment an, in dem der Klient formal erklärt hat, dass das Vergeben erfolgt ist, diese Begriffe nicht mehr. Wir sprechen von da an vom Verletzer und dem Verletzten oder dem Gekränkten. So markieren wir sprachlich, dass eine Veränderung der Rollenzuschreibung stattgefunden hat. Einen derartigen Sprachgebrauch empfehlen wir auch bei der Begleitung der Prozesse. Da Vergebensprozesse nach Traumata, nach Verletzungen und nach Kränkungen eingesetzt werden können, benutzen wir den Begriff der Verletzung als Überbegriff. Wir gehen auf Kränkungen nur ein, wenn uns dies spezifisch sinnvoll oder erforderlich erscheint. Im Rahmen komplexer Vergebensprozesse werden zwei Aspekte relevant: (1) Das Vergeben gegenüber dem Täter also gegenüber einer anderen Person. Es wird als interpersonelles Vergeben bezeichnet. (2) Der zweite Aspekt, der in den Blick genommen werden kann, ist eine Vergebung sich selbst gegenüber. Das bezeichnen wir als Selbstvergebung. Sie wird auch als intrapersonelles Vergeben bezeichnet. Des Weiteren setzen wir die Begriffe aus der Modusarbeit der Schematherapie relativ generalisierend ein. Wir sprechen vom Fitten Erwachsenen (statt vom gesunden Erwachsenen-Modus), vom Inneren Kind oder vom Jüngeren Selbst (statt von den unterschiedlichen Inneren-Kind-Modi) und von Inneren Antreibern bzw. Inneren Beschimpfern oder Inneren Erziehern (statt von den unterschiedlichen Inneren Elternmodi). Nähere Erklärung zu den einzelnen Funktionen finden Sie unten (vgl. Abschn ). Für die Begleitung von Vergebensprozessen ergibt sich dadurch eine hinreichende Präzision, während gleichzeitig eine vertiefte Kenntnis des Modusmodells nicht erforderlich wird. Für nähere Informationen zum Modusmodell verweisen wir auf die einschlägige Literatur Einführung

18 Wir, als Autorinnen dieses Werkes, haben uns entschieden, konsequent für Täter und Opfer die männliche Form zu benutzen. Dabei sind selbstverständlich alle Geschlechter mit gemeint. 1.2 Was ist Wording? Unsere Erfahrungen aus dem Lehralltag zeigen, dass gerade junge Kollegen häufig den Wunsch nach klientengerechten Beispielformulierungen haben. Dem versuchen wir in diesem Buch Rechnung zu tragen, indem wir in den grau unterlegten»wording- Kästen«entsprechende Formulierungsvorschläge unterbreiten. Definition Als»Wording«bezeichnen wir unsere Ideen, wie einzelne Interventionen oder Interventionsbestandteile einem Klienten sprachlich präsentiert werden können. Sie haben sich für uns in der praktischen Anwendung bewährt. Wen die dadurch entstehenden Redundanzen stören, der überlese diese Bereiche bitte. Selbstverständlich handelt es sich dabei immer nur um Ideen, die sich für uns bewährt haben. Sie sind immer an den spezifischen Klienten und dessen individuelle Situation anzupassen. Gerade beim Thema Vergeben können manche dieser Formulierungen für einzelne Klienten völlig unpassend sein. Das liegt schon daran, dass die Art der Situationen, in denen Klienten sich für Vergeben entscheiden, höchst unterschiedlich ist. Sie reichen von schwersten Traumatisierungen bis zu relativ einfachen Kränkungen. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Verantwortung für den sachgerechten Einsatz immer beim jeweiligen Begleiter liegt. 1.3 Geschichte und Hintergründe Ein Überblick Vergeben als Konzept entstammt primär dem religiösen Bereich. In den meisten Religionen und Kulturen wird die Bereitschaft zu Vergeben als wünschenswerte Haltung betrachtet. Teilweise wird die Fähigkeit wirklich vergeben zu können einem Gott / Göttern zugeschrieben während sie allerdings oft gleichzeitig von Menschen gefordert wird. Vergebungsbereitschaft nimmt statistisch gesehen über das Leben hinweg zu und wird durch Religiosität verstärkt. Bei religiös orientierten Menschen (experimentelle Studien mit christlich orientierten VersuchsteilnehmerInnen) lässt sich darüber hinaus ein Zusammenhang nachweisen zwischen dem Gefühl Vergebung durch Gott zu erfahren und der Vergebungsbereitschaft anderen Menschen gegenüber (Huber et al., 2011). So ist es denkbar, dass religiöse Menschen einen besseren Zugang zum Konzept der Vergebung haben. 1.3 Geschichte und Hintergründe Ein Überblick 17 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

19 Nach diversen Untersuchungen in verschiedenen Kontexten haben Peterson und Seligmann (2004) die Vergebungsbereitschaft auch als kulturübergreifende, wünschenswerte Tugend beschrieben. Vergebung ist prosozial und bedeutet eine Transformation der Motivation weg von Rache und hin zum Wohlwollen. Dabei ist die zweiseitige Natur von Vergebung als inter- aber auch intrapersonaler Prozess mit zu beachten. Die grundsätzliche kognitive Fähigkeit zu vergeben kann evolutionsbiologisch als Folge der Entwicklung des Menschen, eines sozialen und kooperativen Lebewesens, verstanden werden. Einerseits ist die Ausnutzung und Schädigung eines Menschen durch Artgenossen als Selektionsdruck zu begreifen. Das schädigende Verhalten durch Racheakte auszugleichen, kann als eine wirksame Strategie gegen diesen Selektionsfaktor gesehen werden. Bei Rache ist ggf. sogar möglich, einen Gewinn zu machen und es wird zukünftig so viel Angst und Schrecken verbreitet, dass kein anderer Mensch es mehr wagt, den Rächenden zu schädigen. Andererseits ist das Ausüben von Rache innerhalb einer (dauerhaft bestehenden) sozialen Gruppe mit hohen evolutionären Kosten für die gesamte Gruppe verbunden (Verbrauch von Ressourcen für Versorgung von Verletzungen; verringerter Zusammenhalt in der Gruppe; erhöhtes Stresslevel der Gruppenmitglieder etc.). Das erzeugt ebenfalls Kosten für jedes einzelne Individuum der Gruppe. Die Fähigkeit auf ausgleichende Rache zu verzichten, schafft die Option für zukünftige Kooperation innerhalb der Gruppe und Win-Win-Situationen. Diese generieren insgesamt mehr Gewinn für die Gruppenmitglieder, als das Agieren als Einzelner (immer vorausgesetzt eine wiederholte Schädigung oder Ausbeutung kann ausgeschlossen werden). Experimentell ist tatsächlich neben bekannten Faktoren, wie der Schwere der erlittenen Verletzung oder Persönlichkeitsfaktoren auf der Seite des Geschädigten (z. B. Trait-Empathie), eine zunehmende Wahrscheinlichkeit für Vergebungsbereitschaft nachweisbar, wenn der personalen Beziehung mit dem Verursacher ein hoher Wert beigemessen wird. Zugleich muss das zu erwartende Risiko, wiederholt von dem Verursacher ausgebeutet zu werden, gering eingeschätzt werden (vgl. ausführlich Bournette et al., 2012). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass durch Vergeben das Zusammenleben in einer Gruppe auch nach erfolgtem und erlittenem Unrecht gesichert wird. In Gruppen wurde (und wird) Unrecht vor allem rangniederen Gruppenmitgliedern zugefügt. Da das Verlassen der Gruppe (bzw. der Ausschluss aus dieser) in früheren Zeiten häufig den Tod bedeutete, war Vergeben oft die einzige Möglichkeit innerhalb der Gruppe zu überleben. Falls ein Individuum nicht in der Lage war zu vergeben, so musste es neben den Folgen seiner Verletzungen auch noch die negativen Folgen seines Grolls tragen.! Psychologisch betrachtet kann ein interindividueller Vergebensprozess (jemand anderem vergeben) also als eine wirkungsvolle Form eines emotionsfokussierten Copings verstanden werden Einführung

20 Anders wird in der Religionspsychologie eine Überzeugung von möglicher Vergebung durch ein höheres Wesen (spirituelle Vergebungsprozesse) untersucht. Die positiven Effekte von Vergebung auf das psychische Wohlbefinden (z. B. weniger emotionale und somatisierte depressive Symptomatik, weniger existenzielle Ängste) sind für beide Formen der Vergebung nachweisbar, allerdings deutlich stärker im Fall der interindividuellen Vergebung von Mensch zu Mensch (zusammenfassend in Hood, Hill & Spilka, 2009). Die psychologische Forschung hat erst ab den 1970er / 1980er Jahren begonnen, sich substanziell mit dem Thema»Vergeben«zu beschäftigen. In den verschiedenen Weltreligionen wird das Thema hingegen schon seit Jahrtausenden mit sehr verschiedenen Fokussetzungen betrachtet. Es nimmt in den verschiedenen Religionen jeweils einen ganz eigenen, bedeutenden Stand ein (vgl. Kap. 4.4). Auffallend ist, dass es keine Weltreligion gibt, in der das Vergebungskonzept keine Rolle spielt. Es ist aus unserer Sicht bedeutsam sich die verschiedenen Konnotationen und Standpunkte der Weltreligionen zu diesem Thema zumindest in Grundzügen zu vergegenwärtigen, denn das Verständnis des Klienten wird ggf. stark durch diese Sichtweise beeinflusst. Auf diese Weise kann grundlegenden Missverständnissen vorgebeugt und auf vorhandene Sichtweisen und Standpunkte des Patienten aufgebaut werden. Bevor eine inhaltliche psychotherapeutische Arbeit bezüglich eines Vergebensprozesses begonnen wird, hilft es sich über die religiösen Überzeugungen des Patienten oder Klienten klar zu sein. Auf diese Weise kann angemessen auf die verschiedenen Interpretationen und Vorannahmen gegenüber dem Konzept»Vergebung«eingegangen werden. Der therapeutische Vergebensprozess wird dann inhaltlich klar in einen eigenen Rahmen gesetzt. 1.3 Geschichte und Hintergründe Ein Überblick 19 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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22 2 Strukturen des Vergebens Lundahl und Kollegen (2008) konnten zeigen, dass Vergebensprozesse im Vergleich zu Nichtbehandlung wirksam sind. Sie haben in einer Metaanalyse die Wirksamkeit von verschiedenen Vergebensprozessen untersucht. Sie konnten darlegen, dass sich durch entsprechende Interventionen sowohl das Vergeben an sich als auch positive Emotionen und Selbstwert deutlich verstärkten und negative Emotionen abnahmen. Diese Effekte waren über längere Zeiträume stabil. Außerdem zeigte sich, dass individuelle Programme wirksamer waren, als Gruppeninterventionen. Im Folgenden werden die Grundaufgaben, die im Rahmen solcher Prozesse auftreten, im Überblick erläutert. 2.1 Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen Im Rahmen von Vergebungsprozessen werden in der Regel fünf Phasen oder Aufgaben charakterisiert, die im Rahmen des Prozesses bewältigt werden. Wir sprechen bevorzugt von Aufgaben, da es häufig keinen klaren chronologischen Ablauf des Prozesses gibt. Häufiger springt der Klient zwischen den Phasen hin und her. Aufgabe 1: Erkennen, dass Gefühle des Grolls die weitere freie Entwicklung verhindern Am Anfang ist es sinnvoll, die Folgen des Grolls und der Grollgedanken bewusst werden zu lassen und den Nutzen des Vergebens zu klären. Hierzu gehört auch die Psychoedukation über die Abgrenzung von Vergebung gegenüber den Begriffen: Entschuldigung, Akzeptanz, Versöhnung und Vertrauen in den Täter. Wichtig ist, dass die negativen Auswirkungen von Wut, Schuldbindung, Groll und Scham anerkannt werden. In diesem Rahmen ist sicherzustellen, dass Vergeben keinesfalls eine neue Kontaktaufnahme mit dem Täter bedeuten muss. Es handelt sich um einen intrapsychischen Prozess der Befreiung des Opfers von der Macht des Täters. Er muss von außen nicht einmal bemerkt werden (s. Abschn ). Diese Phase kann relativ umfangreich sein. Vor allem, wenn in rigiden Familienund Sozialstrukturen die Forderung nach Versöhnung / Vergebung und dem Akzeptieren von Entschuldigungen einen großen Raum eingenommen hat. Der Prozess des Vergebens ist erst möglich, wenn dem Vergebenden klar ist, dass es sich um seinen persönlichen Schritt der Befreiung aus der Macht des Alten handelt.! Die Herausforderungen während der ersten Aufgabe für den Klienten bestehen darin, " sich die Folgen von Groll und Wut über eine vergangene Verletzung für das aktuelle und zukünftige Leben bewusst zu machen. 2.1 Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen 21 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

23 " Vergeben klar zu definieren und als einen rein innerpsychischen Prozess zu begreifen, von dem der Täter (zumindest vorerst) nichts erfährt und auch oft niemals etwas erfahren wird. " Vergeben als freie Entscheidung für die eigene Freiheit zu begreifen. Aufgabe 2: Die Auseinandersetzung mit der Realität, d.h. Opfer einer vorsätzlichen (oder billigend in Kauf genommenen) Verletzung zu sein Die erste Aufgabe ist vornehmlich kognitiv ausgerichtet. Ist diese abgeschlossen, beginnt die zweite Aufgabe. Sie beinhaltet schwerpunktmäßig die emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen Verletztheit und mit den eigenen Erwartungen und Ansprüchen. Der erste Schritt ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletztheit. Oft ist die Verletztheit durch den Groll stark überlagert. Zunächst ist es erforderlich, dass der Klient die Größe des Verlustes realisiert. In der Begleitung steht die Validierung des wirklich Geschehenen im Vordergrund:»Ja, es war so schlimm.«vergeben als Prozess ist nur notwendig und sinnvoll, wenn jemand ein Täter einem Opfer schuldhaft Böses (Leid) zugefügt hat. Im Zuge dieses Prozesses kommt der Klient jetzt mit seiner eigenen Perspektive und der Enttäuschung seiner ganz privaten ethischen und moralischen Erwartungen in Kontakt. Dies kann insbesondere in weiterhin bestehenden engen (sowohl familiären als auch betrieblichen) Beziehungen zum Verursacher sehr belastend sein. Hierbei können große Diskrepanzen zwischen den eigenen Erwartungen und der Wirklichkeit zutage treten. Wenn diese Verletzung traumatische Folgen hatte, sollte der Vergebungsprozess durch eine adäquate Trauma-Therapie / Verarbeitung (z. B. durch Brainspotting, Grand (2014)) begleitet werden. Besser ist es jedoch, wenn die Traumaverarbeitung vorher (weitgehend) abgeschlossen wurde.! Vergeben ist kein Ersatz für eine adäquate Bearbeitung von Traumata! Im sozialen Zusammenleben, z. B. mit Ehepartnern, werden Verletzungen gerne bagatellisiert, verleugnet oder verdrängt, da sonst das Zusammenleben zu stark belastet wird. Vergeben ist jedoch nur möglich, wenn anerkannt wird, was wirklich geschehen ist. Dabei werden die bisher»unterdrückten«gefühle von Wut, Groll, Schuld, Scham, Ärger, Angst und Trauer lebendig. Für alle diese Gefühle sollte ausreichend Raum sein. Nachdem die Gefühle durchlebt und validiert sind, ist es hilfreich zu realisieren, wie stark die Selbstachtung und der Selbstwert verletzt worden sind. Vergeben bedeutet unter anderem auch die Wiederherstellung der eigenen Selbstachtung und des eigenen Selbstwertes Strukturen des Vergebens

24 ! Vergeben bedeutet, die Beendigung der Ohnmacht des Opferseins durch den freien Akt der Vergebung. Der Täter kann sich dem nicht entziehen, da er keinen real aktiven Part im Vergebungsprozess übernimmt. Der Vergebende kommt auf diese Weise aus einer Position der Ohnmacht in eine neue Position der Ermächtigung. Während dieses Prozesses kommt es seitens des Opfers sehr häufig zu Erwartungen oder Illusionen in Bezug auf den Verletzer oder Täter, wie» wenn ich ihm jetzt vergebe, wird er sich ändern «. Prinzipiell ist das denkbar und in einigen Fällen möglich, denn eine veränderte Haltung des Opfers kann auch die Beziehungsstruktur verändern. Entsprechende Ansprüche oder feste Erwartungen seitens des Opfers an den Verursacher müssen allerdings als Illusionen anerkannt werden und dem Opfer verdeutlicht werden.! Vergeben bedeutet, das Opfer verändert seine innere Haltung gegenüber dem Täter. Dies muss eben nicht zur Folge haben, dass der Täter sich dem Opfer gegenüber faktisch verändert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, die Erwartungen des Opfers an sich selbst zu klären. Häufig steht hinter dem Bedürfnis zu vergeben ein verdeckter Wunsch nach Verbesserung oder Wiederaufnahme des Kontaktes zum Täter. Es ist wichtig, sehr klar die Grenzen der Fähigkeiten aller beteiligten Parteien aufzuzeigen, das Opfer zu stärken und zu schützen und genügend Zeit für den Vergebensprozess einzuplanen. Eine vorschnelle Erklärung, dass ein Vergebensprozess bereits abgeschlossen sei, wird als Pseudo-Vergebung bezeichnet. Sie zielt oft auf eine (zu) frühzeitige Kontaktaufnahme ab. Der Klient hat die Illusion, dass jetzt alles besser wird, nachdem»ich ja vergeben habe«. Eine Pseudo-Vergebung führt aber nicht selten zur Re-Traumatisierung des Opfers. Um dies deutlich zu machen, hilft ein Bild: Man kann sich das Bewusstsein als eine Anzahl von Scheinwerfern vorstellen, die in einen nächtlichen Fluss (das Unbewusste) leuchten. Wir haben normalerweise fünf bis neun Scheinwerfer zur Verfügung (im Schnitt sind es sieben). Im Zustand des Grolls sind ein oder mehrere Scheinwerfer dauerhaft auf den Verletzer gerichtet und stehen nicht für den restlichen Fluss zur Verfügung. Wird ein Scheinwerfer vom Täter weg an eine andere Stelle des Flusses gerichtet, verändert der Täter zwar sein Verhalten nicht, aber der Vergebende kann seinen Scheinwerfer wieder frei bewegen. Selbstverständlich muss sichergestellt sein, dass nicht plötzlich ein Krokodil den Fluss verlässt, wenn der Scheinwerfer auf eine andere Stelle gerichtet ist. Fazit: Wie bei der Trauma-Therapie ist äußere Sicherheit des Klienten eine Voraussetzung für einen Vergebensprozess. 2.1 Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen 23 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

25 ! Die Herausforderungen während der zweiten Aufgabe für den Klienten bestehen darin, " das Ausmaß der Verletzung zu realisieren. " die Gefühle der Verletztheit wahrzunehmen und eventuell bestehende Verleugnungs- und Vermeidungsmechanismen aufzugeben. " die Auswirkungen der Opferrolle und der zugehörigen Gefühle von Wut, Groll, Schuld und Scham anzuerkennen und die daraus folgenden langfristigen Verletzungen von Selbstachtung und Selbstwert zu realisieren. " gegebenenfalls die eigene Mitverantwortung an der Situation anzuerkennen. Ein weiterer Schritt in dieser Phase besteht in der Auseinandersetzung mit der potenziellen Mitverantwortung des Opfers an der Gesamtsituation. Diese kann gleich Null (z. B. bei unvorhersehbaren Überfällen, kindlichen Missbrauchssituationen, etc.) oder geringfügig sein. Ebenso kann die Mitverantwortung auch größere Teile des Ereigniskomplexes betreffen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das Opfer nach mehrfachem Erwähnen und Ablehnen bestimmter Handlungen irgendwann wider besseren Wissens doch in die betreffende Handlung eingewilligt hat (z. B. um des lieben Friedens willen). Es geht also um die Auseinandersetzung mit der potenziellen Mitverantwortung an der Verletzung. In engen Beziehungen treten oft schon jetzt erste Überlegungen zu einer veränderten Beziehungsgestaltung zum Verletzer auf. Diese können von Trennungsüberlegungen bis zur vermehrten Übernahme von Verantwortung seitens des Opfers reichen. Wenn möglich sollten weitreichende Entscheidungen jedoch noch zurückgestellt werden, bis der Vergebensprozess weiter durchlaufen wurde. In jedem Fall geht es primär erst einmal um den klaren Verzicht auf die Opferrolle. (Vgl. Abschn ).! Das bedeutet, Verzicht " auf alle Nachteile und Unfreiheiten, die in ihren Begrenzungen auch einen gewissen Nutzen beinhalten können (z. B. sicherheitsstiftend über Vorhersagbarkeiten, Verlässlichkeit und über Verantwortungsabgabe), " auf weitere Sekundärgewinne, " auf die psychische, innere Anklage des Täters " und ggf. Veränderung der Darstellung des Täters in der Kommunikation nach außen. Es ist explizit nicht gemeint, dass wegen oder durch einen intrapsychischen Vergebensprozess etwa auf eine ausstehende juristische Auseinandersetzung und ein äußeres Herstellen einer klaren Rechtssituation verzichtet werden sollte oder dürfte. Hier wird 24 2 Strukturen des Vergebens

26 ein klarer Unterschied zwischen dem inneren psychischen Vergebensprozess und der politischen Versöhnungsarbeit, z. B. den Reconciliation-Prozessen in Afrika sichtbar. Teils gegen Ende, teils während der zweiten Prozessphase wendet sich irgendwann der Blick auf die Person des Verletzers. Die explizite Auseinandersetzung mit der Person des Verletzers findet im Rahmen der 3. Aufgabe oder Prozessphase statt: Aufgabe 3: Die Auseinandersetzung mit der Person des Täters Häufig wird der Täter in einer Täter-Opfer-Beziehung vollständig auf seine Täterschaft reduziert. Im Verlauf eines Vergebensprozesses besteht die Aufgabe darin, den Täter wieder als Person mit verschiedenen auch positiven Seiten und Aspekten wahrzunehmen. Bei der Sicht auf den Täter geht es prinzipiell darum, sich in die Position des Täters einzufühlen. Ein indianisches Sprichwort sagt: «Ich kenne eine Person erst, wenn ich einen Monat in ihren Mokassins gelaufen bin.«das Ziel ist, die Sichtweise des Täters im Sinne eines Nachvollziehens zumindest ansatzweise zu verstehen. Verstehen bedeutet aber definitiv nicht, sie zu akzeptieren oder gar gut zu heißen! Ein solches neu gewonnenes Verständnis führt je nach Situation zu unterschiedlichen Erkenntnissen: a) Entweder führt es zu einem vertieften Begreifen der eigenen Mitschuld an der Situation und einer entsprechenden Schuldverteilung. b) Oder es führt zu einem Verstehen, dass es sich nicht um den Prozess der Vergebung, sondern um den Umgang mit unvermeidlichen Fehlern handelt was zu einem Prozess der Akzeptanz und nicht zum Vergeben führen würde. c) Oder es führt zu einem immer tieferen Anerkennen des Umfanges der Tat und der wirklichen Schuld des Täters. Häufig kommt es dadurch erneut zu einer vertieften emotionalen Reaktion. Auch kommt es oft schon jetzt zu einer Einschätzung der Wahrscheinlichkeit (z. B. in engen Beziehungen) oder auch der Unwahrscheinlichkeit (z. B. beim zufälligen Aufenthalt an einem Tatort) einer Wiederholung einer derartigen Tat. Das kann zu einer Verbesserung der Sicherheitssituation des Opfers beitragen. So können beispielsweise Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden, wenn die Akzeptanz besteht, dass sich ein hochaggressiver Partner voraussichtlich nicht ändern wird. In sehr vielen Fällen wird während des Prozesses die Wahrnehmung der eigenen Verletzung intensiviert. Phase zwei und Phase drei sind dabei miteinander verbunden und es kommt häufig zu einem mehrfachen Wechsel zwischen diesen beiden Phasen. Gelingt es dem Opfer, die Sicht des Täters einzunehmen, kann es zu einer dreifachen Befreiung kommen: " Der Verletzte befreit sich selber aus der fixierten Opferrolle. Er erwirbt sich die Freiheit, bewusst auch andere Rollen, sogar die des Täters, einnehmen zu können. (Teilweise macht der Verletzte dabei die Erfahrung, dass er selbst in anderen Situationen analog zum Täter gehandelt hat). 2.1 Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen 25 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

27 " Der Verletzte befreit sich selbst aus der dauerhaften Aufrechterhaltung einer vergangenen Beziehung.»Ja, das ist damals geschehen. Ja es war furchtbar. Ja es ist vorbei. Ja, diese Person hat so gehandelt.»ja, diese Person war (und ist) fähig und ggf. willig, so zu handeln (und ggf. auch erneut so zu handeln).«seitdem sind X Jahre vergangen. Es ist (meine) Geschichte und muss nicht mehr meine Gegenwart sein. " Der Verletzte befreit den Täter aus der Reduktion auf seine Täterschaft. Durch die Veränderung der Perspektive wird der Täter wieder ein Mensch mit vielen Facetten und Aspekten. Eine seiner negativen Facetten ist seine Bereitschaft und Fähigkeit zu verletzen. Allerdings werden bei einem gelungenen Perspektivwechsel weitere Aspekte des Täters erkennbar. Gerade in nahen Beziehungen wird dadurch das System, in dem beide leben, deutlich entlastet. Dieser Aspekt kann speziell nach belastenden Trennungen mit gemeinsamen Kindern und dem zugehörigen erzwungenen Kontakt zum Verletzer sehr hilfreich sein. Durch eine erfolgte Vergebung verbessert sich die Situation des Verletzten in seinem System, da der Kontakt zum Verletzer danach anders erlebt wird. Häufig zeigt sich im Rahmen des Perspektivwechsels auch die Konstellation, die den Täter zur Tat führte. Diese Ahnung eines Verständnisses senkt oft den Grad des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit beim Opfer. Es kann ihn allerdings auch in selteneren Fällen z. B. beim Überfall durch einen unbekannten Täter verstärken. In diesem Fall kann noch einmal eine formale Traumabearbeitung erforderlich werden.! Die Herausforderungen für den Klienten bestehen während der 3. Aufgabe darin, " zu versuchen, sich in die Sicht des Täters einzufühlen. " sich emotional vom Täter abzugrenzen und die reale Schuld des Täters zu erkennen und zu benennen. Stellt sich dabei heraus, dass dem Täter keine reale Schuld zuzuordnen ist, so handelt es sich nicht um einen Vergebensprozess im eigentlichen Sinn. Ggf. bietet es sich an, den Prozess eher in Richtung radikaler Akzeptanz fortzuführen. " sich für die»dreifache Befreiung«durch das Vergeben zu entscheiden: (1) Der Verletzte befreit sich selbst aus der Rolle des Opfers und aus der bisherigen Beziehung. (2) Der Verletzte befreit den Täter aus seiner Rolle, indem er den Verletzer nicht mehr auf die eine Tat reduziert. (3) Der Verletzte befreit ggf. das System aus der Belastung einer gestöten Beziehung zwischen Systemmitgliedern. Nachdem die Position des Täters und die des Opfers sowie der Nutzen der Vergebung voll und ganz erkundet sind, erfolgt der Übergang zu Aufgabe 4. Es handelt sich dabei um die eigentliche Entscheidung, zu vergeben und die negativen Gefühle gegenüber dem Täter loszulassen Strukturen des Vergebens

28 Aufgabe 4: Entscheidung zur Vergebung und zum Loslassen der negativen Gefühle gegenüber dem Täter In dieser Phase wird sehr stark die Doppelnatur des Vergebens sichtbar. Es handelt sich um einen Entscheidungs- und Willensakt, ohne den die Fortsetzung des Prozesses unmöglich ist. Das Opfer muss sich jetzt entscheiden, dem Täter wirklich vergeben zu wollen oder der Prozess endet hier ohne eine Vergebung.! Die Entscheidung zum Vergeben bedeutet, dass der Verletzte jetzt entschieden ist, immer wieder im Sinne eines andauernden Prozesses auf die eingefahrenen Muster der inneren Rollenzuschreibung als Täter und Opfer und auf die entsprechenden»titulierungen«zu verzichten. Gleichzeitig ist eine gelungene Vergebung ein Prozess des immer weiteren Freiwerdens von belastenden Emotionen. Dabei kann das Vergeben primär als Willensakt betrachtet werden, dem (im Sinne einer Top-down-Regulation) auf die Dauer die emotionale Bewältigung folgt. Allein durch einen Akt des Willens ist die Beeinflussung belastender Emotionen jedoch deutlich schwieriger, als durch emotionale Prozesse. Deswegen bietet sich eine zusätzliche emotionale Bearbeitung mithilfe des Modus-Modelles der Schematherapie an (vgl. Kap. 7).! Die Herausforderungen für den Klienten bestehen während der 4. Aufgabe darin, " sich endgültig für eine Vergebung als mögliche Wahl zur Vergangenheitsgestaltung und damit zur Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung zu entscheiden. " sich für die Vergebung als Prozess und Willensakt zu entscheiden und ggf. ein abschließendes Vergebungsritual durchzuführen. " den Umgang mit verbleibenden negativen Gefühlen zu erlernen, ohne den Verletzer wieder als Täter zu definieren und so den Täter-Opfer-Zusammenhang wieder herzustellen. Aufgabe 5: Definition eines neuen Verhältnisses zum Verletzer Zum Abschluss des Vergebensprozesses wird über die weitere Beziehungsgestaltung reflektiert, denn der Akt des Vergebens erfordert die Definition einer neuen Beziehung des Verletzten zum ehemaligen Täter. Sprache erzeugt innere Realität. Es ist hilfreich, ab jetzt nicht mehr vom Täter zu sprechen, sondern die Person mit ihrem realen Namen zu benennen. Dabei kann auch geprüft werden, ob der Klient im inneren Sprachgebrauch abwertende Bezeichnungen für den Verletzer benutzt, die das Täter- Opfer-Verhältnis wieder aufleben lassen könnten. Ein zentraler Punkt besteht in dieser Phase, ähnlich wie bei der Trauma-Therapie, erst einmal in der Sicherung des Selbstschutzes. Bevor in irgendeiner Form über eine Kontaktaufnahme zum Verletzer oder über die Intensivierung des Kontaktes nach- 2.1 Grundstrukturen von psychologischen Vergebensprozessen 27 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

29 gedacht werden kann, sind die Schuldeinsichtsfähigkeit und die Möglichkeit eines veränderten Verhaltens des Verletzers zu klären. Hier wird ein weiterer Unterschied zu den afrikanischen Reconciliation-Prozessen (das sind spezifische politisch-motivierte Versöhnungsprozesse) deutlich. Dort werden Täter und Opfer miteinander in einen strukturierten Austauschprozess gebracht. Das ist im Sinn einer intrapsychischen Vergebensarbeit nicht Teil des Vergebensprozesses. Bei der Diskussion über eine eventuelle weitere Beziehungsgestaltung ist zu berücksichtigen, wie groß die Vertrauensbereitschaft und Fähigkeiten des Verletzten sind. Aber auch die potenzielle Versöhnungsbereitschaft des Systems ist zu eruieren. Viele Versöhnungen enthalten durchaus hohe Risiken.! Eine Versöhnung ist nicht das Ziel des Vergebens, sondern ggf. ein weiterer eigenständiger Vorgang. Das Opfer kann sich nach der Vergebung gesondert entscheiden, falls die Voraussetzung dafür gegeben ist. Die Phase fünf schließt dadurch ab, dass ein klares Zielverhalten gegenüber dem ehemaligen Täter definiert wird. Falls dieser schon länger verstorben oder aus anderen Gründen nicht mehr greifbar ist und nicht mehr real im System des Verletzten weilt, ist das innere Zielverhalten zu dieser Person ebenfalls zu klären. Möglicherweise bietet es sich an, in diesem Zusammenhang eine Aufstellung mit den inneren Anteilen des Klienten unter Berücksichtigung der inneren Repräsentanz des Verletzers durchzuführen.! Die Herausforderungen für den Klienten bestehen während der 5. Aufgabe darin, " eine abschließende realistische innere Bezeichnung für den Verletzer zu finden. " in jedem Fall die eigene Sicherheit zu gewährleisten und die potenziellen Gefahren eines Kontaktes mit dem Verletzer realistisch einzuschätzen (Der Verletzer verändert sich durch die Vergebung, entgegen häufiger Hoffnungen des Verletzten, nicht automatisch). Dazu kann auch gehören, die Schuldeinsichtsfähigkeit des Verletzers für sich selbst zu klären und im Sinne des Selbstschutzes ggf. auf eine (möglicherweise gewünschte) Aussprache zu verzichten. " die eigene Vertrauensbereitschaft zu klären. " falls gewünscht, eine eventuelle Versöhnungsbereitschaft auszuloten und die Chancen und Risiken einer Versöhnung zu klären. Der Klient definiert das eigene zukünftige Zielverhalten und erarbeitet Kriterien zur Beurteilung der neuen Beziehung Strukturen des Vergebens

30 2.2 Andere Vergebensmodelle Neben den psychologischen Vergebensmodellen, gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, die z. T. unterschiedliche Vorannahmen und Glaubenssysteme voraussetzen. Einerseits sind die verschiedenen Ansätze der verfassten Religionen zu berücksichtigen (vgl. Kap. 4.4). Andererseits stammen heute jedoch viele Ansätze aus dem Bereich der Privatreligionen. Derartige Vergebungsprozesse können durchaus wirksam sein. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass Klient und Begleiter die zugrunde liegenden Vorannahmen und den spirituellen Kontext teilen. Sie können auf der anderen Seite extrem verletzend wirken, wenn ein Begleiter angeblich über»das richtige Modell«verfügt und der Klient das»nur noch verstehen muss«. So schreibt z. B. Tipping (2014), der ein besonderes Konzept der radikalen Vergebung vertritt, im Rahmen einer Übung unter anderem: Zitat»Ich bin bereit, das Sterben dieser Person als einen integralen Bestandteil ihrer Lebensweise zu sehen. Der Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes sind Teil des göttlichen Plans und wurden möglicherweise sogar von ihrer Seele gewählt. Ich bin jetzt bereit zu sehen, dass der Tod eine Illusion ist.«(tipping, 2014, S. 230) Überzeugte Vertreter des jeweiligen Systems schützen ihre Überzeugungen teilweise, indem sie Klienten die Schuld für das»nichterfolgen«der Vergebung zuweisen. Ihm wird zusätzlich die Schuld für eine falsche Einstellung zugeschrieben oder unterstellt, er vertraue einfach nicht genug. Klienten, die derartiges erlebt haben, reagieren häufig schon auf das Wort Vergebung ablehnend. Der in diesem Buch dargestellte Vergebensprozess orientiert sich an den wissenschaftlich erforschten, psychologischen Vergebensprozessen und erfordert keine spezifischen spirituellen Vorannahmen. 2.3 Die Erweiterung der Modelle durch den Einsatz schematherapeutischer Modusarbeit Interpersonelles Vergeben bezieht sich auf sozial interaktive, konfliktbelastete Situationen in der Vergangenheit. Jede Interaktion entsteht durch Verhalten aller Beteiligten. Das schließt unbeabsichtigtes oder zufälliges Verhalten ein. Aus diesem Grund ist es ein wichtiger Teil von Vergebensprozessen eigene Anteile sowie Fremdund Außenperspektive der Situation erfahrbar und auf diesem Wege verstehbar und handhabbar zu machen. 2.3 Die Erweiterung der Modelle durch den Einsatz schematherapeutischer Modusarbeit 29 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

31 Darüber hinaus müssen die konfliktaufrechterhaltenden Prozesse wirksam verändert werden. Roediger (2016) zeigt auf, dass die Veränderung von konfliktaufrechterhaltenden, emotionalen Prozessen durch erlebnisorientierte, emotionsfokussierte Vorgehensweisen (z. B. Stühlearbeit, imaginatives Vorgehen) wirksamer verändert werden, als allein durch kognitives Vorgehen. Es hat sich bewährt, diese Perspektiven und Anteile über schemaorientierte Modusarbeit erfahrbar zu machen. Darüber hinaus können Scham-, Wut-, Groll- und Rachegefühle oft deutlich besser verarbeitet werden, wenn die verschiedenen Persönlichkeitsanteile des Opfers, sowie dessen Ziele und Bedürfnisse ausreichend wertgeschätzt und gewürdigt werden. Mithilfe dieser modifizierten Modusarbeit lassen sich Vergebensprozesse systematisch unterstützen. Außerdem vermitteln sie dem Klienten hilfreiche Ansätze, mit eventuell später wieder auftretenden negativen Gefühlen wirksam umgehen zu können. Das schematherapeutische Modusmodell kennt prinzipiell drei zentrale Instanzen: " Den Fitten Erwachsenen, der für die Ressourcenanteile und die erwachsenenkognitiven Entscheidungen verantwortlich ist und dafür die Verantwortung übernimmt. " Die Inneren Elternanteile, auch als Antreiberanteile bezeichnet, die als aggressivfordernde oder strafende Anteile die Auswirkungen negativer Sozialisationsbedingungen darstellen. " Die Inneren Kindanteile, die die emotionale Seite der Persönlichkeit widerspiegeln. Hinzu kommen im vollständigen Modusmodell noch sogenannte Beschützeranteile, die die internen Konflikte nach außen abschirmen. Letztere sind im Rahmen der Vergebensarbeit allerdings meist weniger wichtig und werden hier nicht vertiefend behandelt. Man kann innerhalb dieses Modells davon ausgehen, dass der kognitive Vergebungsprozess ein Werk des»fitten Erwachsenen«ist. Die Ressourcenanteile der Persönlichkeit haben eine sinnvolle Entscheidung für ein gutes Weiterleben getroffen. In vielen Fällen ruft eine solche Entscheidung weitere Anteile auf den Plan: " Einerseits werden die»inneren Eltern«aktiviert, die sich mit Grübelgedanken Gehör verschaffen (z. B.:»Das kannst du dir nicht bieten lassen.so was darfst du dem nicht durchgehen lassen.unrecht gehört bestraft«. Oder auch ängstlicheren Forderungen wie:»der gehört weggesperrt«, Oder aber Beschimpfungen wie:»wie konntest du nur so blöd sein und dich zum Opfer machen lassen, typisch du«. Oder:»Du blöde Kuh, so was kann man doch«, etc.). " Auf der anderen Seite ist mit dem Auftreten kindlicher Anteile zu rechnen, die verletzt und traurig über das Geschehen sind. So können einem Klienten, der eine Kränkung bisher als»bagatelle«abgetan hat, plötzlich die Tränen über das Gesicht laufen. Auf die Frage»Wie alt fühlen Sie sich jetzt gerade?«erhält man dann als Antwort z. B.»Wie fünf!«all diesen Anteilen während eines Vergebensvorganges Rechnung zu tragen, ist die Aufgabe des beschriebenen Prozesses Strukturen des Vergebens

32 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung Die Vorstellungen über die genaue Bedeutung von»vergeben«weichen teils erheblich voneinander ab. Verwandte Begriffe sind sprachlich oft nicht klar voneinander abgegrenzt. Sprachen bestehen formal gesehen aus Informationseinheiten, die uns beispielsweise in Form einzelner Worte entgegentreten. Sie werden nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten (einer sog. Syntax) miteinander in Beziehungen gesetzt. In den Bedeutungen der Worte gibt es größere und kleinere inhaltliche Überschneidungen. So umschließen manche Begriffe einander (vgl. Abb. 3.1a), sind bis zu einem gewissen Grad deckungsgleich (vgl. Abb. 3.1b) oder teilen keine Bedeutungsanteile miteinander (vgl. Abb. 3.1c). Abbildung 3.1 soll in vereinfachter Form einige grundsätzliche Prinzipien der verschiedenen möglichen Beziehungen zwischen sprachlichen Begriffen verdeutlichen (sie erhebt keinen Anspruch auf formalsemantische Korrektheit). c) a) b) Pflanze Pflanze Baum Linde Tier Anemone Pflanze Edelmetalle Abbildung 3.1 Diese Graphik zeigt mögliche Beziehungen zwischen Begriffen Die Zuordnung eines Wortes in eine Kategorie (z. B. Ist das Ding vor mir Pflanze, Tier oder Edelmetall?) erfolgt über den Abgleich von Eigenschaften. Ein Begriff muss eine bestimme Funktion erfüllen, um zu einer Kategorie gehören zu dürfen (z. B. Betreibt es Fotosynthese? Kann es sich selber fortbewegen? Kann es oxidieren? ). In aller Regel müssen eine Vielzahl von Eigenschaften erfüllt werden, um eine Zugehörigkeit eindeutig festzustellen. Eine klare Zuordnung von Begriffen fällt uns deutlich schwerer, " je mehr Eigenschaften verschiedener Kategorien ein Begriff aufweist (z. B. bei der Anemone). " je weniger klar die Eigenschaften eines Begriffs definiert sind (z. B. Was sind die Eigenschaften der Liebe?). " je unschärfer die Eigenschaftsbegriffe selber sind, die zur Verfügung stehen (z. B. angenehm, zufällig, dauerhaft). 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung 31 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

33 Demzufolge ergeben sich mehr Deutungs- und Definitionsspielräume. Vor genau dieser Schwierigkeit steht jeder, der mit Gefühlsbegriffen oder psychischen Phänomenen arbeitet. Die Eigenschaften solcher Begriffe sind oft nicht klar definiert. Die Eigenschaftsbegriffe, die gefunden werden, sind ihrerseits oftmals wieder uneindeutig definiert. Auch für die Begriffe»Vergebung«,»Versöhnung«,»Verzeihen«und»Entschuldigen«, finden wir eine Vielzahl von Deutungsangeboten und Bedeutungsrahmen. Um Missverständnissen nach Möglichkeit vorzubeugen, bieten wir für die einschlägigen in diesem Buch verwendeten Begriffe jeweils eine Erklärung an, um die von uns verwendeten Bedeutungsrahmen darzustellen. 3.1 Entschuldigen Entschuldigung Im eigentlichen Sinne des Wortes ist eine Entschuldigung eine Entfernung von Schuld. Im Sprachgebrauch wurde früher um Entschuldigung gebeten und diese wurde dann (eventuell) vom Geschädigten gewährt. In diesem Sinne kann eine Bitte um Entschuldigung als ein Schritt auf dem Weg zu einer Versöhnung betrachtet werden. Im juristischen Bereich kann sich eine Bitte um Entschuldigung gegebenenfalls auch auf das Strafmaß auswirken. Das löst beim Opfer oft ambivalente Gefühle aus, da dadurch nicht immer erkennbar ist, ob die Entschuldigung ehrlich gemeint ist oder vornehmlich taktischen Überlegungen folgt. In der jüngeren Zeit wird der Entschuldigungsbegriff oft reflexiv eingesetzt.»ich entschuldige mich«oder gerade in der Schule, die eine prägenden Wirkung auf den Sprachgebrauch hat im Sinne des Entschuldigens eines Dritten:»Ich entschuldige mein Kind«. Entschuldigen ist inzwischen ein Begriff, der oft zweischneidige Reaktionen auslöst. Viele haben in der Kindheit erlebt, dass ihre Eltern in Konflikten von ihnen verlangt haben, sich zu entschuldigen:»jetzt entschuldige dich!«. Oder, dass sie in Geschwisterkonflikten zu hören bekamen:»dein Bruder (oder deine Schwester) hat sich aber entschuldigt, jetzt muss es auch vorbei sein, vertragt euch wieder, nun ist es wieder gut.«derartige Rituale dienen dem elterlichen Anspruch auf schnelle Wiederherstellung von Ruhe im System. Sie haben mit dem ursprünglichen Sinn von Entschuldigung wenig zu tun. Daher verwenden wir diesen Begriff im Buch nicht. 3.2 Verzeihen Verzeihung Nach Kämmerer (2011) wurden Vergeben und Verzeihen bis etwa ins 18. Jahrhundert gleichbedeutend verwendet. Danach wurde Verzeihen mehr im höfisch-rechtlichen Sinn und mit einer geringeren Sinntiefe eingesetzt. Heute wird»um Verzeihung bitten«oft ähnlich wie»um Entschuldigung bitten«verwendet. Wir definieren»um Verzeihung bitten«als den zwischenmenschlichen Akt der aktiven Anerkennung negativer Handlungsfolgen (und gegebenenfalls auch verübtem Unrecht) durch den Verursacher gegenüber dem Opfer. Damit diese Bitte um Ver Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

34 zeihung vom Opfer angemessen wahrgenommen werden kann, ist es erforderlich, dass der Verursacher die Folgen der Tat (oder des Geschehens) und die Auswirkungen auf das Opfer ehrlich bedauert. Die Intention einer derartigen Bitte ist die Wiederherstellung der Beziehung. Es ist in bestimmten Fällen möglich, dass der Verursacher die Tat als solche nicht als verwerflich betrachtet, während er die Folgen durchaus bedauert. Ebenso ist nicht jeder Täter in der Lage, ehrliches Bedauern zu empfinden und auszudrücken. Da ehrliches Verzeihen auf der Seite des Opfers einen Vergebensprozess erfordert, verwenden wir den Begriff»verzeihen«auf der Seite des Opfers nicht, sondern sprechen von vergeben. 3.3 Vergeben Vergebung Vergeben wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich definiert. McCullough und Kollegen (2000) haben unterschiedliche Definitionen untersucht. Als gemeinsames Merkmal arbeiteten sie heraus, dass Vergebung eine intraindividuelle, prosoziale Veränderung im Hinblick auf eine Person ist, welche als Verletzer wahrgenommen wird. Diese Definition lässt sich auf interindividuelles Vergeben (im Folgenden einfach als Vergeben bezeichnet) und auf intraindividuelles Vergeben auch als Selbstvergeben bezeichnet anwenden. Beide Vorgänge sind rein intrapsychisch Interpersonelles Vergeben Interpersonelle Vergebungsdefinitionen beinhalten häufig, " dass die Verletzung ein Unrecht darstellt, das immer Unrecht bleiben wird. " dass die vergebende Person ein moralisches Anrecht auf negative Emotionen gegenüber dem Verletzer hat, auf das sie aufgrund ihrer eigenen Entscheidung verzichtet. " dass die verletzte Person auf Rache und Vergeltung verzichtet. Diese Aspekte betreffen die moralische Definition des Schuldbegriffes und die psychischen Auswirkungen. Sie sagen hingegen nichts über die ökonomischen Aspekte aus. In sehr vielen Fällen kommt es jedoch im Rahmen einer Vergebung auch zum Verzicht auf die ökonomischen Ausgleichsforderungen. Häufig ist dies (vor allem bei Schäden, die nicht wieder gutzumachen sind) der einzige Weg für das Opfer wieder in Frieden leben zu können. Der Verzicht auf den ökonomischen Schuldausgleich ist jedoch keine zwingende Voraussetzung für das Vergeben und auch keine notwendige Folge davon. Vergeben bedeutet für das Opfer auch: " Aufgeben der Opferrolle (Verzicht auf Definitionsmacht, Entlassung des Täters aus der Reduktion auf die Täterrolle und Verzicht auf eventuelle Opferprivilegien) " Vergangenheit vergangen sein lassen " Verantwortung übernehmen Freiheit finden 3.3 Vergeben Vergebung 33 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

35 Darüber hinaus kann Vergebung auch ein spiritueller / religiöser Akt sein. Wichtig ist, dass das Opfer den Prozess des Vergebens als eine mögliche Wahl der Vergangenheitsbewältigung begreift. Es ist eine Möglichkeit, schwierige Aspekte der Vergangenheit abzuschließen und somit auch im Sinne der Gestaltpsychologie gestaltend zu beenden. Diese Form der Vergangenheitsgestaltung hat weitreichende Einwirkung auf die Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung, die weitgehend befreit von den Aspekten der Vergangenheit gelebt werden können. Die Aufmerksamkeit wird vor einer Vergebung immer wieder auf das alte Geschehen gerichtet. Vergeben bedeutet, die Verbitterung und den Groll zu beenden und die Vergangenheit vergangen zu lassen. Damit enden auch unbewusste Wiederholungen und Projektionen. Die Aufmerksamkeit wird von der Vergangenheit, der Tat und dem Geschehen um die Tat herum, weggelenkt. So entsteht die Möglichkeit, den Aufmerksamkeitsfokus auf das zu richten, was jetzt ist und in Zukunft möglich und wünschenswert sein wird. Vergebung bedeutet in die eigene Freiheit zu finden aber auch, die Verantwortung für ein gutes Weiterleben zu übernehmen. Es bedeutet Verzicht auf die Opferrolle mit all den Ansprüchen (berechtigt oder gefühlt), die diese Rolle mit sich bringt. Dem Täter gegenüber eine prosozialere innere Haltung entwickeln Was bedeutet Vergeben? Psychische Entwicklung des Vergebenden zu mehr innerer Freiheit Rein intrapsychisches Geschehen Entwicklung einer (psychologischen) Tugend Freier Willensakt mit positiven emotionalen Folgen Entwicklung und Beibehalten einer realistischen Tatbeurteilung Entschiedenes Beibehalten der getroffenen Entscheidungen Ggf. eine religiöse Handlung bzw. Haltung Schaffen einer Voraussetzung zur weiteren Beziehungsgestaltung (z. B. Beendigung oder Versöhnung,...) Loslassen von Rache, Vergeltungsansprüchen und Groll Abbildung 3.2 zeigt wesentliche Bedeutungsaspekte eines Vergebensprozesses (Figur: Anatoly Maslennikov, Fotolia) 34 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

36 Im Vergebensprozess verändert sich nach McCullough und Kollegen (2000) der Vergebende und nicht derjenige, der den Schaden verursacht hat. Vergeben ist demnach ein intrapsychischer Akt. Vergeben hat in dem Moment, wo es im System thematisiert wird, systemische Auswirkungen. Daher ist es sinnvoll, dass dieser Prozess im System nur dann angesprochen wird, wenn der Täter um Verzeihung gebeten hat. Schlimmstenfalls kann die aktive und nicht erbetene Mitteilung»Ich habe dir vergeben«im System eine Aggression darstellen, die eine neue Spirale der Eskalation zur Folge haben kann. Mit derartigen Phänomenen ist besonders zu rechnen, wenn: " Täter und Opfer in einer gemeinsamen Inszenierung des Geschehens verhaftet sind, " es kein gemeinsames Narrativ des Tatherganges im System gibt, " oder das System ein Unrecht aktiv verleugnet oder als abgeschlossen ansieht Intrapersonelles Vergeben Selbstvergeben Sich selbst zu vergeben kann als eigenes Konzept unabhängig davon betrachtet werden, ob eine Person vorher selbst zum Opfer geworden ist oder nicht. Hall und Fincham (2005) haben die Unterschiede zwischen inter- und intrapsychischem Vergeben näher beschrieben. Sie sind in der folgenden Abbildung 3.3 dargestellt. Inhalte Empathie mit dem Tatopfer bewirkt... Das Vergeben erfolgt... Versöhnung... Vermeidungsverhalten ist bezogen auf... Fokus von Strafwunsch bzw. Wohlwollen Selbstvergeben (intrapersonell) Verhalten, Gedanken, Wünsche, Gefühle Erschwerung des Selbstvergebens eingeschränkt oder uneingeschränkt mit dem Selbst immer erforderlich schuldbezogene Auslöser (z. B. Tatopfer, Situationen, Gedanken,...) Der Täter hier also das eigene Ich Vergeben (interpersonell) Verhalten Förderung des Vergebens uneingeschränkt mit dem Täter möglich aber nicht erforderlich den Täter Der Täter hier also die andere Person Abbildung 3.3 zeigt die wichtigsten Unterschiede zwischen intrapersonellem und interpersonellem Vergeben (Figur: Alexey Afanasyev, Fotolia) 3.3 Vergeben Vergebung 35 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

37 Selbstvergeben weist verschiedene moralische Fragestellungen auf, wie. z. B. die Frage der Gerechtigkeit gegenüber dem Opfer und die Frage nach der Wiederholung negativer Handlungen. Das Konzept des Selbstvergebens beinhaltet die Problematik, dass aufgrund von erfolgter Selbstvergebung gemäß Wohl und Thompson (2011) teilweise schädigende oder selbstschädigende Verhaltensweisen weiter fortgesetzt werden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es zu einer sogenannten Pseudoselbstvergebung gekommen ist. Die Anteile der real vorhandenen Schuld des Klienten werden von diesem nicht anerkannt bzw. die Verantwortung dafür wird nicht dauerhaft übernommen. Diese Themen werden ausführlich bei Wohl und McLaughlin (2014) diskutiert, die ein spezifisches Modell zur Vorhersage möglicher Wirkungen des Selbstvergebens darstellen. Auf der anderen Seite konnte gezeigt werden, dass Selbstvergeben gemäß verschiedener Studien viele positive Aspekte aufweist: " Reduktion von Schamgefühlen " verbesserte psychische Gesundheit " verbesserte physische Gesundheit " verringerte Selbstbestrafungsneigung " Verbesserung der Fähigkeiten zur Verhaltensänderung aufgrund eines verbesserten Selbstwertgefühls (z. B. bei Alkoholikern (Scherer et al., 2011), bei Essstörungen (Watson et al., 2012), bei Prokrastination (Wohl, Pychyl & Bennett, 2010). Diese positiven Aspekte sind abhängig davon, dass der Selbstvergebende " seine reale Schuld am Geschehen uneingeschränkt anerkennt, " die Verantwortung für die Folgen seiner schuldhaften Handlung übernimmt, " bereit ist, das Opfer (potenziell) um Verzeihung zu bitten, " eine Wiederholung oder Fortsetzung der Tathandlungen unterlassen will. Die Selbstvergebung wird durch das eventuelle Verzeihen des Opfers unterstützt. Auch das Gewähren von Verzeihung durch eine höhere Macht erleichtert den Prozess des Selbstvergebens.! Das Selbstvergeben ist abgeschlossen, wenn der Klient sich wieder als Mensch mit Chancen, Stärken und Fehlern, Risiken und Herausforderungen wahrnehmen kann. Das bedeutet auch, dass er trotz der Tat und der anerkannten Schuld einen positiven Umgang mit sich selber pflegt. Bei der Betreuung von Soldaten nach Kampfhandlungen stellt das Thema Selbstvergebung neben der Behandlung der Kriegstraumatisierungen eine besondere Herausforderung dar, die häufig viel Erfahrung erfordert (vgl. auch Brock & Lettini, 2012) Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

38 3.4 Versöhnen Versöhnung Ursprünglich stammt der Begriff der Versöhnung aus dem juristischen Kontext. Er bezeichnete eine Wiedergutmachung durch eine Ersatzleistung (ahd. suona, Sühne, Wiedergutmachung eines Schadens durch Ausgleich). Heute kann im Sinne von Schlenke (2005) Versöhnung als Vorgang der Wiederherstellung einer schuldhaft zerrütteten Beziehung verstanden werden. Diese erfolgt zwischen Personen durch beiderseitige Umwendung. Dadurch wird eine erneute interpersonale Anerkennung und auch Gemeinschaft möglich. Versöhnung ist also immer interpersonell. Sie erfolgt, wenn überhaupt in der Folge einer Vergebung ist aber nicht zwingend erforderlich. Versöhnung per se ist das Ergebnis eines eigenen Prozesses. Versöhnungsprozesse können sehr unterschiedlich verlaufen und werden oft erst im Nachhinein am erlebten Ergebnis als solche erkannt (vgl. van de Loo, 2009). Politische Reconciliation-Prozesse haben Versöhnung als Ziel. Versöhnung ist nicht das Thema dieses Buches Vor und Nachteile des Vergebens Was ist Vergeben nicht? Häufige Irrtümer über Vergeben Wie bereits dargestellt gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über den Begriff des Vergebens. Oft gehen diese mit Vorannahmen einher, was im Laufe dieses Prozesses alles zu tun oder zu unterlassen ist. Derartige Vorannahmen und Missverständnisse können den Vergebensprozess deutlich hemmen. Deswegen stellen wir im Überblick dar, was vergeben unter psychologischen Aspekten nicht bedeutet. Im Verlauf des Prozesses ist es sehr hilfreich, mit dem Klienten zu klären, welche Vorstellungen er selber vom Vergeben hat. Dabei lassen sich auch entsprechende Missverständnisse ausräumen. Missverständnis 1: Irgendwann muss Schluss mit dem Thema sein man muss doch einfach irgendwann mal vergeben! Dass ein Opfer vergeben»muss«ist nicht erzwingbar und auch nicht einforderbar, wie ein Recht. Wenn ein Opfer sich dazu entscheidet, zu vergeben, so ist dies immer eine freiwillige, aktive Handlung des Geschädigten. Gerade in Gruppen, in denen Vergeben zu den moralischen Systemanforderungen gehört, wird oft von einem Opfer gefordert, dass es nahezu sofort vergibt. Wenn das den Geschädigten psychisch nicht möglich ist, entsteht teilweise zusätzlicher erschwerender sozialer Druck durch die Gruppe, welcher einen Vergebensprozess behindern oder unmöglich machen kann. (Das bedeutet nicht, dass der Anspruch des Vergebens nicht per se sinnvoll sein kann. Vergebensbereitschaft wird wie bereits erwähnt in nahezu allen Gesellschaften als Charakterstärke oder Tugend betrachtet) Vor und Nachteile des Vergebens 37 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

39 Die Tat zu entschuldigen Bagatellisieren, wie schlimm es war Leugnen / Vergessen / Verdrängen Alles ist wie früher Moralisch überlegen zu sein Passiv zu bleiben In jedem Fall auf Ausgleich zu verzichten Ein einforderbares Recht Sich vertragen oder versöhnen zu müssen Wieder Kontakt haben zu müssen Sich trennen zu müssen Wiederholungen zu dulden oder zuzulassen Sofort»schmerzfrei«zu sein Abbildung 3.4 zeigt im Überblick wesentliche Irrtümer, die das Vergeben betreffen und die Klienten teilweise daran hindern, Vergebensprozesse in Erwägung zu ziehen (Figuren: Orlando Florin Rosu, Fotolia) Missverständnis 2: Vergeben bedeutet,»nicht mehr so ein Gewese aus der Geschichte zu machen«und die Sache»einfach links liegen zu lassen«. Vergeben bedeutet keinesfalls zu leugnen, wie schlimm die auslösende Situation für den Betroffenen war. Es bedeutet nicht, den Verlust oder die (körperliche und / oder moralische) Verletzung und die damit verbundenen Schmerzen kleinzureden, zu leugnen oder zu bagatellisieren. Im Gegenteil, während eines Vergebungsprozesses werden die Verdrängungen und Verleugnung aufgehoben, sodass der volle Umfang der Verletzung und des Verlustes erkennbar und spürbar werden. Die entsprechenden zugehörigen Emotionen müssen im Verlauf des Vergebensprozesses verarbeitet werden. Mahatma Gandhi soll gesagt haben:»die Schwachen können nie verzeihen. Die Verzeihung ist ein Attribut der Starken.«Missverständnis 3: Vergeben bedeutet, nicht mehr an die»sache«zu denken und die ganze»geschichte«zu vergessen. Vergebung bedeutet, wie gerade beschrieben, weder Verdrängung noch Verleugnung noch ein Vergessen des Verlustes oder der Tat. Im Gegenteil, Vergebung bedeutet vollständig anzuerkennen, was wirklich geschehen ist und was wirklich verloren wurde. Im Anschluss muss ein adäquater Umgang gefunden werden, der weiteres persönliches Wachstum ermöglicht. Auf diese Weise 38 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

40 wird das Steckenbleiben im Groll beendet. Insofern ist ein Vergebungsprozess häufig Bestandteil von posttraumatischem Wachstum. Bei Enright (2006) ist die Suche nach Entwicklungsaspekten durch die Verletzung ein Teil des Prozesses. Nach einem erfolgreich durchlaufenen Vergebensprozess treten die Situation und der Verursacher im inneren Erleben des Geschädigten immer mehr zurück. Sie werden zu einem von diversen schwierigen und / oder traurigen abgeschlossenen Lebensereignissen. Erinnerungen (und auch zugehörige Gefühle) treten zwar manchmal auf, häufig aber nur noch, wenn entsprechende Auslöser daran erinnern. Missverständnis 4: Ich dachte, du hast vergeben. Warum vertragt ihr euch dann nicht wieder? Die Erwartung, dass nach dem erfolgten Vergeben «alles wieder wie früher ist«oder zu mindestens sein müsste, ist ein häufiges und schwerwiegendes Missverständnis. Es ist eine Verwechslung von Vergeben und Versöhnen. Aus verständlichen Gründen drängen gerade die entsprechenden Systeme (Familie und Betriebe) häufiger darauf, dass nach dem Vergeben doch alles wie früher sein müsste und die Betreffenden wieder Kontakt haben. Hierbei wird übersehen, dass zum Vergebensprozess dazugehört, gegen Ende die Beziehung zum Verursacher neu zu definieren. Dabei kann es zu einer Versöhnung kommen. Genauso gut ist aber auch eine endgültige Beendigung des Kontaktes oder jede mögliche Zwischenform denkbar. Berthold Brecht hat dazu ein sehr eindrückliches Gedicht geschrieben, das auch vielen Klienten hilft: Zitat Der abgerissene Strick 1 Kann wieder geknotet werden, er hält wieder, aber er ist zerrissen. Vielleicht begegnen wir uns wieder, aber da, wo du mich verlassen hast, triffst du mich nicht wieder. Missverständnis 5:»Wenn Du jetzt vergeben hast, darfst Du aber nichts mehr fordern!«vergeben bedeutet nicht notwendigerweise, eine juristische Position aufzugeben. Einen Täter wieder vollständig als ganzen Menschen zu sehen und nicht mehr als Täter auf seine Tat zu reduzieren, bedeutet nicht zwangsläufig, sachlich auf Ansprüche zu verzichten. In vielen Fällen würde der Verzicht auf derartige Ansprüche das Opfer gegebenenfalls noch weiter ins Unrecht setzen, zum Beispiel in Unterhaltssituationen oder bei 1 (»Der abgerissene Strick«, aus: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 15: Gedichte 5. Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1993.) 3.5. Vor und Nachteile des Vergebens 39 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

41 Schadensersatzansprüchen. Ein Verzicht auf einen systemischen Ausgleich kann unter Umständen neue Schwierigkeiten bereiten, wenn er im System neue Ungleichgewichte schafft (vgl. hierzu 3.6 und 3.7 systemische Aspekte des Ausgleichs). Missverständnis 6:»Der Klügere gibt nach der Idiot kann ja nichts dafür, dass er so blöd ist!«vergebung bedeutet nicht, dass jemand gut oder moralisch überlegen ist. Es hat nichts mit moralischer Überlegenheit oder Gut-Sein zu tun, sich in einen Prozess zu begeben, der in persönliche Freiheit und zu persönlichem Wachstum führt. Hierzu gehört auch das vorschnelle Entschuldigen einer Tat,»weil der andere ja nichts dafür kann«. Dies ist eine täterbezogene Überlegenheitshaltung, die den Verletzten nicht aus dem Täterbezug befreit. In Systemen kann diese Haltung eine neue systemische Schuld darstellen, weil auf den eigentlich erforderlichen Ausgleich immer wieder verzichtet wird. Der Täter erhält kein Feedback und wird zu weiteren Taten ermutigt. Diese können sein»systemisches Konto«immer mehr belasten und ihn schlussendlich selber zum Opfer machen. Derartige Situationen treten zum Beispiel auf, wenn sich einer der beiden Partner in einer Beziehung permanent beleidigen oder dominieren lässt. Bei Personen, die sich weil sie sich zähneknirschend zurückgehalten haben und nicht zugeschlagen haben überlegen und gut fühlen, bewirken Vergebungsprozesse häufig, dass diese Haltung sich auflöst. Sowohl der moralisch Überlegene als auch Opfer zu sein, sind täterbezogene Haltungen. Vergeben hingegen zielt auf die Auflösung des Täterbezuges und eine Neuausrichtung auf den eigenen Weg ab Der Nutzen des Vergebens Vergeben dient dazu, stark belastete Situation abzuschließen, in welcher der Klient das Opfer einer anderen Person oder Gruppe geworden ist. Das hat für den Klienten und sein System diverse positive Auswirkungen! Ein geringer Wunsch zu vergeben hängt oftmals stark mit einem feindseligen Erleben zusammen. Das geht nachweislich mit einem erhöhten Risiko von kardiovaskulären Belastungsreaktionen und der Entwicklung eines erhöhten Blutdrucks einher. Vergeben bietet folgende Vorteile: " Täter und Opfer werden aus den reduzierenden Rollen entlassen. Es kommt zur Wiederherstellung der Würde von Täter und Opfer als ganzheitliche Persönlichkeiten mit vielen Facetten und Schichten, eigenen Biografien, Verletzungen und Einschränkungen. " Die Beendigung potenziell belastender Beziehungen in denen Täter und Opfer sich aufgrund ihrer automatischen Rolleneinnahme jeweils immer wieder aufs Neue verletzen. Gleichzeitig entsteht die Freiheit, Beziehungen endgültig abzuschließen oder neu zu strukturieren. Häufig ist das Abschließen einer alten (Partner-)Beziehung die Voraussetzung für eine neue Beziehung Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

42 Befreiung aus der Opferrolle Verbesserung der Beziehung zum Täter möglich Somatische Heilungen möglich Erhöhung der Leistungsfähigkeit in Teams Aufmerksamkeitsfokus weitet sich Entlastung in Systemen (Familien, Betrieben...) Mehr positive Gefühle glücklicheres Leben Selbstwirksamkeit steigt Selbstwert steigt Neue Lebensziele möglich Abschließende Beendigung der Beziehung zum Täter möglich z. T. verbesserter Umgang mit Habits Abbildung 3.5 zeigt im Überblick wichtige Aspekte, die Vergeben zu einer sinnvollen Option im Umgang mit belasteten Beziehungen machen (Figur: Anatoly Maslennikov, Fotolia) " Vergebensbereitschaft senkt unterschiedliche somatische Beschwerden, wie das Herzinfarktrisiko oder auch chronische Rückenschmerzen (Carson et al., 2005). " Nach dem Vergeben sinkt die Anzahl der erlebten negativen Gefühle und die Anzahl der erlebten positiven Gefühle nimmt zu. Rumination und Depression sind nach einem Vergeben geringer (Ingersoll-Dayton et al., 2010). Die ehemaligen Opfer werden glücklicher. " Das Selbstwirksamkeitserleben des Opfers / Vergebenden steigt. Der Vergebende ist in der Lage, die Macht der Rollendefinition dafür zu nutzen, sich selbst wieder als freien Mensch zu sehen. Er erfährt, dass er in der Lage ist, diesen Vergebungsprozess für sich selbst zu durchleben und abzuschließen. " Der Selbstwert des Vergebenden steigt. " Die Angst im Gesamtsystem sinkt, da der dauerhaft schwelende Konflikt, in den teilweise immer mehr Menschen einbezogen werden, einen Abschluss findet. In Betrieben ermöglicht das Vergeben eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit. So ist gemäß Bright und Exline (2011) die organisationsbezogene Vergebungsfähigkeit ein Schlüsselfaktor für einen neuen Erfolg nach Personalabbaumaßnahmen Vor und Nachteile des Vergebens 41 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

43 Die Kosten des Vergebens und der Nutzen des Nicht-Vergebens Viele therapeutische Modelle gehen heute davon aus, dass jedes Verhalten einer Person in ihrem System sinnvoll und teilweise notwendig ist. Somit ist davon auszugehen, dass am Festhalten des Grolls und somit am Nichtvergeben diverse Vorteile hängen können. Diese Vorteile sind dem Opfer in aller Regel nicht bewusst oder stehen jedenfalls nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit. Bevor sich jemand endgültig dafür entscheidet, zu vergeben und somit auf diese Vorteile zu verzichten ist es sinnvoll sie sich einmal zu vergegenwärtigen. Im Folgenden sind einige der häufigsten Vorteile aufgeführt. Spricht man mit Klienten über derartige Themen, so fallen ihnen häufig noch weitere spezifische eigene Gewinne ein. Diese Vorteile und Gewinne, die die Klienten aus dem Festhalten des Grollens haben, können ihrerseits wieder zu Schuldgefühlen gegenüber dem System führen. Auch das sollte im Verlauf des weiteren Prozesses berücksichtigt werden. Es gibt verschiedene den Lebensvollzug betreffende Aspekte, wieso das Nicht-Vergeben durchaus von Vorteil ist und oft eine Schutzfunktion übernehmen kann, bzw. Vergeben nicht sinnvoll erscheint oder sogar mit deutlichen Nachteilen behaftet sein kann. Vermeiden von Gefühlen (z.b. Wut, Scham, Trauer) Macht der Rollendefinition Erhalt der Hoffnung auf Entschuldigung Ablenkung von eigenen Anteilen Erhalt von (Schuld-) Bindungen Gefühl von»gerechter«bestrafung durch Groll Gefühlter Verrat an weiteren Opfern Begründung von Ansprüchen Erhalt von Lebensmustern (Vermeintlicher) Schutz vor neuen Angriffen Abbildung 3.6 zeigt im Überblick wichtige Aspekte, die ein Nicht-Vergeben psychisch sinnvoll erscheinen lassen können (Figur: Anatoly Maslennikov, Fotolia) 42 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

44 So kann z. B. Vergeben vor oder während eines juristischen Prozesses dazu führen, dass sich die Haltungen und Emotionen des Opfers so weit verändern, dass das Gericht die Schwere der Verletzung des Opfers nach dessen Aussage nicht mehr in vollem Umfang wahrnimmt. Gegebenenfalls wird der Täter dann freigesprochen. Sind neben dem Hauptopfer noch weitere Personen als Opfer mitbetroffen, kann es zu einer neuen Schulddynamik innerhalb der Opfergruppen oder auch zu mangelndem Schutz anderer Opfer kommen. Derartige Probleme wurden beispielsweise aus Missbrauchs- und Sorgerechtsprozessen berichtet (mündliche Mitteilungen). Weitere Aspekte, die Nicht-Vergeben psychisch sinnvoll erscheinen lassen Gefühle unterdrücken. Groll und Schuldzuweisungen können Hilflosigkeit, Angst, Beschämung und Trauer abmildern Vergeben erfordert, sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen. Moralische oder körperliche Verletzungen führen oft gleichzeitig zu verschiedenen intensiven Emotionen. Das wird als sehr unangenehm empfunden und die Wahrnehmung dieser Emotionen wird oft vermieden. Die Hinwendung zur Person des Täters und ein entsprechender Groll auf diesen senken die Intensität der eigenen Hilflosigkeit, Wut, Beschämung und Trauer. Hoffnung auf Wiedergutmachung. In verletzenden Systemen kann das Aufrechterhalten von Groll adaptiv sein und die Hoffnung auf Verbesserung aufrechterhalten. In manchen familiären oder betrieblichen Kontexten ist es für das Opfer psychisch ökonomischer, die negativen, schädigenden Grollgefühle beizubehalten. Das tritt vor allem auf, wenn diese nicht die Intensität der angemessenen Verlustemotionen annehmen, beispielsweise, wenn das Opfer die Erfahrung gemacht hat, mit den adaptiven Emotionen (Zorn, Trauer, massiven Ängsten vor Wiederholungen, etc.) allein gelassen oder bloß gestellt zu werden. In diesem Fall ist es psychisch wesentlich ökonomischer, die sekundären Emotionen (wie Verletztheit, Groll etc.) aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus kann beim Opfer die Hoffnung bestehen bleiben, dass der Täter oder das System die Situation anerkennen und eine Wiedergutmachung einleiten (was i. d. R. nicht eintritt). Schutz oder Sicherheit. Das Opfer kann durch seine Rolle Schutz und Sicherheit durch die Retter im System erhalten. Vergeben könnte diesen Schutz aufheben und es könnte zu erneuter Schädigung des Opfers kommen. Die Haltung des Nicht-Vergebens erzeugt ein permanentes (latentes) Fokussieren der Aufmerksamkeit innerhalb eines Systems auf die Konfliktquelle. Falls das Opfer dabei eine gewisse Unterstützung oder einen Schutz erfährt, kann es sinnvoller sein, Opfer zu bleiben. Vor allem, wenn der Täter weiterhin präsent ist und wieder aktiv werden könnte. Der Verlust der Opferrolle könnte bedeuten, dass sich gleiche oder ähnliche Vorgänge, wie bei der früheren Schädigung, wiederholen. Für das Opfer bedeutet vergeben im Empfinden dann einen Verlust seines Schutzes durch die fehlende Aufmerksamkeit (Wachsamkeit) wichtiger Systemmitglieder. Dies gilt sowohl in familiären, als auch in betrieblichen Systemen, in denen Verantwortliche entsprechende Verstöße dulden und die chronische Verletzung der systemischen Ordnung akzeptieren oder gar fördern. In derartigen Fällen stellt Nicht-Vergeben und regelmäßiges Thematisieren der Opfersituation den höchst Vor und Nachteile des Vergebens 43 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

45 möglichen Schutz für das Opfer in diesem System dar. Der wahre Täter in solchen Systemen ist häufig nicht derjenige, der die Verletzung ausführt, sondern der Systemverantwortliche. Der Täter ist die mitverantwortlich handelnde Person im taterlaubenden System. Der Systemverantwortliche kommt seiner Pflicht zur Schaffung von Sicherheit und von systemischem Ausgleich zur Unterbindung (z. B. von Mobbing und Übergriffen) nicht nach. Es kann sogar sein, dass er diese bewusst vernachlässigt oder sich gar missbräuchlich verdeckt daran beteiligt. Mitschuld schmälern. Groll und Schuldzuweisungen an den Täter können vom möglichen eigenen Anteil am Geschehen ablenken. Die entwickelten (berechtigten oder unberechtigten) Schuldzuweisungen bei der Beschäftigung mit dem Täter und seiner Tat vermindern die eigentlich notwendige Auseinandersetzung mit der ganzen Situation. Besonders bei einer empfundenen (oder zugeschriebenen) eigenen Mitschuld am Geschehen können diese Schuldzuweisungen für das Opfer entlastend sein. Durch die nicht erfolgte Klärung und ggf. erforderliche Verantwortungsübernahme folgt häufig auch ein Verharren in einer (erlernten) Hilflosigkeit und in der fixierten Opferrolle. Das kann gerade in betrieblichen Situationen eine Verminderung der Zumutbarkeit (z. B. von Mehrarbeit) bedeuten, da das Opfer geschwächt ist und es ihm sowieso schon so schlecht geht. Ein hoher Sekundärgewinn ist auch die permanente Bindung der Aufmerksamkeit des Systems durch das Opfer. Ansprüche geltend machen. Schuldzuweisungen können Ansprüche begründen, die nach dem Vergeben wegfallen könnten. Schuldzuweisung berechtigt oder unberechtigt können dazu führen, dass das Opfer in seinem System Zuwendung oder Schonung erhält. So können ihm zum Beispiel Aufgaben oder Besuche und Kontakte nicht zugemutet werden. Insbesondere, wenn das Opfer seinem Groll im System regelmäßig Luft macht, entwickelt das gesamte System entsprechende Reaktionen. Das Opfer selber empfindet seine Ansprüche dabei i. d. R. als völlig berechtigt. Beispiel Eine junge Frau hatte eine unangenehme Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter, in der diese ihr die Vernachlässigung und Ausbeutung ihres Sohnes vorwarf. Sie empfand die alte Dame als übergriffig und aggressiv-herrisch und ihren Mann als Verräter, da er sich nicht einmischte und für keine der Frauen Partei ergriff. Wütend und türenknallend verließ die junge Frau den Raum. Sie nahm sich als völlig hilfloses Opfer wahr. Jede Erwähnung der Schwiegermutter führte von da an zu Hause zu intensiven Kommentaren über die alte Dame, denen der Ehemann keinen Einhalt gebot. Bald sprachen auch die beiden Kinder nur noch vom Drachen. Selbstverständlich fühlte sich die Schwiegertochter die gesamte Zeit als Opfer. Ihr Mann begann, die Besuche bei seinen Eltern mit Dienstreisen zu verbinden um seine Frau, die erneut schwanger war, zu schonen Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

46 Die bis dahin ritualisierten Besuche zu Festtagen fielen aus, da der jungen Frau übel wurde, sobald ein Besuch anstand. Nach der Geburt des nächsten Kindes wünschte sich der junge Vater den Besuch seiner Eltern und wurde daraufhin von seiner Frau wüst beschimpft. Die Schwiegermutter, die von dieser Auseinandersetzung erfuhr, verzichtete nun von sich aus auf den Besuch, weil sie»ihren Jungen«nicht noch mehr belasten wollte. Vergabe von Rollen. Das Opfer müsste die Macht der Rollendefinition aufgeben (und beendet damit meist das sog. Dramadreieck). Ohne die Umstände in diesem Beispiel näher zu kennen, lässt sich feststellen, dass die junge Frau sich selber als Opfer und ihre Schwiegermutter als Täterin definiert hat. Sie erhielt damit die Macht der Rollendefinition im System. Dabei ist noch nicht einmal ausschlaggebend, was wirklich in der Situation vorgefallen ist. Relevant ist, dass sich die junge Frau in ihrem moralischen System verletzt fühlt und als Opfer wahrnimmt davon muss die Schwiegermutter nicht einmal Kenntnis haben. Die anderen Rollen im System orientieren sich um diese beiden. Sind erst einmal ein Opfer und ein Täter vorhanden, so findet sich schnell ein Retter für das Opfer in diesem Falle ist es der Ehemann, der anfangs zu seiner Frau hält, indem er nicht verlangt, dass sie mit der Schwiegermutter in Kontakt tritt. Nach der Geburt des dritten Kindes wird der junge Vater aus Sicht der jungen Frau zu einem weiteren Täter, denn er wünscht sich die Anwesenheit seiner Mutter (die an erster Stelle als Täterin definiert worden war). Durch die reaktive Aggression seiner Frau wird wiederum der Mann zum Opfer. Seine Mutter hilft ihm durch ihren Verzicht und wird zu seiner Retterin. Das Dramadreieck hat begonnen zu rotieren. Vergibt die Schwiegertochter, wird aus dem Drachen wieder die Schwiegermutter bzw. die Oma. Die Rollen lösen sich auf und das Dramadreieck verschwindet. Allerdings hat die junge Frau im System einen deutlichen Machtverlust (und somit einen Nachteil). Das Opfer hat im Dramadreieck die Macht der Rollendefinition. Indem es sich als Opfer definiert, definiert es den Täter als Täter, und schon gesellen sich Retter zum Opfer dazu. Die Retter laufen ihrerseits wieder Gefahr, durch die Aggression gegen den Täter das Dramadreieck in Bewegung zu setzen und selber zum Opfer zu werden. Trauerarbeit umgehen. Eine mögliche Schuldbindung wird aufgehoben und der intensivierte Bindungsverlust müsste gegebenenfalls im Rahmen von (bisher teilweise vermiedener) Trauerarbeit verarbeitet werden. Ein weiterer Aspekt im Umgang mit Schuld ist, dass eine Bindung erzeugt wird, die sonst möglicherweise nicht vorhanden wäre. Diese Bindung entsteht unabhängig von der Schuldzuweisung an einen Täter oder einer Selbstzuweisung von Schuld (zum Beispiel bei der Bindung an verflossene Liebhaber und Ehepartner). Die Selbstzuweisung von Schuld im Zusammenhang mit Todesfällen kann ebenfalls eine Bindung zum Verstorbenen aufrechterhalten. Der Ablösungsprozess in der Trauer wird nach Paul (2010) oft erst nach der Aufhebung dieser Schuldbindung möglich. Dieses Phänomen tritt nicht selten auf, wenn Patienten 3.5. Vor und Nachteile des Vergebens 45 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

47 in Kliniken versterben. Angehörige weisen den Ärzten teilweise eine (Mit-)Schuld am Tod der geliebten Person zu, die meist nicht durch medizinische Tatsachen gedeckt ist. Das kann zu langwierigen Prozessen über vermeintliche Kunstfehler führen, die von den Angehörigen verloren werden. Dies führt nicht selten zu einer weiteren hohen Belastung der Angehörigen, da sie sich noch einmal verraten und verlassen vorkommen. Pflegen Angehörige den Patienten selber, sind Selbstbezichtigungen aufgrund angeblicher unterlassener Hilfe im Todesfall häufig. So wird das Eintreten des Todes, während der Angehörige den Raum kurz verlassen hat, oft als schuldhaft erlebt. Moralische Überlegenheit. Das Opfer kann sich gegenüber dem Täter als moralisch besser betrachten und müsste beim Vergeben auf diesen (narzisstischen) Gewinn verzichten. Darüber hinaus kann ein Nicht-Vergeben dem Opfer immer wieder Gelegenheit geben, die moralische Schwäche des Täters regelmäßig dokumentieren zu können. Reaktiv kann es dadurch zu einer empfundenen moralischen Überlegenheit kommen. Infolgedessen führt dies zu einer (unbewussten) Selbstaufwertung, auf die das Opfer nicht verzichten möchte. Dies schlägt sich oft in dauerhaft eingesetzten, abwertenden Bezeichnungen für den Täter (oder in der Nichtbenennung) nieder dabei reicht schon eine entsprechende Betonung aus (»ach Der«). Diese Karte wird u. a. in politischen Auseinandersetzungen auf unterschiedlichen Ebenen regelhaft gespielt. Bestrafung und Rache. Zum Nicht-Vergeben gehört häufig ein Gefühl der berechtigten Rache und Bestrafung des Täters. Das Aufgeben von Rache kann als absolute Ungerechtigkeit empfunden werden und als Verlust jeglichen Anspruchs auf Ausgleich. Häufig empfindet das Opfer die Idee des Vergebens als absolut ungerecht, da der Täter erneut ungerechtfertigt etwas erhält das Geschenk der Vergebung. In manchen Fällen betrachtet das Opfer die regelmäßige Beschimpfung und Beschuldigung des Täters und seine daraus folgende Beschädigung im System als Teil von dessen gerechter Bestrafung, die ihm andere nicht zukommen lassen. Dann wird aus dem Nicht-Vergeben eine gewisse Genugtuung gezogen. Gerade, wenn das Opfer in solchen Fällen (zum Beispiel aus religiösen Gründen) aktiv zum Vergeben gedrängt wird, kann sich dessen Groll sogar steigern und auf weitere Personen übergehen. Exkurs In bestimmten religiösen Kreisen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen besteht die Tendenz, von Opfern zu verlangen, Verletzungen umgehend zu vergeben, ggf. auch ohne eine eventuelle Traumatisierung vorher adäquat zu behandeln. Dadurch wird das Opfer nicht selten ein zweites Mal erneut zum Opfer. Der psychische Prozess, der von ihm verlangt wird, überfordert das Opfer. Gleichzeitig ist das Vergeben die Voraussetzung zur weiteren Zugehörigkeit zur Gruppe. Auch die Forderung» wenn du nur endlich vergeben würdest, würde es uns allen viel besser gehen «führt manchmal sogar in psychische Katastrophen. Derartige negative Doublebinds sollten unbedingt vermieden werden Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

48 Explizit sei darauf hingewiesen, dass einige (z. B. religiös gebundene) Personen eine hohe Vergebungsfähigkeit aufweisen können. Sie sind teilweise in der Lage, auch schwerwiegende Verletzungen spontan zu vergeben. Wenn sie hinterher keine Anzeichen von Groll mehr aufweisen, wäre es kontraproduktiv, von dritter Seite her an der erfolgten Vergebung zu zweifeln. Loyalitätsanspruch. Vergeben kann auch den Verrat an einem anderen Opfer bedeuten und deswegen aus Loyalität unterlassen werden. Vergeben kann als Verrat gegenüber einem geschädigten Dritten empfunden werden. Wenn in Systemen mehrere Personen Opfer desselben Täters geworden sind, so kann es vorkommen, dass ein Opfer ein Vergeben gegenüber dem Täter als Verrat an den anderen Opfern empfindet. Vergeben wird erst möglich, wenn andere Opfer das System verlassen haben. Beispiel In einer Klinik wurden eine Klientin und mehrere Kollegen regelmäßig von einem Vorgesetzten massiv schikaniert. Im Laufe eines Umstrukturierungsprozesses erhielt der Vorgesetzte eine andere (für ihn geeignetere) Aufgabe, sodass die Belastung für das Team endete. Die Klientin erklärte im Coaching, dass sie wisse, dass sie vergeben müsse um wieder frei arbeiten zu können, da sie den ehemaligen Vorgesetzten noch täglich auf dem Klinikgelände traf. Gleichzeitig drückte sie ihre Befürchtung aus, dass dann die Beziehung zu einer älteren Kollegin (die sehr unter dem Vorgesetzten gelitten hatte) massiv belastet würde. Nachdem die ältere Kollegin ein halbes Jahr später in den Ruhestand gegangen war, erklärte die Klientin, dass sie dem ehemaligen Vorgesetzten nun problemlos habe vergeben können, da sie damit niemanden mehr verraten würde. Ihre Stressbelastung sank in der Folge und ihre Arbeitszufriedenheit stieg deutlich an. Eigene Identität. Groll und Hass können zu persistierenden Lebensmustern geworden sein und werden vom Opfer als Teil der Identität betrachtet. Bleiben Schuldzuweisungen lange bestehen, kann das permanente Suchen von Schuld zur Gewohnheit und die Überzeugung von Täter-Opfer-Zusammenhängen zum grundlegenden Lebensmuster werden. Das Opfer klassifiziert immer mehr Situationen als Täter-Opfer- Beziehungen und erlebt sich immer stärker als permanentes Opfer. Dabei wird jegliche Form der Verantwortungsübernahme abgelehnt. Hierbei handelt es sich nicht um klassische Vergebensprozesse, sondern eher um die Behandlung komplexer Persönlichkeitsstörungen. Psychischer Nutzen bedeutet nicht, dass der Klient nicht vergeben will! Vieles bis jetzt Beschriebene und auch Folgende, scheint allein das Opfer zum Verantwortlichen zu machen, weshalb es noch in seiner Opferrolle steckt. Eine derartige Sicht würde die Tatsachen vollständig verkehren. Das Opfer hat Schreckliches oder Schlimmes erlebt, und muss mit dieser Situation fertig werden. Je 3.5. Vor und Nachteile des Vergebens 47 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

49 nach persönlicher Resilienz, also den Fähigkeiten und Möglichkeiten mit schwierigen Situationen umzugehen, wird es unterschiedlich lange dauern bis das Opfer überhaupt in der Lage ist, sich über einen Vergebungsprozess Gedanken zu machen. Dazu ist es ggf. erforderlich, bei schweren Traumatisierungen zuerst eine suffiziente Traumatherapie durchzuführen, ehe über Vergebung nachgedacht wird. Dennoch ist das Aufrechterhalten von Groll psychisch aufwendig. Es ist davon auszugehen, dass es für das Individuum einen irgendwie gearteten Nutzen haben wird. Auf diesen Nutzen lässt sich viel leichter verzichten, wenn er bewusst verstanden wird, wertgeschätzt und in einen angemessenen Rahmen gesetzt werden kann. Klienten den Nutzen des Nicht-Vergebens anbieten. Vergeben und damit das Verlassen der Opferrolle ist ein psychischer Reifungsschritt. Die beschriebenen»nebenwirkungen der Opferrolle«sind sekundäre Gewinne dieser Rolle und nicht primäre Funktionen. Diese Dynamik einem Opfer vor Augen zu führen ist nur dann verantwortungsvoll, wenn auf Opferseite bereits eine prinzipielle Bereitschaft und Fähigkeit gegeben ist, über eine eventuelle Vergebung nachzudenken. Den Nutzen des Nicht-Vergebens bzw. den Nutzen des Beibehaltens des Grolls anzusprechen, ist in zwei Situationen sinnvoll: " im Rahmen der Vorstellung der Möglichkeit des Vergebens " im Verlaufe eines Vergebensprozesses, den der Klient von sich aus angestoßen oder gewählt hat In beiden Fällen ist es sinnvoll den Klienten erst einmal ein weites Feld von Möglichkeiten anzubieten, wieso das Festhalten am alten Groll durchaus sinnvoll (gewesen) sein kann: Wording»Die Idee zu Vergeben fühlt sich oft erst mal wie eine sehr zweischneidige Sache an. Manche Leute finden es einfach total ungerecht, dass ein so bedeutsames Thema plötzlich und einfach vorbei sein soll. Andere haben große Angst, dass das eine Erlaubnis für den Täter bedeuten würde, sich wieder so zu verhalten. Manchmal ist es auch so, dass man als Opfer durchaus gewisse Vorteile hat (zum Beispiel muss man die»böse Schwiegermutter«nicht besuchen, oder zu bestimmten Freunden nicht mitgehen). Manchmal ist es auch so, dass man selber nicht ganz unschuldig an der Situation ist und die Ahnung da ist, dass man das dann ja auch mal anschauen könnte. Oder sie hoffen z. T. noch nach Jahren, dass der Täter das Unrecht endlich einsieht und sich mal entschuldigt und es gibt noch viele andere Gründe. In jedem Fall ist es aber so, dass Vergeben eine ziemlich zuverlässige Möglichkeit ist, den ganzen Groll und Stress hinter sich zu lassen und dass es einem damit auf Dauer körperlich und seelisch viel besser geht. Unbewusst wissen die meisten Leute das auch, denn Vergeben-Können ist in allen Kulturen eine Tugend. Wenn jemand es nicht tut, hat er jedoch normalerweise richtig gute Gründe dafür und vielleicht haben Sie ja auch schon jetzt ein paar Ideen dazu?«48 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

50 Häufiger Nutzen des Nichtvergebens: " Angst vor der Gefahr, dass die Bedrohung vergessen wird " Angst vor der Gefahr, dass das System Wiederholung dulden wird " Die Erfahrung, dass der Systemverantwortliche seine Pflicht zu Schaffung systemischen Ausgleichs missachtet " Begründung von Ansprüchen (berechtigt oder gefühlt) " Bindung von Aufmerksamkeit an das Opfer " Macht der Rollendefinition im System durch das Opfer " Möglichkeit zur chronisch-persistierenden moralischen Abwertung des Täters " Reaktivierung der negativen Systemsicht auf den Täter als gerecht empfundene Bestrafung " Vermeiden von»üblen«gefühlen (z. B. Wut, Scham, Trauer) " Schuldbindung ist auch Bindung Erhalt von Bindungen " Gewohnheit, Überzeugung, Lebensmuster 3.6 Systemische Aspekte im Zusammenhang mit Vergebungsprozessen Alle Menschen leben in Systemen. Systeme weisen aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte unterschiedliche Generationsebenen auf. Dies wird als»normal«empfunden. Die Mitglieder der höheren Generationsebenen haben gegenüber denen der niedrigeren Ebene eine Versorgungs-, Sorgfalts- und Fürsorgepflicht. Daraus resultieren einige unbewusst als selbstverständlich empfundene Regeln. Wird gegen diese Regeln verstoßen, entstehen im System systematische Schuldgefühle, die sich emotional nicht von anderen Schuldgefühlen unterscheiden lassen. Diese unerklärlichen Schuldgefühle werden von Klienten oft als»wahrheit«empfunden und können dann Einfluss auf Vergebensprozesse haben. Zwei häufige Situationen werden hier dargestellt: " Wenn ein Systemmitglied massiv gegen seine Verpflichtungen verstößt, wird das im System als systemische Schuld empfunden (ohne, dass dabei eine moralische Schuld entstehen muss). Im System wird jedoch der Erhalt des Gesamtsystems in der Regel als wichtiger empfunden, als die Gesundheit und Integrität einzelner Mitglieder. Das hat zur Folge, dass manche Systeme die Verletzungen einzelner Mitglieder tolerieren, um das Gesamtsystem aufrechtzuerhalten. Gegebenenfalls einigt sich sogar das System darauf, sämtliche Schuld im System auf ein Mitglied zu projizieren. Es entsteht ein sogenannter Sündenbock. Teilweise ist diese Person auch (bewusst oder unbewusst) nicht bereit, sich auf Vergebensprozesse einzulassen, weil dadurch das System derart in Ungleichgewicht geraten würde, dass es insgesamt gefährdet wäre (Worthington & Sandage, 2016). " Wenn ein Mitglied der höheren Systemebene nicht in der Lage ist seine Rolle wahrzunehmen und seine Aufgaben zu erfüllen, kommen ihm oft Mitglieder der unteren Systemebene zu Hilfe. Beispielsweise organisieren Kinder von Alkoholikern und psychisch Kranken häufig das gesamte Familienleben und erhalten eine 3.6 Systemische Aspekte im Zusammenhang mit Vergebungsprozessen 49 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

51 Normalität aufrecht. In derartigen Fällen spricht man von Parentifizierung (Worthington & Sandage, 2016). Eine vergleichbare Situation ist häufig in der Nachkriegsgeneration aufgetreten. Junge Personen wurden Opfer schwerer Kriegstraumatisierungen, die sie nicht verarbeiten konnten. Oft haben diese als Eltern eines ihrer Kinder»auserwählt«um immer wieder (zum Teil mit detaillierten Einzelheiten) die erlebte Gräuel zu schildern. Diese Kinder gaben sich alle Mühe, ihren Eltern zu helfen, was sich als unmöglich erwies. Oft fühlten sie sich als Kinder schuldig. In der Pubertät begann ein Teil der betroffenen Kinder den Eltern die Schuld für die Weitergabe ihrer Traumatisierung zuzuweisen und diese somit als Täter zu definieren. Damit bekam der Jugendliche einen Opferstatus und somit wie bereits erwähnt im System eine gewisse Definitionsmacht der Rollen. Parentifizierte Klienten suchen durchaus häufiger Vergebensprozesse, um mit ihren Eltern ins Reine zu kommen. Da es sich jedoch nicht um ein moralisches Vergehen handelt, sondern um eine Systemstörung (Parentifitzierung), entsteht häufig die Situation, dass der Klient am Ende des Vergebensprozesses nur begrenzt Entlastung findet. Dann können systemische Interventionen zu einer deutlichen Stabilisierung des Klienten beitragen. Eine derartige Intervention ist im Folgenden exemplarisch dargestellt: Beispiel Ein Mann musste sich bereits als kleines Kind immer wieder die intensiven, bildreichen Schilderungen der Kriegs- und Fluchterlebnisse seines Vaters anhören. Der Vater selber war zum Zeitpunkt dieser Kriegserlebnisse noch ein Jugendlicher. Er war schwer traumatisiert und während der Erzählungen dissoziierte er häufig. Dann nahm er seinen Sohn oft nicht mehr wahr und wurde teilweise auch sehr laut. Der Junge war mit dieser Situation vollständig überfordert und verängstigt. In der Pubertät wandte der Sohn sich von den Eltern ab. Zum Zeitpunkt der Intervention waren die Eltern bereits im Seniorenalter. Es war abzusehen, dass der Sohn für die Betreuung der Eltern verantwortlich sein würde. Der Mann wollte das auch. Er war aber der Ansicht, dass er das nur mit Anstand tun könne, wenn er vergeben habe. Er hatte bereits mehrere Versuche mittels Selbsthilfeliteratur unternommen, um vergeben zu können. Jedoch ergaben alle nicht die gewünschte Entlastung. Aufgrund seiner Vorbereitungen verfügte er unter anderem bereits über eine umfangreiche Anklageliste. Im Rahmen einer systemischen Imagination wurde der Mann seinem imaginativen Vater gegenübergestellt. Er erhielt real ein sehr schweres und großes Buch in die Hände, in dem sich die Anklageschrift fand. Der Sohn übergab imaginativ seinem Vater die gesamten Lasten, die er die ganzen Jahre für den Vater getragen hatte. Er legte diese Lasten vor dem imaginativen Vater nieder und erklärte, dass er 50 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

52 diese Lasten teils erhalten und teils aktiv genommen habe. Im Anschluss sagte er, dass er all diese Lasten jetzt zurückgebe. Anschließend legte er das Buch nieder. Er erklärte dem Vater, dass er ihn und sein Schicksal achte und dass»der Vater der Vater sei«und er sein Sohn. Diese gesamte Imagination war sehr emotional. Danach erklärte der Sohn spontan, dass er dem Vater einen Dankesbrief schreiben wolle, für alles was neben den schweren Belastungen gut in seiner Kindheit und Jugend gewesen war. Der Sohn besuchte später den Vater und bat ihn (real) um seinen Segen. Anschließend entwickelte sich eine gute Beziehung zwischen Vater und Sohn. Der Sohn begleitete seinen Vater bis zu dessen Tod. Solche und ähnliche systemische Störungen treten häufiger auf, wenn gegen die grundlegenden systemischen Regeln verstoßen wird. Im Folgenden findet sich ein Überblick über die systemischen Grundregeln. Systeme unterliegen Ordnungen, die einigen grundlegenden Prinzipien folgen. Ganz grob beschreiben diese Ordnungsprinzipien, wer zum System gehört, wer dort welche Rangposition einnehmen sollte, wer ggf. aufsteigen darf und wer (und unter welchen Umständen) das System verlassen darf. Diese Grundregeln entsprechen unbewussten Erwartungen, die darin begründet sind, dass jeder Mensch in ein familienähnliches System hineingeboren wurde und dessen Strukturen und Regeln als selbstverständlich erlebt. Werden diese Prinzipien verletzt, kommt es zu Dissonanzen, die als unklares Störungsgefühl erlebt werden. Gleichzeitig entsteht ein Bedürfnis nach Ausgleich und gefühlter Wiederherstellung einer intakten systemischen Ordnung. Unterbleibt dieses, so treten teilweise systemische Schuldgefühle auf, bzw. werden bei den Verantwortlichen Schuldgefühle erwartet. Sie weisen ähnliche Gefühlsqualitäten auf, wie Schuldgefühle, die aufgrund einer moralischen Verfehlung entstanden sind. Sie haben aber andere Ursachen. So entwickeln z. B. jüngere Geschwister, die ihre Eltern pflegen und von diesen in vielen Dingen ins Vertrauen gezogen werden, häufiger Schuldgefühle gegenüber ihren älteren Geschwistern. Dabei haben sie sich nichts»zuschulden kommen lassen«. Allerdings ist die systemische Reihenfolge innerhalb der Geschwister gestört. Das jüngere Kind hat in der Familie durch sein Wissen eine andere systemische Position erhalten,»die sich falsch anfühlt«. Die allgemeinen systemischen Grundregeln sind im Folgenden kurz dargestellt: Systemisches Grundbedürfnis " In Systemen gibt es ein»systemisches Grundbedürfnis«, das die real existierenden systemischen Fakten anerkennt und nicht verleugnet oder verschwiegen werden. Systemische Fakten in diesem Sinne betreffen die Einhaltung bzw. die Verstöße gegen die folgenden Ordnungsprinzipien. Systemische Ordnungsprinzipien " Anerkennung der Zugehörigkeit: Alle Mitglieder, die einmal zu einem System gehört haben, sind diesem System dauerhaft zugehörig. Wird diese Zugehörigkeit 3.6 Systemische Aspekte im Zusammenhang mit Vergebungsprozessen 51 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

53 eines Systemmitglieds verleugnet, so können bei anderen Mitgliedern Schuldgefühle auftreten. " Anerkennung der Systemebenen und der Reihenfolge des Systemeintritts: In Systemen gibt es unterschiedliche Zugehörigkeitsebenen, die mit der systemischen Funktion der jeweiligen Systemmitglieder zu tun haben. In Familien sind diese zum Beispiel die Ebene der Großeltern, die der Eltern, die der Kinder, der Enkel. Innerhalb der Ebene treten die Mitglieder nacheinander in das System ein. Die Dauer ihrer Zugehörigkeit bedingt bestimmte systemische Rechte. Werden diese Rechte nicht geachtet oder verletzt, können ebenfalls Schuldgefühle entstehen. Eine Sondersituation entsteht, wenn sich von einem größeren System kleinere neue Systeme abspalten (beispielsweise, wenn Kinder eigene Familien gründen). Diese neuen Systeme brauchen erst einmal Schutz und müssen sich von ihren Muttersystemen abgrenzen. Gleichzeitig sind aber die Systemmitglieder im alten System weiter zugehörig. Derartige Untersysteme können auch entstehen, wenn einige Mitglieder gemeinsam in einer einmaligen Sondersituation sind (z. B. beim Überleben eines Unfalls o. ä. oder beim gemeinsamen Bestehen einer schwierigen Herausforderung, z. B. einer Überschwemmung mit Verlust der Wohnmöglichkeit, ). Für Klienten, die gleichzeitig als Mitglieder in zwei aufeinander bezogenen Systemen leben, treten daher nicht selten Dilemmata auf, in denen ein Klient gegenüber dem einen oder anderen System Schuldgefühle entwickelt. " Anerkennung von Einsatz und Hierarchie: Mitglieder in Systemen haben eine hierarchische Stellung, die von ihnen eine bestimmte Leistung verlangt. Von Eltern wird beispielsweise verlangt, dass sie ihre kleinen Kinder versorgen, von Chefs, dass sie ihre Teams führen. Hierbei bringen sie eine Leistung, die ihrer hierarchischen Position entspricht. Verweigern Sie die entsprechende Leistung, so wird es von anderen Mitgliedern des Systems als schuldhaft erlebt. Andererseits kann es geschehen, dass ein Mitglied des Systems deutlich mehr Einsatz zeigt, als seiner hierarchischen Position entspricht. So kann zum Beispiel eines von mehreren Kindern alleine für die Pflege der alten Eltern zuständig sein. Wird dieser Einsatz nicht angemessen gewürdigt, können systemische Schuldgefühle entstehen. " Anerkennung von Leistungen und Fähigkeiten: Während Einsatz die Investitionen von Lebenszeit und Lebenskraft betrachtet, liegt bei Leistung der Fokus auf dem erzielten Ergebnis. Damit ist Leistung eng mit den Fähigkeiten verknüpft. Systemisch betrachtet ist Einsatz höherwertig als Leistung. Aber wird Leistung nicht angemessen gewürdigt, oder gar anderen Systemmitgliedern zugeschrieben, so treten systemische Schuldzusammenhänge auf. Ein weiterer systemischer Aspekt, der zum Auftreten von Schuldgefühlen führen kann, ist das grundsätzliche Vorhandensein derartige Gefühle innerhalb des Systems. So fühlen sich Kinder aus späteren Generationen teilweise schuldig, obwohl sie keine klare Beschreibung der zugrunde liegenden Ursachen angeben können. Oder sie fühlen sich für Taten ihrer Angehörigen schuldig, für die sie faktisch selbst keinerlei Verant Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

54 wortung haben: Bowen (2004) beschreibt dieses Phänomen im Rahmen des»undifferentiated Family Ego Mass«Konzeptes. Es gibt keine Systeme, in denen immer alle Prinzipien eingehalten werden. Daher ist das Auftreten von systemischen Schuldgefühlen durchaus nicht selten. Es ist hilfreich, wenn der Begleiter diese Art der Verletzungen im Blick behält. Eine Bearbeitung systemischer Schuldgefühle erfolgt nicht über Vergebensprozesse, sondern über reale oder rituelle systemische Ausgleichsinterventionen. Hierzu eignen sich unter anderem unterschiedliche Formen der Einpersonen-Systemaufstellung, systemische Strukturaufstellungen und weitere systemische Interventionen. Da es sich hierbei nicht um Vergebensprozesse handelt, sei auf die einschlägige Literatur verwiesen (z. B. De Philipp (2012), Daimler et al. (2013)). 3.7 Systemischer Ausgleich und systemische Ausgleichsprinzipien Im Rahmen von Verletzungen und Kränkungen entsteht neben den Bedürfnissen nach Rache und Strafe die den ethisch-moralischen Aspekt betreffen auch ein Bedürfnis nach Ausgleich, das den systemischen und den ökonomischen Aspekt mit einbezieht. Im Rahmen von Vergebensprozessen muss gegebenenfalls auf beide Aspekte verzichtet werden. Insbesondere ist dies der Fall, wenn unwiederbringliche Verluste aufgetreten sind. Dennoch ist wie bereits gesagt ein Verzicht auf materielle Ausgleichsleistungen nicht zwingend erforderlich, um vergeben zu können. In Anlehnung an Buber (1958) und Boszormenyi-Nagy & Spark (2006), die Schuld als Ausgleichsbedürfnis betrachten, hat Varga von Kibed (in Daimler et al. 2013) diverse Prinzipien des Ausgleichs in Systemen zusammenfassend beschrieben. Werden diese Prinzipien eingehalten, entsteht ein Gefühl der Entlastung. Wird aber gegen diese Prinzipien verstoßen, entsteht ein zusätzliches Gefühl von Verletzung, Kränkung und Schuld. Im Zusammenhang mit Vergebensprozessen sind drei dieser Prinzipien besonders relevant: Das Grundprinzip der Anerkennung und Leistung der Ausgleichsverpflichtung Zwischen einem realen Schadensausgleich (zum Beispiel durch die Zahlung einer Versicherungssumme) und der Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung besteht ein großer Unterschied. Für ein Opfer ist es häufig extrem relevant, dass der Täter anerkennt, wie groß der Verlust / die Kränkung des Opfers war und dass er eine Verpflichtung gegenüber dem Opfer hat. Das drückt sich insbesondere in dem Wunsch nach Entschuldigung aus, den viele Opfer anfangs als Vorbedingung für ein Vergeben- Können empfinden. Im Rahmen von Vergebensprozessen ist es häufig ein schmerzhafter Schritt der Akzeptanz, wenn das Opfer anerkennt, dass der Täter eine Anerkennung einer Aus- 3.7 Systemischer Ausgleich und systemische Ausgleichsprinzipien 53 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

55 gleichsverpflichtung dauerhaft verneint, ablehnt oder leugnet (vielleicht sogar, obwohl Ausgleichsleistungen erfolgt sind).! Reiner Schadensersatz ist keine Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung und wirkt sogar trennend. Am Ende eines Vergebensprozesses kann gerade das jedoch im Sinne einer weiteren Abgrenzung sogar erwünscht sein. Beispiel Der reiche Ex-Partner einer nicht besonders begüterten Klientin hat im Zorn eine sehr wertvolle chinesische Porzellanvase ihrer Urgroßmutter zerstört. Im Rahmen einer Vergebensarbeit kann sich die Klientin von ihrem Groll lösen und auch ihre eigenen Anteile am Geschehen anerkennen. Dennoch hat sie einen massiven wirtschaftlichen Schaden erlitten und macht ihn geltend. Der Ex-Partner lässt eine Schätzung durchführen und zahlt den entsprechenden Betrag ohne Kommentar auf den Cent genau. Die Klientin kommentiert das mit der Formulierung»Vor dem Vergeben hätte ich mich darüber geärgert, jetzt bin ich froh darüber, dass es eine äußere sachliche Bewertung und wirklich genau diese Summe gibt und es keine Diskussion mehr darum geben kann.«ebenso, wie reiner Schadensersatz ohne Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung (und somit der Situation des Opfers) Beziehungen stark belastet und trennend wirkt, wirkt die Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung ohne nachfolgenden Schadensersatz als zusätzliche Verletzung Das Recht des Schuldners auf Mahnung Wenn eine Verletzung / Kränkung in einem System auftritt, in denen die Beziehung zwischen Täter und Opfer weiter besteht, so hat das Opfer auch unter bestimmten Umständen eine gewisse Pflicht, die Täter auf den Schaden hinzuweisen und Ausgleich zu fordern. In vielen Systemen unterbleibt das»um des lieben Friedens willen«. Einerseits erhält der Verursacher auf diese Weise keine Rückmeldung gegebenenfalls kann er davon ausgehen, dass sein Verhalten akzeptiert wurde. Andererseits verursacht der Groll im Opfer oft eine Eskalation. Beispielsweise informiert das Opfer Dritte über die vorgefallenen»tatsachen«. Oder die ständige Beschäftigung mit dem Thema verursacht, dass der Groll im Verhältnis zur Tat immer größer wird. Es kommt häufig zu einer Fixierung auf das Negative, die zur selektiven Wahrnehmung immer weiterer Vergehen des Täters führt. Für Klienten lässt sich dieses Verhalten oft gut mit dem Bild des»emotionalen Rabattmarkenklebens«verdeutlichen. Es wird unbemerkt, 54 3 Was bedeutet es, zu vergeben? Definition und Abgrenzung

56 »eine Marke nach der anderen«gesammelt. Wenn das»heft dann voll ist,«erfolgt plötzlich und unerwartet die Abrechnung. In bestimmten Fällen kann das dazu führen, dass es im Endeffekt sogar zu einer Schuldumkehr kommt und das Opfer innerhalb des Systems zum Täter wird »Verzinsung«der Schuld Wenn das Opfer davon ausgehen kann, dass dem Täter sein Fehlverhalten bekannt war, (dieser also Schuld auf sich geladen hat) steigt der Groll des Opfers und dessen Erwartung an die Größe der Ausgleichsleistung. Es gibt für systemische Störungen viele Interventionen. Eine generalisierte hypnosystemische Intervention (Verstrickungen lösen) findet sich im Arbeitsmaterial (s. AB 1). Vielfältige systemische Interventionen, die den Rahmen eines einfachen Vergebensprozesses oftmals übersteigen, finden sich in der einschlägigen Literatur (z. B. Daimler et al. (2013), v. Schlippe, A. & Schweitzer, J. (2012)). 3.7 Systemischer Ausgleich und systemische Ausgleichsprinzipien 55 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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58 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit 4.1 Was ist (moralische) Schuld? Was kann im engeren Sinne vergeben werden und was nicht? Martin Buber ist einer der ersten, der das Thema reale Schuld im Unterschied zu Schuldgefühlen im Zusammenhang mit Psychotherapie näher beleuchtet hat. In einer Vorlesung im April 1957 zeigte er einige grundlegende Überlegungen zu Schuldgefühlen, Schuld und deren unterschiedlichen Ebenen auf. Diese Ausführungen stellen in unterschiedlichen systemischen Ansätzen bis heute eine Basis für die Betrachtung systemischer Ausgleichsprozesse dar. Sie können als Grundlage für die allgemeine Betrachtung im Rahmen von Vergebensprozessen angesehen werden (Daimler et al., 2013). Diesen allgemeinen Grundüberlegungen zur Schuldbetrachtung und den von Buber vorgeschlagenen Zuständigkeiten und Grenzen folgt auch dieses Buch. Buber führt aus:»jeder Mensch steht in einem objektiven Verhältnis zu anderen, die Gesamtheit dieser Verhältnisse konstituiert sein Leben als ein am Sein der Welt faktisch teilnehmendes, ja sie ist es, die ihm überhaupt erst ermöglicht, seine Umwelt zur Welt zu erweitern; sie ist sein Anteil an der menschlichen Seinsordnung. Der Anteil, für den er die Verantwortung trägt. Ein objektives Verhältnis, in dem zwei Menschen zueinander stehen, kann sich, vermöge einer existenziellen Beteiligung beider, zu einer personenhaften Beziehung erheben; es kann lediglich hingenommen, kann vernachlässigt werden; es kann verletzt werden. Die Verletzung eines Verhältnisses bedeutet, dass an dieser Stelle die menschliche Seinsordnung verletzt worden ist. Kein anderer, als der die Wunde schlug, kann sie heilen. Dazu, dass er es versuche, kann ihm helfen, wer um die Tatsache der Schuld weiß und ein Helfer ist.«(buber, 1958, S ) Weiterhin führt Buber aus:» die Wunden der Seinsordnung können an unbestimmbar vielen anderen Orten geheilt werden, als an denen sie geschlagen wurden.«(buber, 1958, S.40) Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen beschreibt Buber drei unterschiedliche Ebenen, die er selbst als»sphären«bezeichnet und in denen die Verarbeitung von Schuld geschieht. " Die Sphäre des Rechtes Buber schreibt:»die Handlung beginnt hier mit der ins Werk gesetzten oder latenten Forderung, die die Gesellschaft ihren Gesetzen gemäß an den Schuldigen stellt; die Vorgänge des Vollzugs heißen Geständnis, Strafverbüßung und schadlos Haltung.«" Die Sphäre des Gewissens im hier vorliegenden Buch als»psychologische Aspekte im Umgang mit Schuld«bezeichnet. " Die Sphäre des Glaubens Buber schreibt:»hier beginnt die Handlung im Raum zwischen dem Schuldigen und seinem Gott und verbleibt darin.«4.1 Was ist (moralische) Schuld? Was kann im engeren Sinne vergeben werden und was nicht? 57 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

59 Buber grenzt ein, dass die Zuständigkeiten des Arztes / Therapeuten ausschließlich die zweite Sphäre betreffen. Über den juristischen Bereich schreibt er:»mit dieser Sphäre hat der Therapeut naturgemäß nichts zu tun; ihm als Arzt steht nicht einmal ein Urteil darüber zu, ob die Forderung der Gesellschaft zu Recht besteht oder nicht; sein Patient, der Schuldige, mag an der Gesellschaft schuldig sein oder nicht, ihr Gericht über ihn mag gerecht sein oder nicht, ihn, den Arzt als Arzt, betrifft das nicht, er ist hier unzuständig, und in seine Beziehungen zum Patienten darf diese problematische Themenstellung keinen Einlass finden «. Und zum Bereich des Glaubens führt Buber aus:»der Arzt darf, eben als solcher, an diese Sphäre nicht einmal dann rühren, wenn er und der Patient in der gleichen Glaubensgemeinschaft stehen; «und noch weiter:»auch wenn dem Therapeuten das Glaubensproblem in der von ihm in der Analyse erschlossenen Angst des Patienten vor der göttlichen Strafe entgegentritt, kann er hier nicht eingreifen, ohne auch bei großen Geistesgaben einem gefährlichen Dilettantismus zu verfallen.«(buber, 1958; S ). Anders als Hofmann und Heise (2017) gehen wir im Sinne Bubers (1958) davon aus, dass eine spirituelle Entwicklung eines Klienten kein unmittelbares Anliegen der Psychotherapie ist, da die konzeptuellen Unterschiede zwischen Religion / Spiritualität einerseits und Psychotherapie / Coaching andererseits Inkongruenzen aufseiten des therapeutischen Begleiters sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Das Entwickeln eines gemeinsamen Modells von Problem und Veränderungsweg ist wichtiger Teil eines erfolgreichen therapeutischen Prozesses und unterschiedliche spirituelle Konzepte von Klient und Therapeut (z. B. verfasste Religion vs. spirituelltranspersonales Entwicklungskonzept) stünden dem unmittelbar entgegen. Themen des spirituellen Wachstums und religiöser Konflikte sind unseres Erachtens nach im Rahmen und in den Traditionen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft des Klienten zu verorten. Hingegen ist ein Bewusstsein des Therapeuten oder Coaches über Grundzüge der religiösen / spirituellen Verfasstheit eines Klienten sehr empfehlenswert. Derartige Kenntnis hilft dem Therapeuten oder Coach zu erkennen, wann das Anliegen und die Entwicklungsziele des Klienten den Rahmen von Therapie oder Coaching verlassen oder an welchen Stellen der Klient aufgrund religiöser Überzeugungen z. B. Verständnisschwierigkeiten oder Entwicklungsbarrieren erlebt. Selbstverständlich treten im Rahmen von therapeutischen Prozessen und Coachingprozessen oft spirituelle Entwicklungen auf. Diese sind aus unserer Sicht jedoch zwar Wirkung, nicht jedoch intendierte Ziele der Prozesse. Die hier dargestellten Vergebensprozesse sind an die Voraussetzung geknüpft, dass der Klient (mehr oder weniger) vorsätzlich durch Dritte geschädigt wurde. Enright (2006) unterscheidet dabei zwei verschiedene Arten von Verletzungen, die einzeln oder gemeinsam auftreten können: " Verletzungen der körperlichen Integrität " Verletzungen der moralischen Integrität 58 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

60 Um in diesem Sinne jemanden wirklich als schuldig betrachten zu können, ist folglich zu prüfen, ob der Täter überhaupt für die Schuld»zuständig«ist. Dafür ist zumindest relevant, ob " der Täter (zumindest teilweise) vorsätzlich handelte (oder eine notwendige Handlung absichtlich unterlassen hat), " er die Regel, gegen die er verstoßen hat, überhaupt kannte, " er fähig war, die Regel zu befolgen, wenn er sie kannte. Ein Vergebensprozess erfordert, dass es eine als korrekt empfundene Regel gibt, gegen die das Individuum verstoßen hat oder es Opfer eines Verstoßes wurde. Ohne Kenntnis und Anerkennung einer Regel ist das subjektive Schuldempfinden nicht möglich. Diese Art der Schuld, die durch den Verstoß gegen derartige Regeln entsteht, bezeichnen wir im Folgenden als ethisch-moralische Schuld Weitere Schuldarten Schuld ist ein sehr umfassendes Konzept und es gibt unterschiedliche Schuldarten, die von der oben beschriebenen moralischen Schuld abweichen. Sie können von der bereits beschriebenen moralischen Schuld unterschieden werden und werden nicht direkt im Rahmen von Vergebensprozessen betrachtet: " normativ-juristische Schuld: Gegen allgemeingültige (schriftlich dokumentierte und vereinbarte) Regeln ist verstoßen worden. Eine Allgemeinheit hat ein Interesse daran, dass diese Regeln eingehalten werden, hat sie in einem Rechtssystem beschrieben und will dieses durchsetzen. Dabei sind noch Unterschiede zwischen Strafrecht und Zivilrecht relevant. Im juristischen Sinn schützt das Nichtkennen einer Regel nicht vor einer Strafe. Dies stellt Paul (2010) anhand folgenden Beispiels dar: Innerhalb Europas werden Geschwindigkeitsverstöße durch Autofahrer landesübergreifend nach den jeweiligen nationalen Gesetzen geahndet. Hierbei ist es unerheblich, ob die unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen der einzelnen Länder den ausländischen Autofahrern bekannt waren. Auch ist es nicht relevant, ob dem Fahrer die Art des Strafmaßes bekannt war. Versuche, durch vorgespielte oder wirkliche Unkenntnis der Strafe zu entgehen, sind unwirksam. In manchen Ländern wird z. B. die Strafe für Geschwindigkeitsüberschreitungen in Abhängigkeit vom Monatslohn verhängt, auch ausländischen Verkehrsteilnehmern gegenüber. " systemische Schuld: Bereits bei der Darstellung der systemischen Ausgleichsprinzipien wurde darauf hingewiesen, dass ein Verstoß gegen die systemischen Regeln ebenfalls Schuldgefühle auslösen kann. Derartige systemische Schuldgefühle sind nicht primäre Bestandteile der Vergebensarbeit. Sie können diese jedoch verkomplizieren und behindern. So entwickeln zum Beispiel Klienten, die in ihrem System zum Sündenbock gemacht wurden und dort teilweise unter missbräuchlichen Bedingungen leben, systemische Schuldgefühle, falls sie ihrer Rolle als Sündenbock aufgeben und den 4.1 Was ist (moralische) Schuld? Was kann im engeren Sinne vergeben werden und was nicht? 59 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

61 Tätern vergeben wollen. Das Verlassen der Sündenbockrolle wäre zwar moralisch vollständig gerechtfertigt, gefährdet aber das System und kann systemische Schuldgefühle erzeugen. Für die Bearbeitung derartiger Situationen stehen im Rahmen der systemischen Therapie diverse Interventionen zur Verfügung. Danach kann falls noch erforderlich eine weitere Vergebensarbeit folgen. " existentielle Schuld: Yalom (2005) beschreibt auf der Grundlage philosophischer Überlegungen eine weitere Form der Schuld, die sich ebenfalls in tief empfundenen Schuldgefühlen äußern kann. Es handelt sich um die sogenannte existenzielle Schuld. Sie entsteht durch die Diskrepanz, zwischen dem, was ein Mensch lebt und dem, was er leben könnte, wenn er sein Potenzial entfalten würde. Yalom betrachtet diese existenzielle Schuld als positive und konstruktive Kraft, die der Entwicklung und der Übernahme von persönlicher Verantwortung für die eigene Lebenssituation dient. " religiöse Schuld: In vielen Religionen spielen Themen der menschlichen Fehlbarkeit eine bedeutende Rolle. Die hierfür gefundenen Begrifflichkeiten und Konzepte (z. B. Schuld, Sünde, Karma, uvm.) variieren naturgemäß. Ebenso gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, was mit Menschen, die unangemessen handeln, aus spiritueller Sicht geschieht. Vielen Religionen ist ebenfalls gemein, dass aus spiritueller Sicht die Möglichkeit besteht, begangene Fehler oder unangemessene Handlungsweisen vergeben zu bekommen. In vielen Fällen unterliegt dieser Vergebensprozess allerdings vollständig»höheren Wesenheiten«oder kosmischen Prinzipien, auf welche der Mensch nicht unmittelbar Einfluss nehmen kann. Religiöse Konzepte, die vorsehen, dass Menschen einen spirituellen Vergebensprozess zuverlässig durch bestimmte Handlungsweisen erzwingen können, sind am ehesten in archaischen Religionen (z. B. vedischen Opferkulten) zu finden. Teilweise treten derartige spirituelle Vergebenskonzepte heute in modernen Privatreligionen (im religionswissenschaftlichen Sinn) wieder in Erscheinung. In den monotheistischen Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam) wird prinzipiell der Gedanke geteilt, dass spirituelle Vergebung ein Akt ist, der allein von göttlicher Seite ausgeht. Teilweise ist gläubigen Menschen ein Vergebensprozess auf psychischer Ebene erst möglich, nachdem sie auf spiritueller Ebene Vergebung erfahren haben. Die Begleitung dieser religiösen Prozesse ist nicht Teil der therapeutischen Arbeit. Sie sollte nur durch Gläubige derselben Religionsgemeinschaft begleitet werden, die von dem Klienten als befugt angesehen werden. Sonst droht nach Buber die Gefahr der Vermischung der»sphäre des Glaubens«mit der»sphäre des Gewissens«(s. o.). Hinweise zu Vergebungskonzepten konkreter Einzelreligionen finden sich in Abschnitt 4.4. Wenn im Folgenden vereinfachend von Schuld gesprochen wird, ist damit immer die oben beschriebene ethisch-moralische Schuld gemeint. Diese Formulierung soll keine moralische Bewertung darstellen Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

62 4.1.2 Wie entsteht eine (moralische) Schuldkonstruktion? Erleidet eine Person in einer personalen zwischenmenschlichen Beziehung eine Verletzung, für die eine andere Person oder eine Gruppe verursachend ist, so wird dem Verursacher dann Schuld zugewiesen, wenn diese Verletzung gleichzeitig einen Verstoß gegen eine existierende Regel darstellt. Der Verursacher der Verletzung wird auf diese Weise zum Täter. Beispiel Jemand, der einem anderen auf offener Straße aus Ärger einen Zahn ausschlägt, handelt moralisch schuldhaft. Ein Zahnarzt, der einen Zahn aus medizinischen Gründen zieht, handelt nicht schuldhaft. Im Rahmen von Trauerarbeit hat Paul (2010) ein Konzept entwickelt, das den Mechanismus der Entstehung von Schuldgefühlen und die damit zusammenhängenden Erwartungen in Beziehung zueinander darstellt. Sie geht davon aus, dass es ein subjektives Schuldkonstrukt gibt, in dem der Klient einen Regelverstoß identifiziert. Anschließend ordnet der Klient im Rahmen der Herstellung eines subjektiven Schuldzusammenhanges die Tat einer Person zu. Dabei entsteht der Gedanke, dass diese Person schuldig sei. Das kann sich sowohl auf den Klienten selber als auch auf eine andere Person beziehen. Aus dieser Überzeugung entwickelt sich ein Schuldgefühl. Entweder hat Klient selber dieses Schuldgefühl (wenn er der Verursacher war) oder er geht davon aus, dass der definierte Täter dieses Schuldgefühl haben müsste oder sollte. In Abhängigkeit von der Schwere der Tat entsteht jetzt eine Straferwartung. Aus dieser resultiert entweder eine Forderung an den Täter, die Paul als Bußforderung bezeichnet oder ein Bedürfnis die Schuld abzutragen, was Paul als Bußbedürfnis definiert. Wenn Subjektives Schuldkonstrukt: d. h.:»es gibt einen Schaden durch einen Regelverstoß.«Subjektiver Schuldzusammenhang: d. h.:»person X hat es getan (bzw. ich habe es getan).«schuldgedanken Schuldgefühle Bußforderung Straferwartung Bußbedürfnis Abbüßen Abbildung 4.1 Modell zur Erklärung von Schuldzusammenhängen nach Paul (2010) 4.1 Was ist (moralische) Schuld? Was kann im engeren Sinne vergeben werden und was nicht? 61 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

63 der Klient oder der Täter der jeweiligen Forderung entsprochen hat, entsteht ein Gefühl von wieder hergestellter Gerechtigkeit. Eine große Schwierigkeit besteht darin, dass die Straferwartungen und die daraus resultierenden Forderungen und Bedürfnisse zwischen Täter und Opfer höchst unterschiedlich sein können. Die Entstehung der Schuldkonstruktion ist in Abb dargestellt. Schuld wird jeweils durch das Opfer, den Täter und die Zuschauer konstruiert. Es kann dazu kommen, dass das Opfer seine Regeln in extremer Weise verletzt sieht, der Täter diese Regel jedoch nicht einmal kennt. Die Gesellschaft hat zwar eine Regelerwartung, aber sanktioniert die fehlerhaften Handlungen nicht. Eine solche Situation tritt zum Beispiel öfter auf, wenn Touristen mit regional inadäquater Bekleidung sakrale Orte besichtigen. 4.2 Weitere Aspekte des Schuldempfindens In diesem Zusammenhang ist außerdem relevant, wie das jeweils individuelle Regelwerk zustande kommt. Folgende Zugänge zu Regeln bestehen: (1) Gesetze und Regeln werden verinnerlicht in Folge der Kenntnis von niedergeschriebenen Gesetzen (kollektive, juristische Regeln; positives Recht). (2) Kulturelle, zum Teil auch religiöse gelebte Regeln einer Gesellschaft werden vom Individuum primär durch Nachahmung und Gewohnheitsbildung ungeprüft übernommen. Ein möglicher Sonderfall solcher Regeln sind Benimm- und Anstandsregeln, die häufig kulturellen Ursprung haben und inzwischen aber ihres ursprünglichen Sinnes vollständig beraubt sind. Zum Beispiel gilt die rechte Hand als die reine Hand, mit der man isst, und sich gegenseitig grüßt. Die linke Hand diente früher zur Reinigung der»persönlichen Rückseite«. Obwohl dies spätestens seit der Erfindung des Klopapiers nicht mehr die Regel ist, ist die Höflichkeitsregel der Grußhand unverändert geblieben. (3) Regeln gelten innerhalb von Gruppen und Familien. Über diese Regeln werden die Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gruppe und die Stellung innerhalb der Gruppe geregelt. Sie werden teils innerhalb der Gruppe gelehrt und teils implizit erworben. Aus all diesen Regeln konstruiert sich jede einzelne Person das individuell für sie geltende Regelwerk. Um beim Autofahren zu bleiben: Erstaunlich viele Autofahrer stellen ihren Tempomaten auf 10 km über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit ein. Hier handelt es sich um ihre persönlich verinnerlichte Regel. Andere, die sie dann überholen, fahren unverschämt schnell oder drängeln. Umgang mit Regelbefolgung Wenn Regeln vorhanden sind, gibt es verschiedene mögliche Grunderwartungen an den Umgang mit ihnen. Diese sind zum Teil abhängig von der jeweiligen Position der Person innerhalb der Gruppe, teilweise ist das Regelverständnis auch kulturell geprägt. Prinzipiell gibt es folgende Erwartungen: 62 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

64 (1) Meine Regel gilt für mich und deine Regel gilt für dich. Ich erwarte, dass Du Deine Regeln einhältst. (2) Meine Regel gilt für mich und für dich. Und das heißt auch: Ich bin der Chef. Wer gegen meine Regeln verstößt, ist ein schlechter Mensch und wird sanktioniert, denn ich halte meine Regeln für allgemeingültig. In der Extremform gilt auch:»meine Regeln gelten für Dich. Ich halte mich jedoch an keine Regeln«. (3) Deine Regeln gelten für Dich und für mich. Du weißt bestimmt besser, was richtig und falsch ist, deshalb passe ich mich deinen Regeln an. Du bist der Chef. (4) Regeln sind Vereinbarungen, die von manchen Menschen als gültig betrachtet werden. Ich entscheide situativ, (ob und) wann ich mich an welche Regel halten möchte, das kann auch von Mal zu Mal variieren. Menschen haben unterschiedliche Erwartungen an Regelbefolgungen. Somit erfolgen von Menschen mit restriktiveren Erwartungen oft Schuldzuschreibungen an diejenigen mit lockererem Regelumgang. Letztere sind sich oftmals keiner Schuld bewusst. Ihr ganz grundsätzliches Konzept von Regeln versteht eine Regeländerung (ggf. auch ein Ignorieren der Regel) nicht als Regelbruch. Die Kenntnis dieser Grundzusammenhänge erklärt vor allem in betrieblichen Kontexten sehr viele Frustrationen und Konflikte. Viele Mitarbeiter erwarten, dass die Regeln, die bekannt gegeben worden sind, auch von der Führungsschicht eingehalten werden. Dazu sind leider nicht alle Führungskräfte willens oder in der Lage. Es entstehen immer wieder Klagen bezüglich des «Messens mit zweierlei Maß«. In dem Moment, in dem akzeptierte Regeln verletzt werden, kommt es zu Schuldzuweisungen. Sie erfolgt, wenn " eine Regel existiert, " das Opfer diese Regel in der Situation für gültig und anwendbar hält, " gegen die Regel verstoßen wird " und das Opfer oder ein Dritter dies wahrnimmt. Übertretungsemotionen Schuld gehört zu den sogenannten Übertretungsemotionen. Sie ist gegen Scham und Peinlichkeit abzugrenzen. Diese drei Emotionen können zu den sekundären Emotionen gerechnet werden. Das bedeutet, dass der Mensch diese im Laufe der Sozialisation erst erwirbt und ihre Empfindung einen gewissen Entwicklungsstand voraussetzt. In der allgemeinen Psychologie werden von einigen Autoren primäre Emotionen (Furcht, Ekel, Verachtung, Wut, Freude, Überraschung und Trauer) von sogenannten sekundären Emotionen unterschieden. Primäre Emotionen treten bei allen Menschen in vergleichbaren Zusammenhängen auf. Sie sind unabhängig von ihrer sozialen Einstellung, ihrem Alter und ihrer Bildung oder dem kulturellen Kontext. Primäre Emotionen sind durch charakteristische mimische Ausdrücke, die ebenfalls kulturübergreifend wahrgenommen werden können, repräsentiert (Ekmann, 1993). 4.2 Weitere Aspekte des Schuldempfindens 63 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

65 Sie wirken oft adaptiv, d. h. sie haben eine Warnfunktion oder eine direkte Verarbeitungsfunktion für das Individuum. Über die primären Emotionen hinaus gibt es eine ganze Reihe sogenannter sekundärer Emotionen. Für sekundäre Emotionen ist es erforderlich, dass bestimmte kulturelle Überzeugungen oder soziale Zusammenhänge bereits erlernt wurden. Sekundäre Emotionen fühlen sich für ihren»besitzer«genauso emotional intensiv an, wie primäre Emotionen. Sie lassen sich aber nicht bei allen Menschen gleichermaßen auslösen und weisen keine vergleichbare physiologische Repräsentation auf. Außerdem werden sie in jeweils anderen Zusammenhängen repräsentiert (in Abhängigkeit von Kultur und Erziehung). In Tabelle 4.1 sind die bedeutsamen Aspekte der Übertretungsemotionen zum besseren Verständnis einander gegenübergestellt. Tabelle 4.1 Strukturelle Merkmale von Übertretungsemotionen (aus Roos in Otto et al., 2000) Peinlichkeit Scham Schuld Selbstwertrelevanz / Selbstbezug notwendig (Fremdbewertung / Selbstdarstellungsprobleme notwendig (Selbstbewertung / Selbstwertprobleme notwendig (Selbstbewertung / Selbstkritik) Öffentlichkeit Verantwortung Negative Folgen für andere notwendig nicht notwendig nicht notwendig nicht notwendig notwendig notwendig nicht notwendig nicht notwendig notwendig Klienten nehmen auch Schuldzuweisungen vor, wenn nicht alle genannten Kriterien für das Vorliegen von Schuld erfüllt sind. Es ist dann nicht hilfreich mit dem Klienten auszudiskutieren, ob es sich um eine reale Schuld des Täters oder um falsche Schuldzuschreibungen durch den Klienten handelt. Bei einer Diskussion würde der Begleiter eine richtende Instanz einnehmen und in die erste Sphäre nach Buber eingreifen. Meist würde auch die Beziehung zum Klienten gestört werden. Betrifft die Schuldzuweisung den Klienten selbst, so hilft es meist ebenso wenig weiter darüber zu diskutieren, ob es sich um»reale Schuld«oder»nur um Schuldgefühle«handelt. Durchaus hilfreich hingegen ist es die prinzipielle Schuldkonstruktion des Klienten anhand von Fragen (ggf. auch im Sinne eines Sokratischen Dialoges) genauer zu beleuchten. Oft ändert sich schon dadurch die grundsätzliche Einschätzung des Klienten. (Ein Frageschema zum Überprüfen mit dem Klienten finden Sie in Abschnitt 6.1) Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

66 Selbstverständlich bestehen zum Thema Schuld und Schuldgefühle wie bei fast allen anderen psychologischen Themen schulenabhängig unterschiedliche Interpretationen. Insbesondere auf die psychoanalytische Sicht wird hier nicht eingegangen. Grenzen der Schuld Die Grenze der Schuld ist erreicht, wenn jemandem etwas passiert ist, das er nicht verhindern konnte oder unabsichtlich ausgelöst hat. Hier ist der Übergang zum Unfall fließend. Ebenso ist die Grenze der Schuld erreicht, wenn es sich um eine echte Fehleinschätzung einer Situation handelte, die zu dem entsprechenden Ereignis geführt hat. Dies ist der Übergang zu Fehler und Fehlerkultur. In Betrieben kann eine adäquate und sorgfältig gepflegte Fehlerkultur dem Opfer bei schwierigen Ereignissen helfen. Das Opfer lernt durch eine grundsätzliche Fehlerakzeptanz und eine offene Fehlerbearbeitung im System (und ggf. durch angemessene Ausgleichsleistungen) mit der Situation zu leben. Es erkennt, dass»wenigstens verhindert worden ist, dass so etwas wieder passiert«. Prinzipiell ist zu prüfen, ob die Person, die die Tat begangen hat, überhaupt fähig war eine Einsicht in die Folgen zu erlangen, um schuldfähig zu sein. Eine gewisse Vorsicht ist bei der jeweiligen Selbsteinschätzung von Tätern geboten. Die damaligen Fakten sind genau zu betrachten. Das Unbewusste hat die Tendenz sich selbst vor unangenehmen Gefühlen (wie z. B. Schuld) zu schützen. Daher werden Erklärungen wie»mir ist passiert«,»ich habe vergessen«und»dafür kann ich doch nichts«sehr gerne zur Schuldabwehr benutzt. Verschiedene Mechanismen der nachträglichen Wahrnehmungsverzerrung (kognitive Biases) zur Abwehr eines unangenehmen Dissonanzerlebens sind vielfach auch experimentell belegt. Die Abwehr von Schuld durch den Täter erzeugt beim Opfer eine zusätzliche Belastung und führt zur Aggravation von Schuldfolgen. 4.3 EXKURS: Entwicklung der Schuldfähigkeit Im Folgenden wird die Entwicklung der Fähigkeit schuldhaft handeln zu können beleuchtet. Gerade in Kontexten, in denen Kinder, jüngere Jugendliche oder Menschen mit deutlichen kognitiven Einschränkungen von Klienten als Täter benannt werden, kann die Kenntnis dieser Entwicklungsprozesse helfen, um über psychoedukative Therapieanteile eine Umdeutung der Schädigungssituation zu ermöglichen. Kommt es zu einer solchen Umdeutung, sind komplexe Vergebensprozesse oft nicht notwendig. Stattdessen ergeben sich meist Abschieds-, Trauer- und Akzeptanzprozesse. Damit eine Person überhaupt in der Lage ist moralisch zu handeln, ist es notwendig, dass sie bestimmte Reifungs-, Sozialisations- und Lernprozesse durchlaufen hat. Die Person (in Anlehnung an Montada, 1998): " benötigt ein Wissen über die Normen und Regeln der betreffenden sozialen Gruppe (Ich muss die Regeln kennen, an die ich mich halten soll). 4.3 EXKURS: Entwicklung der Schuldfähigkeit 65 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

67 " benötigt die Fähigkeit»richtig«und»falsch«innerhalb dieser Normen selbstständig beurteilen zu können (Die Regel heißt»geh nur bei grün«und»ich bin in der Lage grün und rot voneinander zu unterscheiden«). " benötigt die Akzeptanz der betreffenden Normen und Regeln. Das umfasst zum einen die Anerkennung, dass diese Regeln grundsätzlich eine Berechtigung haben. Zum anderen bedeutet es, dass die Person sich mit diesen Normen auch identifiziert. Denn, wenn jemand eine Norm zwar prinzipiell wahrnimmt, diese aber nicht akzeptiert, dann wird diese Norm als Nötigung erlebt (Kuhlmann in Montada, 1998). " benötigt die Motivation und die Handlungsfähigkeit (z. B. die notwendigen Werkzeuge) zu einem normgerechten Verhalten (Bsp.:»Ich will mich beim Essen gut benehmen. Ich habe gelernt, wie und wofür verschiedene Besteckstücke benutzt werden sollen und ich bin motorisch dazu in der Lage; außerdem steht mir das notwendige Besteck jetzt zur Verfügung.«). Um moralische Gefühle zu erleben, reicht es schon, dass eine Situation von einer Person erst einmal allgemein als moralisch relevant beurteilt wurde. Es muss also nur eine Verletzung einer von der Person akzeptierten Norm wahrgenommen werden (betrifft die Punkte 1. 3.). Für das Gefühlserleben alleine muss eine Person keine Handlungsfähigkeit in einer solchen Situation erworben haben. Die moralischen Gefühle spiegeln wider, inwiefern eine bestimmte Person das eigene und das fremde Handeln als moralisch bedeutsam einschätzt. Die Tatsache, dass jemand überhaupt moralische Gefühle erlebt, kann als ein Hinweis begriffen werden, dass jemand (schon) etwas wie eine persönliche Moral entwickelt hat (Montada, 1998). Menschen haben den Impuls zu handeln, wenn sie sich aufgrund einer Emotion dazu veranlasst sehen. Moralische Gefühle lösen in der Regel einen starken Handlungswunsch aus. Um sich im Alltag tatsächlich normgerecht (i. S. moralisch) verhalten zu können, ist es notwendig nicht nur den Handlungswunsch zu haben, sondern noch weitere emotionale und soziale Kompetenzen zu erwerben. Beispielsweise kann trotz einer ängstigenden oder beschämenden Situation moralisch angemessen gehandelt werden, wenn die Person Coping-Fähigkeiten im Umgang mit negativen Emotionen und Stress besitzt. Sie benötigt die Fähigkeit die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, um eine mögliche Schädigung Anderer überhaupt antizipieren zu können. Sie braucht die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und zur Impulskontrolle, um eigenes Wohlbefinden und die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu Gunsten eines moralisch richtigen Verhaltens zurückstellen zu können. Nicht zuletzt ist es notwendig sich persönlich verantwortlich für die eigenständige Umsetzung der Normen zu fühlen, die man für sich als richtig akzeptiert hat. Diese Erwartung an sich selbst und die gefühlte Verpflichtung die Normen, die man akzeptiert auch aktiv umzusetzen und sie zu verteidigen, geht mit der Entwicklung einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung einher. Ebenso kommt ein Selbstbild als eigenverantwortlicher Gestalter des eigenen Lebens und Handelns hinzu Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

68 Der Prozess, allgemein anerkannte Normen zu verinnerlichen und Kompetenzen zu einem moralischen Handeln zu entwickeln, wird von der Gesellschaft als eine Reihe von Entwicklungsaufgaben gesehen, die spätestens bis zum mittleren Jugendalter abgeschlossen sein sollte. Diese gesellschaftliche Erwartung spiegelt sich auch im Strafrecht mit einer altersgestaffelten Zuschreibung der Delikts- und Schuldfähigkeit wieder. Ein Nichterfüllen von Entwicklungsaufgaben wird von der Gesellschaft nur in besonderen Ausnahmefällen akzeptiert. Zum Beispiel, wenn eine Person infolge einer starken geistigen Behinderung offensichtlich überhaupt nicht in der Lage ist, ein Regelverständnis zu entwickeln. Unbewältigte Entwicklungsaufgaben werden sozial (z. B. durch persönliche Ablehnung) und im Fall von Rechtsbrüchen auch juristisch von der Gesellschaft sanktioniert. Es gibt implizite Erwartungen, welche Art von moralischem Verhalten von Kindern in welcher Altersstufe als erwartbar angesehen wird. Wenn ein Kind die Erwartung zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllen kann (z. B. infolge einer Impulskontrollstörung oder, weil das Kind in der Erziehung bisher keine Möglichkeit erhielt, Grenzen kennen zu lernen), so wird die Sanktion in der Regel trotzdem von der Gesellschaft vollzogen. Auch hier werden verinnerlichte Normen als Vergleich herangezogen (Bsp:»Ein sechsjähriges Kind sollte mit Messer und Gabel essen können«). Die Einzelfälle werden hierbei eher selten hinterfragt (Bsp.: Die Information, dass das betreffende Kind in Indien aufgewachsen ist und Messer und Gabel bisher nicht kennt, wird gar nicht erfragt). Es kann also teilweise zu Schuldzuschreibungen kommen, ohne dass die betreffende Person sich selber schuldig fühlt. Es ist auch möglich, dass der Verletzer überhaupt (noch) nicht in der Lage gewesen ist, normgerecht zu handeln, weil " die verletzte Norm nicht bekannt war. " die kognitive Reife fehlte, die Situation als Normverletzung beurteilen zu können. " die Handlungskompetenzen nicht vorlagen. " die Schädigung der anderen Person nicht antizipiert wurde, da diese Form der Perspektivenübernahme noch nicht möglich war, etc. Selbstverständlich ist es auf der anderen Seite auch möglich, dass sich eine Person normgerecht benimmt, ohne die Normen tatsächlich anzuerkennen (z. B. weil der betreffenden Person der soziale Stress, der nach einem Regelbruch zu erwarten ist, zu anstrengend erscheint), sodass jemand lange Zeit völlig unauffällig in einem sozialen Gefüge mitläuft. Es ist dieser Person ohne emotionale Hemmung möglich, irgendwann völlig unerwartet normverletzend zu handeln, und zwar ohne irgendein Anzeichen einer Übertretungsemotion. Wenn eine solche Situation eintritt, ist das soziale Umfeld oft sehr schockiert. Das frühere, normgerechte Verhalten hatte für die soziale Umgebung impliziert, dass der Verletzer sich als Teil dieser sozialen Gruppe mit diesen speziellen Normen verstand. Für einen innerpsychischen Vergebensprozess ist das Vorhandensein von Übertretungsemotionen auf der Seite eines Verletzer zwar nicht notwendig, Vergebung fällt 4.3 EXKURS: Entwicklung der Schuldfähigkeit 67 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

69 aber besonders leicht, wenn der Verursacher die Normverletzung als solche und seine Schuld an der Verletzung anerkennt. Es hilft, wenn sich Verletzer ernsthaft entschuldigen, Reue zeigen und eine angemessene Wiedergutmachung anbieten. Für einen entwicklungspsychologischen Überblick zur moralischen Urteilsfähigkeit als Voraussetzung für bewusstes moralisches Handeln, bietet es sich an, auf die Forschung Jean Piagets zum Regelverständnis und zum Gerechtigkeitsverständnis zurückzugreifen (vgl. für einen Überblick Flammer, 2009). Die Fähigkeit Normen (also ein gesellschaftlich eingefordertes Regelwerk) in angemessener Weise im eigenen Handeln als Richtschnur einzubeziehen, hängt davon ab, inwiefern ein Kind das Konzept von Regeln an sich überhaupt begreift. Piaget beschreibt fünf aufeinanderfolgende Stufen des Regelverständnisses und der Regelanwendung bei Kindern: (1)»motorisch und individuell«: Das Kind spielt, wie es ihm gerade in den Sinn kommt, ggf. nach selbst gestalteten Ritualen. (2)»egozentrisch«: Das Kind spielt mit anderen und verwendet dabei selbst einzelne»regelbausteine«, ob sich die anderen an diese Regeln auch halten, ist ihm dabei egal. (3)»beginnende Kooperation«: Im gemeinsamen Spiel gibt es gemeinsame Regeln, deren Einhaltung aber vom Kind nicht immer durchgehalten wird und auch beim Spielpartner nicht durchgängig kontrolliert werden. (4)»Kodifizierung der Regeln«: Es gibt feste Regeln, die als»gottgegeben und unumstößlich«wahrgenommen werden. Ihre Einhaltung wird bei allen Spielpartnern peinlich genau überwacht. (5)»Regelaushandlung«: Regeln werden als Verhandlungsgegenstand und als veränderbar wahrgenommen. Sie können in Absprache mit den Teilnehmenden einvernehmlich geändert werden. Als grobe altersmäßige Zuordnung kann davon ausgegangen werden, dass bei normal entwickelten Kindern ab dem vollendeten dritten Lebensjahr der Übergang von Stufe drei zu Stufe vier des Regelverständnisses erwartbar ist (teilweise auch schon früher) und auch schon Übertretungsemotionen erlebt werden. Kodifizierte Regeln herrschen anschließend etwa bis zum Vorschulalter vor und werden dann nach und nach bis zum Beginn des Jugendalters (ca. zehnten bis zwölften Lebensjahr) als verhandelbar begriffen. Die Übergänge sind hierbei fließend und erfolgen nicht abrupt. Dementsprechend wird ein sechsjähriges Kind eine Schuldzuschreibung in der folgenden Situation voraussichtlich noch nicht verstehen: Der Sechsjährige verbietet seinem durstigen kleinen Bruder an einem heißen Sommertag das Trinken»weil es die Regel gibt, dass zwischendurch keine Brause getrunken werden darf«(und es gibt nichts anderes mehr als Brause). Der kleine Bruder erleidet daraufhin einen Kreislaufzusammenbruch. Das ältere Kind hat bei seinem Konzept von Regelverständnis (kodifizierte Regeln) aber alles richtig gemacht und ist sich keiner Schuld bewusst. Es kann einen Schuldvorwurf nicht verstehen, da seine Art von Regelverständnis noch keine Ausnahmen und keine Berücksichtigung von Situationsfaktoren zulässt Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

70 Als weiterer wichtiger Faktor für die Fähigkeit zum moralischen Urteil ist das Gerechtigkeitsverständnis zu nennen: Tendenziell erleben kleine Kinder (ca. bis zum fünften Lebensjahr) das als gerecht, was von Autoritäten in verlässlicher Weise festgelegt wird (Bsp., wenn Mama konsistent immer wieder sagt:»erwachsene dürfen immer naschen, Kinder dürfen nur sonntags ein Gummibärchen naschen.«dann ist das so gerecht). Größere Kinder (mittlere Kindheit, ca. ab dem Vorschulalter bis zum siebten / achten Lebensjahr) empfinden als gerecht, was verteilungsgerecht ist; also wenn alle ganz genau dasselbe bekommen oder nicht bekommen (z. B., wenn Mama sagt:»erwachsene dürfen immer naschen, Kinder dürfen nur sonntags ein Gummibärchen naschen.«dann ist das ungerecht. Entweder dürfen alle ganz genau dasselbe naschen oder keiner darf naschen). In der späten Kindheit tritt die Verteilungsgerechtigkeit zunehmend in den Hintergrund und die individuelle Bedürftigkeit wird in Gerechtigkeitsfragen zunehmend mit berücksichtigt (z. B., wenn Mama sagt:»erwachsene dürfen immer naschen, Kinder dürfen nur sonntags ein Gummibärchen naschen.«dann ist das nur gerecht, wenn Tante Margot immer»nascht«, wann sie will, weil sie zuckerkrank ist und manchmal naschen muss, um nicht zu sterben. Alle anderen dürfen entweder gleich viel oder gleich wenig naschen, dann ist es gerecht). Je nach Gerechtigkeitsverständnis kann es zu Handlungsweisen von Kindern kommen, die aus Erwachsenensicht unmoralisch und»bösartig«erscheinen. Sie sind aber gemessen am jeweiligen Gerechtigkeitsverständnis völlig plausibel. Auch, wenn man Kinder selber Verhaltensweisen in»gut«und»böse«einteilen lässt, ist es charakteristisch, dass kleinere Kinder (ähnlich wie beim Gerechtigkeitsempfinden) nur einzelne Dimensionen der Situation heranziehen um zu entscheiden, wie ein Verhalten moralisch zu bewerten ist. Je älter die Kinder sind, desto mehr Dimensionen der Situation können in die Entscheidung über»richtig«oder»falsch«bzw. «gut«oder»böse«einbezogen werden. Wenn kleine Kinder einschätzen sollen, wie schlimm ein Fehlverhalten zu werten ist, wählen sie als Kriterium oft nur die Schadenshöhe um zu entscheiden. Ältere Kinder hingegen können zusätzlich auch Faktoren wie Absichtlichkeit der Handlung oder emotionale Bedeutsamkeit für den Geschädigten berücksichtigen. Ein Beispiel: Für ein Kindergartenkind ist ein Kind, das beim Helfen 15 Tassen zerschlagen hat,»böser«als ein Kind, das beim heimlichen Naschen eine einzige Tasse zerschlagen hat. Jüngere Grundschulkinder haben bei dieser Frage oft Entscheidungsschwierigkeiten. Ältere Kinder schätzen hingegen das Kind, das nur die eine Tasse zerschlagen hat als»böser«ein, da sie überwiegend auf die Absicht hinter der Handlung (etwas Verbotenes tun) und erst an zweiter Stelle auf die Schadenshöhe (nur eine Tasse) achten. All diese Entwicklungsschritte sind auch von der Sozialisationsumgebung abhängig. Es braucht angemessene Vorbilder (Erwachsene und Gleichaltrige) mit denen Sozialverhalten und der Umgang mit Regeln gelernt werden kann. Diese sozialen Vorbilder machen die Kinder mit den Normen einer Gruppe überhaupt erst bekannt. 4.3 EXKURS: Entwicklung der Schuldfähigkeit 69 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

71 Sie unterstützen dabei z. B. in die Perspektivenübernahme zu gehen, mit Frustrationen umzugehen und fordern von den Kindern ein, sich an Regeln zu halten. Im Fall einer normalen psychosozialen Entwicklung ist ca. ab dem 12. Lebensjahr zu erwarten, dass ein Jugendlicher die prinzipielle Fähigkeit erworben hat, entsprechend der gesellschaftlichen Normen zu handeln, mit denen er sozialisiert ist. Es kann bei Verstößen gegen diese Normen auch schon ein ähnliches Schuldbewusstsein und Schulderleben wie bei Erwachsenen angenommen werden. Zumindest sofern die Normen von dem Jugendlichen akzeptiert werden. Gerade im Jugendalter wird die Akzeptanz von Normen insgesamt oft massiv infrage gestellt. Es kommt vor, dass Jugendliche zwar kognitiv um die Normen wissen und ein»richtiges«von einem»falschen«verhalten (gemessen an diesen Normen) auch gut unterscheiden können. Dennoch entscheiden sich einige bewusst gegen dieses Regelwerk. Was zur Folge hat, dass sie bei einem Fehlverhalten auch keine Übertretungsemotionen erleben. Neben den allgemeinen entwicklungsabhängigen Prozessen ist es für Opfer häufig wichtig zu verstehen, dass nicht grundsätzlich von einer»normalen«entwicklung ausgegangen werden kann. Teilweise können auch Täter Defizite in der emotionalen und kognitiven Entwicklung haben. 4.4 EXKURS: Religionsbezogene Aspekte der Vergebung Zitat [ ] Die Einflüsse der Religion in der Medizin werden häufig nicht beachtet [ ] das persönliche Verständnis der Religion kann Einstellungen und Gewohnheiten Vorschub leisten, die einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Religiöse Überzeugungen und Praktiken haben oft Einfluss auf das Timing, wann jemand sich in Behandlung begibt, ob Vertrauen und Offenheit gegenüber den Ärzten vorhanden sind und ob man den Anweisungen der Ärzte Folge leistet Die Religion beeinflusst die Gesundheit auch dadurch, dass sie das soziale Umfeld einer Person prägt [ ] Obwohl man hoffen würde, dass religiöse Überzeugungen [ ] negative Emotionen abschwächen, ist es manchmal tatsächlich aber so, dass religiöse Überzeugung sie verstärkt [ ] (Griffith, 2013, S. 24/25). Ebenso, wie die konkreten moralischen Normen, die in einer Gesellschaft gelten, werden auch religiöse Einstellungen und Praktiken im Rahmen der Sozialisation erworben. Vergebung wird in vielen Religionen als göttliche Gnade oder in manchen Religionen auch als göttliche Pflicht betrachtet. Zugleich wird sie aber auch als menschliche Tugend oder Pflicht bzw. als Weg, sich einer göttlichen Instanz anzunähern, gesehen. Hierbei existieren in verschiedenen Religionen klare Rituale für das Erlangen spiritueller und oft auch zwischenmenschlicher Vergebung. Teils ist die 70 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

72 Durchführung des Rituals unter Anleitung einer religiösen Führungsperson oder eines weiteren Gläubigen (z. B. Beichte) vorgesehen. Zum Teil ist das zwingend notwendig, um auf spirituell-emotionaler Ebene Vergebung zu erleben. Teils kann Vergebung durch alleine durchführbare Rituale (z. B. bestimmte Gebete, Meditationen, Pilgerreisen, Entsagungen) oder im Rahmen festgesetzter Feiertage erfolgen, an denen alle Gläubigen eine Reihe ritualisierter Handlungen ausführen sollen. Im Folgenden finden Sie einen kurzen Überblick über die Haltung verschiedener Weltreligionen zum Thema Vergeben. Das soll es vereinfachen, religiös gebundenen Klienten mit einem gewissen konzeptuellen Verständnis zu begegnen. In allen Religionen gibt es sehr verschiedene Strömungen. Hier können nur grob die Grundzüge dargestellt werden Zusätzliche Dimensionen religiöser Vergebung Religionen bieten den Gläubigen Möglichkeiten, die Welt und das menschliche Leben und Erleben in einer kohärenten Weise zu begreifen. Sie können Geschehnissen einen Sinn zuweisen, bis dato Unerklärliches erklärbar machen oder eine (personale) Beziehung zu einer spirituellen Instanz aufbauen. Die Religion bildet eine Gemeinschaft von Gläubigen, in welcher sich der Mensch aufgehoben und geschützt fühlen kann, uvm. Nach Pargament und Rye (1998) bieten viele Religionen in Hinblick auf das Vergebungskonzept zum einen die Interpretation von Vergebung als heiligen oder geheiligten Akt an. Sie vermitteln den Gläubigen darüber hinaus ein Weltbild, welches den Akt des Vergebens erleichtert. Im Vergeben kann ein Gläubiger je nach (theistischer) Religion Gott nachfolgen, einen heiligen / göttlichen Auftrag erfüllen oder auch seine Beziehung zu Gott verbessern. Viele religiöse Menschen erbitten spirituellen Beistand entsprechend ihrer jeweiligen religiösen Orientierung, um selber besser vergeben zu können. Insofern kann eine religiöse Orientierung auch eine zusätzliche psychische Ressource für einen Vergebensprozess darstellen. Auf der anderen Seite kann das Konzept eines gütigen, allen Menschen vergebenden Gottes bei religiösen Menschen, die selber Opfer schwerer Verletzungen oder Verluste geworden sind, eine Glaubenskrise auslösen (»Wie kann ein Gott dieses Unrecht zulassen und dem Täter auch noch vergeben?«). Im Folgenden finden Sie unter Abschnitt bis zuerst einen kurzen Überblick zu den Vergebungskonzepten aus den großen abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) in der Reihenfolge ihrer historischen Entstehung. Daran schließen sich die entsprechenden Konzepte aus dem Hinduismus und dem Buddhismus an. 4.4 EXKURS: Religionsbezogene Aspekte der Vergebung 71 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

73 Judentum Im Judentum wird die Auffassung vertreten, dass Gott dem Gläubigen unter bestimmten Voraussetzungen dessen Sünden vergibt. Sünde ist im jüdischen Verständnis der Verstoß gegen Gottes Gebote. Es ist selbst dann eine Sünde, wenn dieser Verstoß ohne Absicht stattfand. In der Alltagsliturgie bittet der gläubige Jude Gott dreimal täglich um Vergebung seiner Sünden. Darüber hinaus stehen die zehn Tage vor dem sogenannten Versöhnungsfest (Yom Kippur) religiös ganz im Zeichen der Reue und Buße. Gleichzeitig ist der Gläubige selber durch Gott zur Vergebung angehalten, da Gott dem Volk Israel vergeben habe und der Mensch als Geschöpf Gottes ihm nachfolgen solle. Gemäß den religiösen Vorschriften ist nicht in jeder interpersonellen Situation zwingend vom Opfer ein Akt der Vergebung zu erwarten. Dieser ist aus religiöser Sicht nur dann verpflichtend, wenn der Täter sein Bedauern über die Tat ausgedrückt hat, dem Opfer eine Kompensation für den Schaden angetragen hat und glaubhaft versichert, zukünftig keinen derartigen Übergriff mehr zu begehen. Wenn der Täter diesen Prozess der Umkehr (teshuvah) durchlaufen hat, soll Vergebung durch den Geschädigten erfolgen. Ziel der religiös geforderten interpersonellen Vergebung ist zum einen das Herstellen von Gerechtigkeit und zum anderen das Reparieren beschädigter Beziehungen. Die jüdischen Glaubensregeln werden teilweise so ausgelegt, dass ein Opfer, welches vom Täter dreimal im Beisein von Zeugen um Vergebung gebeten wurde und nicht vergibt, eine Sünde begeht. Vergebung bedeutet im jüdischen Glauben aber keinesfalls die Wiederaufnahme der beschädigten Beziehung in einer vergleichbaren Qualität wie vor dem Übergriff. Sie beinhaltet also keine Versöhnung (vgl. Rye et al., 2000; Dorff, 1998) Christentum Im christlichen Glauben stellt Vergebung einen der religiösen Grundwerte dar, wobei Gott in Jesus Christus als Vorbild für dieses Ideal steht (Marty, 1998). Im Neuen Testament finden sich etliche Geschichten, die Vergebung als eines der Hauptthemen aufweisen (»der barmherzige Samariter«,»der verlorenen Sohn«,»Christus am Kreuz«,»die Aufnahme des Saulus in den Kreis der Jünger Christi«um nur einige zu nennen). Schon aus der Vielzahl der biblischen Geschichten, die sich mit dem Thema Vergebung befassen, wird der hohe Stellenwert des Konzeptes im Christentum offensichtlich. Auch im Christentum erfordert interpersonelle Vergebung nicht zwingend eine Versöhnung, obwohl Vergebung und Versöhnung in Grundsatzwerken teilweise sogar gleichgesetzt werden (Schütz, 1992). Im Gegensatz zum Judentum wird die Forderung nach interpersoneller Vergebung nicht von einer Vorleistung des Täters abhängig gesehen Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

74 Der Mensch wird im christlichen Glauben als sündiges Geschöpf verstanden, das nicht vermeiden kann, schuldig zu werden. Sünde kann nach christlichem Verständnis als eine Trennung von Gott verstanden werden, als eine Abwendung des Geschöpfes von seinem Schöpfer. Es kann sogar als Sünde angesehen werden, wenn der Mensch sein Leben unabhängig von Gott ganz alleine in die eigene Hand nehmen will. Auch daraus können gegebenenfalls Schuldgefühle entstehen. Nach christlichem Verständnis ist es möglich, mit Handlungen und mit Gedanken gegen Gott zu sündigen. Eine Befreiung aus dieser Schuld ist dem Menschen aus eigener Kraft nicht möglich und bedarf der Vergebung Gottes. Im Laufe der Jahrhunderte wurden von christlichen Gesellschaften sehr verschiedene Verhaltensweisen und Gedankengebäude als Sünde aufgefasst. Heutzutage entscheidet der Gläubige oftmals aus der Situation heraus, was er selbst als Sünde auffasst. Sünden können einer geistlichen Führungspersönlichkeit (je nach Amtsverständnis einem Priester, Bischof oder Pfarrer bzw. Pfarrerin, etc.) gebeichtet werden, die dem Gläubigen göttliche Vergebung zusprechen kann. Dabei wird vorausgesetzt, dass der schuldig Gewordene seine Tat bereut und die feste Absicht hat, diese nicht zu wiederholen. Die weltliche Verantwortlichkeit für sein Handeln wird von einer Beichte nicht berührt. Auch gibt es Bußgottesdienste, in denen nach einem allgemeinen Sündenbekenntnis den Gläubigen eine Vergebung zugesprochen wird (als Generalabsolution bezeichnet). Über den theologischen und kirchenpraktischen Stellenwert von Beichte und Bußgottesdiensten innerhalb des christlichen Glaubens vertreten die verschiedenen christlichen Strömungen unterschiedliche Auffassungen Islam Nach Ayoub (1997) spielt das Vergeben auch im Islam eine tragende Rolle und sowohl Allah als auch sein Prophet Mohammed gelten hierfür als Vorbilder. Im Koran der göttlichen Offenbarung an den Propheten Mohammed und in den Schriften zur Auslegung des Korans finden sich etliche Beispiele und Erklärungen zu göttlicher Vergebung und für Vergebung durch den Propheten Mohammed. Eine Vergebung seiner Sünden durch Allah kann der Gläubige erhalten, wenn Allah es will. Es unterliegt der göttlichen Allmacht. Sünden sind nach dem Verständnis des Islam Handlungen, die dem Willen Gottes zuwiderlaufen. Wobei der Koran und seine Auslegungsvorschriften als Richtschnur gelten. Es wird ein Prinzip der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln angenommen. Allah entscheidet nach dem Handeln des Gläubigen, ob dieser der Vergebung würdig oder unwürdig ist. Ziel von zwischenmenschlicher Vergebung ist es zu vergeben, um selber vergeben zu bekommen. Um Vergebung zu bitten, wird als Zeichen der Bescheidenheit gewertet. Selber zu vergeben gilt als Zeichen von Großmut. Vergeben wird als Möglichkeit verstanden, Respekt und Reputation zu erwerben und die sozialen Beziehungen zu stabilisieren. Zur Zeit Mohammeds lebten viele Stämme nah beieinander und die Rechtsauffassung zur Angemessenheit von Blutrache über Generationen hin war weit verbreitet. Der Islam bot 4.4 EXKURS: Religionsbezogene Aspekte der Vergebung 73 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

75 mit dem Konzept der respektvollen Vergebung einen Ausweg aus diesen Fehden. So sieht der Koran eine Wiedergutmachung eines Schadens oder das Rächen eines Schadens in angemessener Höhe zwar als völlig annehmbar an, stellt allerdings Allahs Liebe für diejenigen in Aussicht, die stattdessen vergeben und sich miteinander versöhnen. Demzufolge ist aus religiöser Sicht im Fall einer erlittenen Schädigung der Vergebung der Vorzug gegenüber der Rache zu geben (Rye et al., 2000). Göttliche Vergebung zu erhalten wird als wichtiger Faktor für das Erleben von Glück im Leben angesehen. Als Mensch Vergebung zu üben, wird als wichtige gute Tat für den Tag des göttlichen Gerichts begriffen, wenn über die Seelen aller Verstorbenen befunden werden soll Hinduismus Im Hinduismus gibt es theistische und nicht-theistische Strömungen. Sie verbindet die Grundannahme, dass alle Wesen Aufgaben gemäß ihrer Natur in dieser Welt zu erfüllen haben. Gute sowie schlechte Taten im Sinne dieser Aufgaben wirken sich darauf aus, was nach ihrem Tod mit ihnen geschieht (so ist es z. B. für einen Krieger eine gute Tat zu kämpfen, für einen Händler hingegen nicht). Dieses spirituelle Ursache-Wirkungsprinzip wird als Karma bezeichnet. Der Hinduismus nimmt einen Zyklus der Wiedergeburten an und sieht es als höchste spirituelle Entwicklungsmöglichkeit, diesem Zyklus zu entrinnen. Wenn es gelingt, negatives Karma zu vermeiden und positives Karma zu sammeln, steigen die Chancen auf die Wiedergeburt in einem»besseren«körper als der jetzige es ist. Das Anhäufen negativen Karmas kann die Wiedergeburt in einer»niederen«wesensform zur Folge haben (z. B. als Hund). Es wird angestrebt, dem ewigen Rad der Wiedergeburten zu entrinnen und in der Weltseele (Brahman) aufzugehen. Demgemäß kann als letztes spirituelles Ziel der Gläubigen gelten, nicht mehr wiedergeboren zu werden. Nach Klostermaier (1994) ist Vergebung ein wichtiger Aspekt, um dem hinduistischen Pfad der Tugend (Dharma) zu folgen und positives Karma zu sammeln. Personen, die in diesem Leben nicht vergeben, sammeln negatives Karma und werden in einem späteren Leben dafür die negativen Konsequenzen tragen müssen. In den theistischen Strömungen des Hinduismus finden sich Beispiele göttlicher Vergebensakte (Zaehner, 1962). Grundsätzlich kann im Hinduismus Vergebung als Abwesenheit von Wut und Ärger im Angesicht eines Übergriffs verstanden werden (Temoshok & Chandra, 2000) Buddhismus Auch der Buddhismus geht vom Rad der Wiedergeburt und vom Konzept des Karmas aus. Dabei wird das Leben auf der Welt als mit jeder Wiedergeburt wiederkehrendes Leid angesehen, aus dem der gläubige Mensch den Austritt anstrebt. Darüber hinaus wird die Grundidee vertreten, dass alles Leben, alle Dinge, alle Ereignisse miteinander in Beziehung stehen. Daher ist das Konzept eines Opfers und 74 4 Schuld Kränkung Verletzung: Die Themen der Vergebensarbeit

76 eines Täters schwierig auf eine buddhistische Weltsicht anwendbar, da beide als miteinander verbunden verstanden werden. Das spirituelle Konzept, welches mit der Vergebung am ehesten vergleichbar ist, entspricht dem der Duldsamkeit. Sie besitzt zwei Facetten: einerseits das Aushalten einer Schädigung durch einen Verursacher und andererseits das Zurückweisen von Ärger über einen Schädiger. Überdies haben»mitleid«und»bedauern«einen hohen Stellenwert im buddhistischen Glauben und gelten als religiöse Tugenden. Ziel dieser Tugenden ist es, einen Schädiger nicht mehr als Schädiger aufzufassen. Die Gläubigen sollen empathisch mit dessen Leid fühlen, Verständnis für ihn entwickeln und sich darum bemühen, sein Leid zu lindern unabhängig davon, ob er dies verdient hat (vgl. ausführlich Rye und Kollegen, 2000). 4.4 EXKURS: Religionsbezogene Aspekte der Vergebung 75 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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78 Teil II Prozess 5 Der Prozess des Vergebens 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen 7 Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen 8 Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben 9 Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken, inneren Einwänden und schwierigen Gefühlen konstruktiv umgehen 10 Fünfte Phase Ausrichtung auf die Zukunft und Gestaltung des Kontaktes zum Verletzer 11 Vergeben in Gruppen Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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80 5 Der Prozess des Vergebens 5.1 Äußere Rahmenbedingungen Ein Klient, der beginnt sich mit dem Prozess des Vergebens auseinanderzusetzen, lässt sich auf einen sehr schmerzhaften Prozess ein. Zum Ersten muss er sich umfassend mit den realen Folgen der erfolgten Verletzung auseinandersetzen. Des Weiteren muss er sich möglicherweise damit auseinandersetzen, dass eine andere Person ihn wissentlich oder gar vorsätzlich geschädigt oder zumindest sein zu Schaden kommen billigend in Kauf genommen hat. Oft sind viele Aspekte des Erlebten für ihn mit Scham besetzt. Darüber hinaus stellt die mögliche Auseinandersetzung mit eigenen Schuldaspekten eine weitere schwierige Herausforderung für den Klienten und zum Teil auch für den Begleiter dar Der Begleiter in Vergebensprozessen Aus diesem Grund benötigt der Klient einen Begleiter, der ihm für die Dauer des Prozesses zuverlässig zur Verfügung stehen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich manche Vergebensprozesse über einen längeren Zeitraum hinziehen, in denen vom Klienten nur sporadisch Kontakt zum Begleiter gesucht wird. Dennoch stellt der Begleiter für den Klienten in diesem Prozess eine zentrale Bezugsperson dar. Des Weiteren sollte der Begleiter berücksichtigen, dass er im Verlaufe des Prozesses mit teilweise sehr belastenden Fakten konfrontiert werden könnte. Daher sollte er seine eigenen aktuellen Fähigkeiten zur Verarbeitung solcher Themen und seine Möglichkeiten zur erforderlichen Selbstfürsorge realistisch einschätzen und geeignete Supervisionsmöglichkeiten sicherstellen. Im Umgang mit Vergebensprozessen werden Begleiter nicht selten mit den Straftaten Dritter konfrontiert. Wenn ein Klient sich zu einem Vergebensprozess entschließt, geht er selbstverständlich von der vollständigen Verschwiegenheit des Begleiters aus. Beim Vorliegen von Straftaten ist diese Voraussetzung jedoch nur für bestimmte Berufsgruppen gegeben. Für folgende Berufsgruppen ist außer einer allgemeinen Verschwiegenheitspflicht eine echte Schweigepflicht mit einem Recht auf die Verweigerung einer Aussage vor einem Gericht gesetzlich garantiert: " Personen in medizinischen oder in einigen beratenden Berufen (gemäß 203 StGB), z. B.: Ärzte und Zahnärzte approbierte psychologische Psychotherapeuten alle weiteren Angehörigen von Heilberufen, die eine staatlich geregelte Ausbildung erfordern 5.1 Äußere Rahmenbedingungen 79 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

81 Sozialarbeiter und staatlich anerkannte Sozialpädagogen Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen " Geistliche sowie hauptamtliche Laien (das sind offiziell in Kirchen angestellte Personen, die nicht Pfarrer / Priester sind) (gemäß 53 StPO), wenn die Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist. Auch die Bedingungen, unter denen die Angehörigen dieser Berufsgruppen zur Anzeige einer geplanten Straftat verpflichtet sein könnten, sind (z. B. in 138 und 139 StGB) geregelt. (Schweigepflicht-online, Zugriff ) Für Angehörige anderer Berufsgruppen, die teilweise mit Vergebensprozessen arbeiten wie z. B. Heilpraktiker, ehrenamtlich tätige Personen in Kirchen, Coaches oder spirituelle Begleiter, gelten diese Vorschriften zur Schweigepflicht nicht. Sie sollten sich zwar ebenfalls zur Verschwiegenheit verpflichtet betrachten, haben jedoch kein Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht. Es kann in bestimmten Fällen zur Sorgfaltspflicht gegenüber dem Klienten gehören, diesen rechtzeitig darüber aufzuklären. Vergebensprozesse halten mehr und mehr auch im betrieblichen Bereich Einzug. Die Vergebensfähigkeit in Institutionen wird heute als wichtige Fähigkeit zur positiven Entwicklung von Organisationen betrachtet (Bright & Exline (2011); Cameron (2012)). Beispielsweise haben sich nach ungerechtfertigten Beförderungen, Entlassungswellen, etc. Vergebensprozesse im beruflichen Kontext als hilfreich erwiesen. Es ist davon auszugehen, dass zukünftig Vergebensprozesse auch für einzelne Mitarbeiter verstärkt im betrieblichen Kontext eingesetzt werden. Es sollte jedoch beachtet werden, dass ein möglicherweise vorhandener»innerbetrieblicher Coach«durch belastende Faktenkenntnis in einen schweren Loyalitätskonflikt mit seinem Arbeitgeber oder anderen Parteien gebracht werden kann. Für Vergebensprozesse ist daher in der Regel außenstehenden Begleitern der Vorzug zu geben. Vergebensprozesse erfordern häufig gute Kenntnisse im Umgang mit Traumata, Abschied und Trauer. Begleiter, die sich auf Vergebensarbeit einlassen möchten, sind gut beraten, sich in diesen Bereichen weiter zu qualifizieren. Vergeben hat unter anderem eine spirituelle Dimension. Dies kann bei Begleitern je nach ihrer eigenen spirituellen Haltung entweder zu erhöhten Erwartungen oder gegebenenfalls auch zu einer eher ablehnenden Haltung führen. Cornish, Wade und Knight (2013) weisen darauf hin, dass derartige Grundhaltungen einerseits zu übersteigert positiven Erwartungen oder zu einer zu geringen Wirksamkeitserwartung bezüglich eines Vergebensprozesses führen können Hinweise für den Klienten zum Umgang mit Briefen und Tagebüchern Schreiben hat sich im Rahmen von Vergebensprozessen als sehr hilfreich und unterstützend erwiesen (Enright, 2006). Die positiven Auswirkungen von einer schriftlichen Bearbeitung belastender Themen und Erfahrungen ist gut untersucht. So konnte gezeigt werden, dass Schreiben 80 5 Der Prozess des Vergebens

82 sowohl prospektiv beispielsweise im Umgang mit Ängsten vor Prüfungen (Ramirez & Beilock, 2011) als auch retrospektiv in der Verarbeitung belastender Ergebnisse (Pennebaker, 1993; 1997; 2009) wirksam ist. Thomas beschreibt schon 1972 die Wirksamkeit von emotionalem Schreiben in der Verarbeitung von aggressiven Emotionen (Thomas, 1972). Wenn nach belastenden Erlebnissen Emotionen ungefiltert»herausgeschrieben«werden, kann das spätere Lesen des Geschriebenen diese Emotionen reaktivieren. Daher erscheint es sinnvoll, mit dem Klienten zu vereinbaren, dass der Vergebensprozess in einem eigens dafür angeschafften Journal oder Tagebuch bearbeitet wird. Es kann hinterher entweder verbrannt oder so untergebracht werden, dass es dem Klienten später nicht wieder unbeabsichtigt in die Hände fällt. Eigentlich versteht es sich von selbst, dass der Klient mit seinen eigenen Unterlagen sorgsam umgeht und sie unzugänglich aufbewahrt. Dennoch kommt es immer wieder zu unerwünschten Komplikationen. Beispiel Im Rahmen einer sehr schwierigen Trennung, die mit vielfältigen Kränkungen einhergegangen war, hatten beide Partner zum Wohle der Kinder vereinbart, diese nicht»in die Situation hinein zu ziehen«. Bisher hatten sich sowohl die Klientin als auch der Partner strikt daran gehalten. In den letzten Tagen war die Klientin wieder sehr erbost, da der Kindesvater alles versuchte, um die Unterhaltszahlungen (trotz angemessener Verdienstlage) so minimal wie möglich zu halten. Sie empfand dieses Verhalten als persönliche Kränkung und für ihre Kinder als Verletzung. In dieser Situation hatte sie wie schon öfter vorher Wutbriefe an ihren ehemaligen Partner geschrieben, die nicht zum Abschicken bestimmt gewesen waren. Die Briefe hatte sie»aus Versehen«unter ihrem Kopfkissen liegen lassen. Ihr zwölfjähriger Sohn»fand«die Briefe dort zufällig und zeigte sie seinen beiden älteren Geschwistern. Die beiden jüngeren Kinder bezogen darauf hin eindeutig Position für die Mutter, während der 17-jährige Sohn, mit dem es vorab schon einige Diskussionen und Schwierigkeiten gegeben hatte, spontan zum Vater zog. Später, im Verlauf der therapeutischen Arbeit, ordnete die Klientin dieses»vergessen«spontan als unbewussten Racheakt ein, der ihr durchaus Genugtuung verschafft hatte, obwohl sie sich dafür sehr schämte. Es kann nützlich sein, mit einem Klienten zum Beispiel anhand einer entsprechenden Fallvignette über derartige Möglichkeiten zu sprechen. Es ist sinnvoll darauf hinzuweisen, dass sowohl Kinder als auch weitere Angehörige sehr interessiert an allen schriftlichen Aufzeichnungen sein könnten. Der Aufbau von Gewohnheiten kann Klienten an dieser Stelle helfen, sich eine angemessene Privatsphäre zu sichern. Je stärker das Schreiben im Sinne eines Rituals an einem festen Platz zu einer festen Zeit stattfindet, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Ritual vollständig abläuft. Die 5.1 Äußere Rahmenbedingungen 81 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

83 Materialien werden also erst geholt, wenn geschrieben werden soll und zum Abschluss wieder sicher verwahrt. Bei betrieblichen Themen bietet es sich an, sämtliche schriftlichen Unterlagen ausschließlich zu Hause aufzubewahren. Da es sich häufig um schwerwiegende Vorwürfe handelt, die auch andere Mitglieder der Familie / des Systems betreffen, ist es sinnvoll im Laufe der Zeit gemeinsam mit dem Klienten zu besprechen, wie nach seinem Tod mit den eventuell noch verbliebenen Unterlagen verfahren werden soll. Derartige Überlegungen führen oft dazu, dass ein Klient sich entscheidet, alle schriftlichen Unterlagen selber zu vernichten. 5.2 Indikation und Kontraindikationen Der Gedanke an die Möglichkeit des Vergebens tritt in länger andauernden Therapieund Coachingsituationen meist erst auf, wenn das entsprechende Thema schon unter anderen Aspekten betrachtet worden ist und dennoch nicht abgeschlossen werden konnte. Dabei spielt oft die inhärente Schuldfrage eine wesentliche Rolle, die sich mit anderen Prozessen schwer oder gar nicht bearbeiten lässt.! Die Grundvoraussetzung für die Anwendbarkeit eines Vergebensprozesses besteht darin, dass eine Person das Opfer einer schuldhaften Handlung eines Dritten oder einer Gruppe geworden ist. Liegt diese typische Indikation vor, sollte ein Begleiter einen derartigen Prozess vorschlagen. Falls Klienten spontan mit dem Wunsch kommen, vergeben zu wollen, sollte geprüft werden, ob möglicherweise ein zugrunde liegendes Trauma bereits adäquat behandelt wurde. Vergebensprozesse lösen i. d. R. keine klassischen Traumasymptome wie Flashbacks etc. aus. Falls erforderlich, sollten diese vorab adäquat behandelt werden. Es besteht ansonsten das Risiko, durch die intensive Arbeit am Thema, das Trauma zu reaktualisieren. Obgleich Vergebensprozesse in der Regel zu einer emotionalen Entlastung des Opfers führen, gibt es dennoch einige Einschränkungen der Indikation. Untersuchungen (McNulty, 2010) haben gezeigt, dass schnelles Vergeben in Partnerschaften dazu führen kann, dass der verletzende Partner sein unangemessenes Verhalten fortsetzt oder gar steigert. Die emotionale Belastung des Opfers wird hierdurch weiter verstärkt. Dieses Verhalten ist insbesondere bei narzisstischen Verletzern der Fall. Eine Einschränkung der Indikation eines Vergebensprozesses kann auch ein anstehender Gerichtsprozess sein. Mündliche Erfahrungsberichte beschreiben Fälle, in denen ein erfolgreicher Vergebensprozess (nach Missbrauchssituationen) dazu geführt hat, dass ein Opfer angeblich wegen seiner nicht mehr so stark vorhandenen negativen Emotionalität vor Gericht an Glaubwürdigkeit verloren hat. Derartige Situationen 82 5 Der Prozess des Vergebens

84 führen ggf. zu einer erneuten Traumatisierung, zumindest aber einer Belastung des Opfers. Daher sollten sie vorab berücksichtigt und besprochen werden. Eine weitere Einschränkung der Indikation ist gegeben, wenn der Klient aufgrund der Forderung eines Dritten mit dem Vergebungsprozess beginnen will. Hier ist zuerst die Klärung der Beziehung zur fordernden Person oder Institution zu klären. 5.3 Prozessablauf Nachdem die Grundlagen im Überblick dargestellt worden sind, folgt ein strukturierter Überblick, wie ein Vergebensprozess begleitet werden kann. Wie bereits dargestellt, verläuft dieser Prozess in der Regel nicht streng linear. Der Klient springt auch von sich aus häufiger zwischen verschiedenen Prozessschritten hin und her. Wir gliedern diesen Prozess in fünf größere Phasen: (1) Den Vergebensprozess als reale Chance begreifen: Der Klient lernt den Vergebensprozess als Möglichkeit zum Umgang mit schuldhaftem Verhalten kennen. Der Prozess wird als Chance betrachtet, um mehr Freiheit, Zufriedenheit und Gesundheit im Leben zu erleben. Der Klient erkennt dabei die Chancen und die zugehörigen Aufgaben und Nebenwirkungen. Wenn er diesen Prozess für sich wünscht, entscheidet er sich explizit dafür, sich prinzipiell auf diesen Prozess einzulassen. (2) Den Verlust und die Folgen in vollem Umfang anerkennen und Verantwortung übernehmen: In diesem Prozessabschnitt betrachtet der Klient die realen Verluste, die emotionale Verletzung und ihre Folgen. Er erkennt diese an und übernimmt mit Entschiedenheit die Verantwortung für den Weg des Vergebens (und eines weiteren Lebens in möglichst großer innerer Freiheit und Zufriedenheit). (3) Dem Täter und sich selbst vergeben: Dieser Abschnitt fokussiert die Auseinandersetzung mit den beteiligten Personen Täter Opfer (und ggf. weiteren Beteiligten, z. B. Zuschauern oder wegschauende Zeugen). Das erste Ziel besteht darin, die Hintergründe und Ursachen so weit wie möglich zu verstehen. Darauf baut das zentrale Ziel des Prozesses auf, allen Beteiligten zu vergeben. (4) Den Vergebensprozess aufrechterhalten und auftretende Einwände bearbeiten: Da der Vergebensprozess kognitiv initiiert wurde und die emotionale Verarbeitung langsamer erfolgt, treten oft auch nach dem Akt des Vergebens noch innere Einwände und negative Gefühle auf. Hier liegt der Schwerpunkt darauf Methoden zu erlernen, um damit konstruktiv umzugehen. (5) Die Zukunft und insbesondere die Beziehung zum Verletzer gestalten: Im letzten Abschnitt wird der weitere Umgang mit dem Verletzer geklärt. Darüber hinaus werden die Neuorientierung des eigenen Lebens und die Ausrichtung auf die eigenen Werte und Ziele betrachtet. So kann ein umfassendes Lebensszenario entstehen, dass die Verletzung als abgeschlossenen Teil der persönlichen Biografie integriert und auch ein eventuelles posttraumatisches Wachstum würdigen kann. 5.3 Prozessablauf 83 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

85 Der Prozess enthält in den ersten drei Phasen drei aufeinanderfolgende Entscheidungsschritte zum Vergeben. Dadurch wird eine möglichst große Steigerung der Entschiedenheit angestrebt. " Erster Schritt: Es wird die Entscheidung getroffen, diesen Weg konsequent zu beschreiten. Dadurch entsteht eine erste Verbindlichkeit. " Zweiter Schritt: Es folgt die Entscheidung, angesichts des emotional wirklich erfassten Verlustes, dem Täter das Geschenk der Vergebung wirklich zukommen lassen zu wollen. " Dritter Schritt: Hier erfolgt die formale Vergebung. Diese lässt sich wirksam mit einer Urkunde dokumentieren. Durch eine gestaltete und unterschriebene Urkunde entsteht ein hoher emotionaler Impact, der die Wirksamkeit erhöht. Gleichzeitig erfolgt die dokumentierte Entscheidung, an der Vergebung festzuhalten. In den letzten beiden Phasen geht es um die Umsetzung der erfolgten Vergebung im realen Leben. Die Grafik 5.1 stellt die fünf großen Phasen und wichtige einzelne Schritte des Prozesses im Überblick dar. Der aufgezeigte Grundprozess beinhaltet dabei sowohl die Aspekte des REACH- Modells von Worthington (2005), als auch die Elemente des Prozessmodells von Enright (2006). Der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Vergeben bezieht sich auf den Einsatz dieser Modelle. Beide Modelle sind mit ihren Hauptfaktoren im Überblick kurz tabellarisch dargestellt: Tabelle 5.1 Vergleichender Kurzüberblick über die Vergebungsmodelle von Enright und Worthington Prozessmodell von Enright REACH-Modell von Worthington Die negativen Gefühle entdecken, die R = Recalling: die negativen Gefühle zugehörigen Denkmuster aufdecken und werden (im Rahmen einer sicheren die Gefühle zulassen Beziehung) noch einmal betrachtet, so nüchtern wie möglich, unter Einbeziehung der Gesamtsituation. Die Entscheidung, zu vergeben, weil andere Coping-Strategien nicht wirken Entwicklung eines Verständnisses für den Täter E = Emotional Reprocessing oder Empathie: Entwicklung eines Verständnisses für die Sichtweise des Täters. Dabei werden so weit wie möglich die sozialen und biografischen Rahmenbedingungen berücksichtigt (gegebenenfalls werden sie auch konstruiert) Der Prozess des Vergebens

86 Tabelle 5.1 (Fortsetzung) Prozessmodell von Enright Dem Täter das unverdiente Geschenk der Vergebung machen (prinzipiell dem Täter ein Geschenk machen) Die Bedeutung des eigenen Leidens entdecken und unerwartete positive Nebeneffekte der Situation entdecken REACH-Modell von Worthington A = Altruistic Giving: dem Täter wird uneigennützig Vergebung gewährt, gegebenenfalls wird er gesegnet, da er eine bedürftige Person darstellt. C = Commitment: die Entscheidung, dem Täter zu vergeben gegebenenfalls unter Ausstellung einer Vergebungssurkunde oder eines Vergebungsbriefes. H = Hold: Entwickeln der Überzeugung, an dem Prozess der Vergebung festzuhalten und eventuell auftretenden negativen Erinnerungen und Gefühlen so wenig wie möglich zu folgen. Dabei wird gegebenenfalls auf die schriftlichen Unterlagen zurückgegriffen. Elemente aus beiden Prozessen finden sich im folgenden Modell wieder, welches den in diesem Buch beschriebenen Prozess überblickshaft abbildet. Darüber hinaus ist es durch Elemente aus der Modusarbeit der Schematherapie ergänzt. 5.4 Motivation Ein Vergebensprozess beginnt also entweder damit, dass ein Klient von sich aus dieses Thema anspricht oder der Therapeut diese Möglichkeit als psychologischen Prozess einführt. Falls ein Klient von sich aus die Begleitung in einem Vergebensprozess sucht, hat er in der Regel schon viel über das Thema nachgedacht. Meist hat er auch schon alles Mögliche versucht, um aus seiner gefühlten emotionalen Falle herauszukommen allerdings ohne dauerhaften Erfolg. Vielleicht hat er auch schon einiges zum Thema Vergeben gelesen oder er wurde von Angehörigen zum Vergeben gedrängt. In solchen Fällen besteht die Motivation des Klienten meist in Resignation (»Es hat eh keinen Zweck, anders hört es nie auf.«) oder vielleicht auch in einem kreativen Kapitulieren (»Wenn ich das nicht loslasse, behindere ich mich selber und komme nicht weiter.«). 5.4 Motivation 85 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

87 Ziel definieren Vergeben wollen Definition von Vergeben etc. Betrachten der Auswirkung des Vergebens Anerkennen des Verlustes Verzicht auf Rache und Sekundärgewinne Strategien zum Umgang mit Gefühlen ggf. Traumabearbeitung ggf. Trauerarbeit Entscheidung und Entschiedenheit Täter als Person sehen Geschehen zwischen Täter und Opfer klären, mit Täter- oder Selbstvergebung beginnen Täter aus seiner Rolle entlassen Dem Verletzer mit einem Ritual vergeben Eigene Schuldanteile vorhanden? Sichern der Lernaspekte ja Übernahme der eigenen Verantwortung Sich selber vergeben je nach Prozess mit Täter- oder Selbstvergebung fortsetzen Das Selbstvergeben annehmen Strategien zum Umgang mit später auftauchenden Einwänden und Rest-Gefühlen Umgang mit Verletzer klären Neuausrichtung Zukunftsorientierung Abbildung 5.1 Überblick über die Phasen und wichtige Schritte eines exemplarischen Vergebensprozesses 86 5 Der Prozess des Vergebens

88 Seltener trifft man Klienten an, die die Unterstützung suchen, weil sie eine aktive Entscheidung für ein freies Leben in der Zukunft getroffen haben. Eine weitere größere Gruppe von Klienten sucht aus spirituellen oder religiösen Gründen Begleitung in Vergebensprozessen. Je nach Zugehörigkeit des Klienten zu einer bestimmten Religion ist eine spezifische religiöse Begleitung sinnvoll. Die psychologischen Aspekte der religiösen Prozesse verlaufen jedoch ebenfalls nach den hier dargestellten psychologischen Grundmustern. Deswegen kann die Kenntnis dieser psychologischen Aspekte bei der Begleitung religiöser Prozesse hilfreich sein. Wenn Klienten von sich aus das Thema Vergeben ansprechen, werden einerseits Themen benannt, in denen der Klient klares Opfer (z. B. einer schweren Straftat) war und einen massiven Verlust zu beklagen hat. Andererseits werden gerade von aktiv vergebenswilligen Klienten auch häufig Themen benannt, bei denen es sich eher um subjektive Kränkungen in bestehenden Beziehungen handelt (teilweise auch um unklare Situationen mit Selbstzuschreibungen von Opferrollen). Mit beiden Arten von Klienten kann ein Vergebensprozess durchgeführt werden. Die Prozesse werden jedoch im Ablauf deutlich variieren und die angebotenen Übungen und Strategien müssen vom Begleiter entsprechend an die Bedürfnisse des Klienten angepasst werden. Wenn der Klient die Begleitung eines Vergebensprozesses von sich aus initiiert, besteht die Aufgabe des Begleiters vornehmlich erst einmal darin, zu ergründen, welche Motivationen, Erwartungen und Vorstellungen der Klient bezüglich des Prozesses hat. Häufig ist es erforderlich, Missverständnisse zu klären (vgl. Abschnitt 3.5.1) und Vergeben gegen andere ähnliche Prozesse abzugrenzen (vgl. Kap. 3). Falls ein Therapeut das Vergeben als Möglichkeit in den Raum stellt, eine belastende Situation abzuschließen, wird er die Chancen und den Prozess vermutlich eher systematisch vorstellen und einführen. 5.4 Motivation 87 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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90 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen Zu Beginn der ersten Phase geht es darum, den Klienten mit dem Konzept des Vergebens bekannt zu machen und seine Ziele und Erwartungen im Zusammenhang mit dem Vergeben und seinem weiteren Leben zu erforschen. Die erste Phase des Prozesses beinhaltet meist folgende Aspekte: " Ziele des Vergebens erfassen und Verständnis für die Bedeutung im eigenen Leben entwickeln. Die Fragen lauten:»gibt es etwas zu vergeben?«und wenn ja,»wozu sollte ich vergeben?«(1) Klärung des Zieles / der Ziele des Klienten (2) Klären, was Vergeben bedeutet und welche Vorteile sich für den Klienten (und auch dessen System) dadurch bieten. Dabei auch untersuchen, welche emotionalen Kosten der Prozess beinhaltet. (3) Auflösung eventuell bestehender Illusionen, dass Vergeben allein ausreicht, um den Verletzer zu verändern und eine neue bzw. bessere Beziehung zu ermöglichen. " Erste Beschreibung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes. Folgende Fragen werden behandelt:»was ist eigentlich geschehen?«und»wie reagiert der Klient, wenn das Thema angesprochen wird oder auftaucht?«(1) genaues Benennen der verletzenden Situation und der Verursacher:»Wer hat wem was angetan?«(2) bisher angenommene Haltung des Täters (Unterlassung, Fahrlässigkeit, Vorsatz, Boshaftigkeit) analysieren:»weshalb hat der Täter wohl so gehandelt?«(3) bisherigen Umgang des Klienten mit dem Thema untersuchen:»wie reagieren Sie normalerweise, wenn das Thema angesprochen wird?«" Analyse der Folgen der jetzigen Situation:»Welche Auswirkungen hatte das emotionale Festhängen an der Tat über die Zeit für den Klienten (und sein System)?«(1) Das Anerkennen des Fortbestehens der»macht des Täters«durch wiederholtes Durchspielen der Grollreaktion. Dabei geht es um ein Verständnis für die noch nicht geschlossene Gestalt. (2) Das Herausarbeiten der Rumination und der dadurch ausgelösten Gefühle. (3) Die Analyse der Auswirkungen von Wut, Groll, Schuld und Scham über den vergangenen Zeitraum seit der auslösenden Situation. Dies erfolgt unter Anerkennung der oft daraus entstandenen langfristigen Verletzungen von Selbstachtung und Selbstwert auf Opferseite. Ebenso sind auch mögliche Sekundärgewinne, wie Bindungserhalt, Selbstmitleid, Selbstgerechtigkeit, narzisstischer Gewinn, zu berücksichtigen. (4) Einüben eines Umgangs mit möglichen automatisch auftauchenden Gedanken 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen 89 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

91 " Erste kognitive Entscheidung zum Vergeben (1) Das Eruieren der Wünsche, Ziele und Werte des Klienten, die dieser statt der Grollreaktion leben möchte. Hier kann ggf. eine verkürzte Wunderfrage eingesetzt werden (s. Arbeitsmaterial, AB 2). (2) Die erste Entscheidung zum Vergeben. Sie beinhaltet den bewussten Verzicht auf Rache. 6.1 Ziel des Vergebens und Verständnis seiner Bedeutung Wenn ein Klient immer wieder in bestimmten Zusammenhängen von der Schuld Dritter oder von einem Täter spricht, ist es sinnvoll in einer ersten Analyse zu klären, ob es sich um ein schuldhaftes Geschehen handelt und ob Vergeben als Prozess überhaupt angezeigt ist. Da Schuld viele Aspekte hat, bietet es sich an, mit dem Klienten die Situation unter all diesen Aspekten zu betrachten. Das Frageschema zur Schuld-Analyse in der Grafik 6.1. zeigt die dabei auftretenden Fragen. Ein Vergebensprozess ist nur sinnvoll, wenn der Klient das Empfinden hat, dass er schuldhaft ungerecht behandelt worden ist und er gegenüber dem Täter eigentlich eine Wiedergutmachungs- oder Straferwartung hat, die enttäuscht worden ist. Das bedeutet, das Opfer kann aus seiner Sicht eine Anklage formulieren. Darüber hinaus hat es meist eine Forderung nach Strafe und / oder Wiedergutmachung (bzw. das Opfer hat Groll- oder Rachegedanken). Es kommt auch vor, dass das Opfer den Täter zwar schuldig spricht, jedoch keine Straferwartung hat. Entweder hat bereits ein Vergebensprozess begonnen oder das Opfer ist noch nicht in der Lage»den Mut«aufzubringen, die Möglichkeit eines Bestrafungswunsches gegenüber dem Täter ins Auge zu fassen. Das trifft beispielsweise häufiger bei Missbrauchssituationen durch nahe Angehörige zu, die gleichzeitig auch positive Bindungsaspekte anbieten. In derartigen Fällen bricht der Bestrafungswunsch teilweise während des Vergebensprozesses auf. Eine genaue Betrachtung der Schuldsituation bietet (neben der allgemeinen Klärung der Indikation) auch den Vorteil, dass Klienten besonders bei komplexen Kränkungssituationen oft schon früh eigene Anteile erkennen und der Schuldvorwurf möglicherweise ganz entfällt.! Ob eine Schuld vorliegt, entscheidet allein das Opfer. Wenn nach Ansicht des Opfers ein schuldhaftes Verhalten eines Täters gegeben ist, kann ein Vergebensprozess sinnvoll und erfolgreich sein. Täter können Personen, aber auch Organisationen oder Institutionen sein. (In einem zweiten Schritt können auch zuschauende, nicht eingreifende Zeugen oder schweigende mitwissende Angehörige als Täter betrachtet werden). Eine besondere aber durchaus häufige Situation tritt beim Tod naher Angehöriger auf, wenn das Opfer sich von ihnen im Stich gelassen fühlt Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen

92 Frageschema anhand dessen mit einem Klienten, der Schuldgefühle hat, untersucht werden kann, ob seine subjektiven Schuldgefühle, -zuschreibungen und Wiedergutmachungserwartungen an andere oder an sich selbst sachlich gerechtfertigt erscheinen. Gibt es einen Schaden (Verletzung, Kränkung,...)? Ist dieser Schaden durch»jemanden«verursacht? Ist der Verursacher»Schuld«? Wusste er überhaupt, dass so eine Regel existiert? Hat er in der Situation erfassen können, dass es um diese Regel ging? Hatte er die Chance frei zu entscheiden? Hat er sich auf der Basis seiner Entscheidungsmöglichkeit gegen das»richtige«entschieden? JA JA Andere Prozesse: Akzeptanz, ggf. Trauer, ggf. Übernahme von Ausgleichsverantwortung nein nein nein nein nein nein ja ja JA Schuldgedanke (Anklage):»Ist der Täter schuldig?«und / oder»bin ich schuldig?«ja Schuldempfinden, müsste sich der Täter (ich mich) für die Tat schuldig fühlen? JA nein nein ja Gibt es eine Wiedergutmachungsund / oder Straferwartung? nein Bezogen auf den Täter JA Ausgleichspflicht & Strafforderung JA Bezogen auf sich selbst JA Ausgleichsbedürfnis &»Bußbedürfnis«JA Gibt es eine erwartete Straf- / Bußqualität und -dauer? Welches Strafmaß würde als»gerecht«empfunden? JA nein Vergebensprozess ist sinnvoll Abbildung 6.1 Frageschema zur Schuld-Analyse für die Feststellung der Rechtfertigung von Schuldzuschreibungen 6.1 Ziel des Vergebens und Verständnis seiner Bedeutung 91 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

93 Hier sind erfolgreiche Vergebensprozesse möglich, obwohl der Begleiter oft keine Schuld des Verstorbenen erkennen kann. Eine extreme Verstärkung dieser Situation findet sich oft bei Hinterbliebenen von Suizidopfern. Die Hinterbliebenen fühlen sich einerseits selbst als Verlassene und Opfer, andererseits entwickeln sie häufig intensive eigene Schuldgefühle, da sie den Suizid nicht verhindern konnten. Auch hier sind erfolgreiche Vergebensprozesse möglich und wirksam. Allerdings brauchen sie oft deutlich mehr Zeit und werfen teilweise zusätzliche Themen auf (Trauer, ggf. Traumatisierungen, ). Die ersten Schritte bestehen meist in der Validierung aller vorhandenen Gefühle. Oft ist in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Psychoedukation über die Normalität von extrem widersprüchlichen Gefühlen erforderlich. Manchmal erkennen Klienten während dieser Schuld-Analyse, dass im eigentlichen Sinne keine Schuld vorliegt. Sie erfassen, dass sie zwar ein Schuldgefühl oder ein Schuldzuweisungsgefühl gegenüber dem»täter«empfinden, sie können dem jedoch keine beschreibbare Schuld zuordnen. In derartigen Situationen sind Vergebensprozesse nicht sinnvoll. Bei näherem Hinterfragen lassen sich häufig zugrunde liegende Schemareaktionen (beispielsweise aufgrund des Schemas Bestrafungsneigung) identifizieren, die z. B. im Rahmen einer Schematherapie bearbeitet werden können. Auch an systemische Ursachen sollte dann gedacht werden. Wenn die Indikation zu einem Vergebensprozess gegeben ist, bietet es sich an, Vergeben als einen erlernbaren psychologischen Prozess zu definieren. Dieser ermöglicht es, langfristig immer freier von Ärger, Wut und Groll zu werden. Dabei hilft es oft, auf die wissenschaftlich erwiesenen positiven Auswirkungen von Vergebung hinzuweisen (vgl. Abschn ). Für den Klienten wirkt häufig die Information unterstützend, dass Ungerechtigkeiten und Verletzungen normale Bestandteile des menschlichen Lebens sind, die immer wieder auftreten. Dann ist das Erlernen eines adäquaten und professionellen Umgangs auch eine Investition in die Zukunft, die zu mehr Lebenszufriedenheit führt. Vergebenskompetenz wird von vielen Autoren als ein Aspekt charakterlicher Reife betrachtet. Es ist entscheidend zu verdeutlichen, dass es sich um einen philosophisch-psychologischen Vorgang handelt, der unabhängig von Religionen zu mehr Freiheit im eigenen Leben führen kann. Ebenso ist es oft sinnvoll, Vergebensbereitschaft als psychologische Charakterstärke (Peterson & Seligman, 2004) darzustellen, die erlernt, erweitert und trainiert werden kann. Wording Die Idee, die ich jetzt gerne ansprechen möchte, mag Ihnen merkwürdig vorkommen. Viele Menschen kommen auch nicht darauf, dass es sich dabei um ein psychologisches Konzept handelt. Aber Ungerechtigkeiten und Verletzungen sind ja leider Bestandteile des menschlichen Lebens und fast niemand kommt um so etwas herum. Und das kann man weder leugnen noch wegwischen und trotzdem 92 6 Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen

94 soll es ja irgendwie gut danach weitergehen. Deswegen möchte ich zumindest die Möglichkeit eines Vergebensprozesses in den Raum stellen. Vergeben ist ein psychologisches Konzept, das inzwischen sehr gut untersucht ist. Vergeben wirkt sich nachweislich positiv auf die Gesundheit aus auf Schmerzen, auf das Herz- Kreislaufsystem. Außerdem erhöht Vergeben die Zufriedenheit und ist gut für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Und ich weiß nicht, was Sie darüber schon einmal gehört haben, und wie Sie darüber denken? Nachdem die Sichtweise des Klienten erfragt worden ist, folgt ein kurzer zusammenfassender Überblick über den möglichen Vergebensprozess. Eine sachliche, psychologische Darstellung (und eventuell auch eine bewusste Abgrenzung von einer religiösen Vergebung) hilft gerade Klienten aus säkularen Kontexten sich auf diesen Prozess einzulassen. Sobald dem Klienten bewusst ist, dass die Einstellungen zu seiner Vergangenheit sein Empfinden in Gegenwart und Zukunft beeinflussen, wird Vergeben als Möglichkeit zur Beeinflussung der Zukunft attraktiver (Seligman, 2014). Wording Unser Gehirn ist darauf programmiert, dass wir uns an negative Dinge besser erinnern. Das hat mit unserer Entwicklung im Laufe der Evolution zu tun. Diejenigen, die sich an Gefahrenstellen und gefährliche Situationen nicht gut genug erinnert haben, wurden gefressen, ehe sie Kinder bekommen konnten. Wir stammen also sozusagen von Vorfahren ab, die auf das Negative trainiert waren. Noch heute speichert unser Gehirn Negatives intensiver und ruft es schneller ab. Das führt aber dazu, dass wir uns unsere negativen Erlebnisse aus dem Gedächtnis immer wieder abrufen und uns mit unseren negativen Erinnerungen das Leben oft unnötig schwer machen. Ein führender Depressionsforscher (Martin Seligman) untersuchte, was wir tun können, um unsere Erinnerung so zu beeinflussen, dass wir negative Ereignisse abschließen und uns mehr und mehr auf unsere positiven Erfahrungen konzentrieren. Im Rahmen umfangreicher psychologischer Untersuchungen hat er unterschiedliche Stärken von Menschen beschrieben, die man auch trainieren kann. Einige dieser Stärken beeinflussen auch unsere Haltung zur Vergangenheit. Dazu gehören z. B. Vergebensbereitschaft und Dankbarkeit. Seligman sagt:»ihre Gefühlseinstellung zu ihrer Vergangenheit Zufriedenheit oder Stolz einerseits oder Bitterkeit und Scham hängt ausschließlich von ihren Erinnerungen ab. Es gibt keine andere Quelle. Der Grund, warum Dankbarkeit unsere Lebenszufriedenheit steigert, ist, dass Dank gute Erinnerungen an die Vergangenheit anwachsen lässt.«an anderer Stelle führt er aus, dass der beste Ausweg aus dem emotionalen Dschungel negativer Emotionen im Gehirn derjenige ist, sein Denken dadurch zu ändern, dass man seine persönliche Lebensgeschichte durch das Vergeben um- 6.1 Ziel des Vergebens und Verständnis seiner Bedeutung 93 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

95 schreibt Es gibt vielleicht auch noch andere Möglichkeiten, aber Vergeben ist ein sehr effektiver Weg, sich von alten Kränkungen und Verletzungen freizumachen. Außerdem führt Vergeben dazu, dass Menschen glücklicher und zufriedener miteinander in ihren Familien und Betrieben leben können, viele Religionen betrachten Vergeben deswegen auch als wichtige Tugend (im psychologischen Sinne gemäß Peterson und Seligman (2004)). Heute weiß man, dass Vergeben eine sehr hilfreiche, gesundheits- und zufriedenheitsfördernde allgemein vorhandene menschliche Fähigkeit ist. 6.2 Mögliche Auswirkungen von Festhalten und Loslassen Anschließend bietet es sich an, den Klienten bei seiner Reflexion über die Auswirkungen des Nicht-Vergebens und des Verhaftetbleibens in Ärger und Groll etc., bzw. auf die Auswirkungen eines möglichen Vergebens auf sein weiteres Leben zu unterstützen. Je nach der individuellen Situation des Klienten können die verschiedenen Vorteile (siehe Abschn ) und auch die Kosten und Nebenwirkungen des Vergebens (siehe Abschn ) von Bedeutung sein. Um einen guten Einstieg in die Thematik zu finden, bieten sich insbesondere klärende reflexive Zukunftsfragen aus der Familientherapie an. Tomm (2009) schreibt:» Familien mit Problemen sind oft so mit diesen momentanen Schwierigkeiten oder auch vergangenen Ungerechtigkeiten beschäftigt, dass sie als Folge davon keine Zukunft sehen können. Sie lenken ihre Aufmerksamkeit so wenig auf die Zeit, die vor ihnen liegt, dass sie im Hinblick auf zukünftige Alternativen oder Möglichkeiten völlig ausgelaugt sind.«in analogen Situationen befinden sich Klienten, die jahrelangen Groll mit sich herumtragen. Klärende reflexive Zukunftsfragen zielen auf vier verschiedene Aspekte ab, von denen vor allem die ersten drei für das Vergeben bedeutsam sind: " die Förderung eigener Ziele:»Wie möchten Sie in fünf / zehn Jahren leben?was wird geschehen, wenn die Situation (Ihr Groll, ) so bleibt, wie sie jetzt ist?was könnte geschehen / sich entwickeln, falls sie wirklich vergeben könnten und würden?«" die Förderung von Zielen im eigenen System:»Was wünschen Sie sich in Bezug auf die Entwicklung ihres Systems (Familie / Betrieb / Team, )?Welche Folgen hätte Vergeben / Nicht-Vergeben für ihr System?«" die Förderung von Zielen für andere:»wem wollen Sie in welcher Art als Vorbild dienen und ihre Werte vermitteln?«" die Förderung allgemein kollektiver Ziele Diese Fragen haben mehrere Vorteile Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen

96 " Sie zeigen die Ziele und Erwartungen, die der Klient mit dem geplanten Prozess verbindet. Hier kann der Therapeut ergänzend weitere Vorteile und weiteren Nutzen vermitteln. " Darüber hinaus decken sie häufig ein ganzes Netz von Befürchtungen auf, die im Zusammenhang mit Vergebensideen auftreten können. Diese Themen können gesondert bearbeitet werden. " Weiterhin treten bei der Beantwortung übertriebene und unrealistische Erwartungen auf. So gehen manche Klienten davon aus, dass sich der Täter selbstverständlich verändert, falls der Klient ihm vergeben haben sollte. Auch derartige Illusionen werden so zugänglich und können bearbeitet werden. " Gleichzeitig suggerieren verschiedene der vorgestellten reflexiven Zukunftsfragen, dass Vergeben etwas Mögliches ist. Zur Beantwortung muss der Klient die Möglichkeit, vergeben zu haben bereits antizipieren. Das bewirkt, dass der Klient mit dieser Denkmöglichkeit immer vertrauter wird. Es ist nicht selten, dass ein Klient kognitiv die Sinnhaftigkeit des Vergebens schnell erkennt und auch bereitwillig zustimmt, gleichzeitig treten jedoch häufig ambivalente Gefühle gegenüber dem Prozess auf. Der Klient zweifelt an seiner grundsätzlichen Fähigkeit zu vergeben. Diese Einwände sollten sehr ernst genommen und validiert werden. Wording Es ist völlig normal, dass Menschen am Anfang eines Vergebensprozesses daran zweifeln, dass so etwas überhaupt klappen kann. Schließlich haben Sie es sich ja nicht ausgesucht, dass das Thema permanent immer wieder einen derartigen Platz in ihrem Leben einnimmt. Dennoch hat sich gezeigt, dass»vergeben können«eine normale, lernbare menschliche Fähigkeit ist, nur lernen wir das heute leider nur noch selten. Vergeben kann bei manchen Menschen auch ganz schön lange dauern. Aber Sie könnten das ja auch ganz in Ruhe in Ihrem Tempo machen. Sie können jederzeit Pausen machen oder mal wieder einen Schritt zurückgehen das ist alles völlig normal. Entscheidend ist nur, dass Sie dranbleiben, falls Sie sich überhaupt dafür entscheiden wollen. Häufig fragt der Klient im Anschluss direkt danach, wie das technisch ablaufen könnte. Im vorderen Teil des Buches haben wir die verschiedenen Aspekte umfangreich beschrieben, daher begnügen wir uns hier jetzt nur mit dem Wording. Wording Vergeben geschieht in verschiedenen Abschnitten. Erst einmal geht es darum, dass Sie sich überhaupt mit dem Loslassen-Wollen auseinandersetzen und damit, was das für Sie persönlich bedeuten würde. Vergeben bedeutet grundsätzlich: 6.2 Mögliche Auswirkungen von Festhalten und Loslassen 95 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

97 " immer weiter frei werden von Groll und Wut " auf Dauer immer mehr positive Gefühle erleben " die neue Freiheit dazu nutzen, sich im Leben auf das auszurichten, was Ihnen wichtig ist. " langfristig bessere Beziehungen haben " auf Dauer gesünder sein Andererseits bedeutet es auch, dass Sie bewusst auf Rache und Vergeltung verzichten werden. (Bei Bedarf: Das muss aber nicht heißen, dass Sie auf gerechtfertigte Ausgleichsansprüche verzichten müssen, z. B. falls Ihnen ein Schmerzensgeld oder Unterhalt zustehen sollte). Dann würden Sie entscheiden, ob Sie sich auf diesen Weg begeben wollen. Danach würden wir uns die Verletzung und Kränkung noch einmal abschließend anschauen und Sie lernen, was Sie machen können, wenn Gedanken zu dem Thema mal wieder auftauchen sollten. Außerdem ist es meistens sinnvoll sich noch einmal damit auseinanderzusetzen, wie diese Situation entstehen konnte. Dabei ist auch wichtig zu schauen, was Sie vielleicht daraus lernen können, damit so etwas nicht wieder passiert. Dabei geht es dann auch darum, sich beide Seiten den Täter und das Opfer noch einmal genau anzuschauen und so weit wie möglich zu verstehen. Denn nur dann kann man auch lernen, wie zukünftig solche Situationen (eventuell) verhinderbar werden können. Irgendwann ist es dann gut, einen ritualisierten Abschluss zu finden, bei dem Sie diese Vergebung quasi besiegeln. Und am Ende des Vergebensprozesses (und wirklich auch erst dann) würden wir überlegen, wie Sie zukünftig mit der verletzenden Person umgehen wollen (hier am besten den Namen der Person einsetzen). Und noch eines ist mir wichtig. Meist ist es am sinnvollsten, dass Sie das Vergeben und die Themen, die damit für Sie zu tun haben, für sich behalten. Das heißt, dass diese Themen sozusagen»hier im Raum bleiben«bis Sie den Prozess abgeschlossen haben. Dann kann Sie nämlich niemand damit unter Druck setzen. Und danach können Sie dann viel freier entscheiden, wie Sie später mit dem Thema umgehen wollen. Vergeben ist etwas, was erst einmal nur in Ihnen geschieht. 6.3 Erste formale Entscheidung zum Vergeben Wenn die Thematik soweit mit dem Klienten besprochen wurde, sollte dieser sich explizit und wenn möglich schriftlich für diesen Prozess entscheiden. Es bietet sich an, dafür einen»vertrag mit sich selbst«zu erstellen, der zumindest folgende Punkte enthält (Muster s. Arbeitsmaterial, AB 3): " Das Ziel, von Groll und Wut auf einen Täter frei zu werden. " Das Ziel, sich im Leben auf das auszurichten, was wichtig ist Die erste Phase Die Chancen des Vergebens erfassen und sich einlassen

98 " Das Ziel, auf Dauer immer mehr positive Gefühle zu erleben, langfristig bessere Beziehungen zu haben und auf Dauer gesünder zu sein. Die Selbstverpflichtung, aufgrund der genannten Ziele ab sofort auf Rache und Vergeltung zu verzichten. " Abschließend die Entscheidung, den Vergebensweg konsequent fortzusetzen. Bei Bedarf kann dann später während der Arbeit wieder auf dieses Schreiben zurückgegriffen werden. Das kann vor allem im Umgang mit Kränkungen unterstützend wirken, wenn der Klient in den folgenden Prozessschritten die Intensität seiner Verletzung wahrnimmt. 6.3 Erste formale Entscheidung zum Vergeben 97 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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100 7 Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen Die meisten Vergebensmodelle betonen die Unumgänglichkeit, dass sich der Klient dem Verlust und den zugehörigen Gefühlen stellt und den Verlust in seiner ganzen Größe anerkennt. Geschieht das nicht, bleibt die Gestalt des Verlustes unter Umständen weiterhin unvollständig. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass später weitere Aspekte auftauchen, die im Prozess keine Berücksichtigung gefunden haben. Das hätte zur Folge, dass der Klient stets von Neuem in die Ursprungssituation zurückgehen würde. Deswegen wird der Verlust noch einmal in vollem Umfang betrachtet und gewürdigt. Falls der Vergebensprozess eine stark belastende, traumatisierende Situation betrifft (Verlust von Angehörigen, massive körperliche Verletzungen, ), ist es sehr hilfreich, wenn der Therapeut über fundierte traumatherapeutische Erfahrung verfügt und z. B. EMDR oder Brainspotting mit der Ursprungssituation durchführen kann. Falls diese Voraussetzung nicht gegeben ist, gilt als Faustregel: Wenn es sich um eine stark belastende, traumatisierende Verletzung handelt, sollte der Klient die betreffende Situation eher von außen beschreiben und wenn möglich vom Opfer in der dritten Person und im Imperfekt sprechen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass der Klient»im Hier und Jetzt«, im Raum orientiert und im direkten Kontakt mit dem Therapeuten bleibt. Eine Arbeit mit Visualisierungen (Kameratechnik) stellt für solche Klienten oft eine Überforderung dar. Falls der Klient ins assoziierte Wiedererleben hineingerät, sollte er unterbrochen und wieder»im Hier und Jetzt«im Raum orientiert werden. Im Rahmen der ersten Beschreibung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes werden auf jeden Fall die folgenden Fragen geklärt: "»Was ist eigentlich wirklich geschehen?«durch das genaue Betrachten der verletzenden Situation wird oft erst das Ausmaß der Verletzung vollständig realisiert. " Das führt zur Frage, welchen Schaden hat der Klient erlitten (materiell und immateriell). Was hat der Klient ggf. unwiederbringlich verloren? Hier schließt sich eventuell eine Begleitung von erforderlichen Trauerprozessen an. "»Wer hat wem was angetan?«dabei kann bereits eine erste Betrachtung des Motivs des Täters und seiner Haltung erfolgen (Zufall, unvermeidlicher Fehler, Unterlassung, Fahrlässigkeit, Vorsatz oder Boshaftigkeit). Dabei kann schon geklärt werden, welche Auswirkung diese Haltung auf die Gefühle des Opfers hat. " Wie reagiert der Klient, wenn das Thema angesprochen wird oder auftaucht? Wesentlich ist dabei, dass die auftretenden Gefühle des Opfers und seine Bewertung des Verlustes zuerst empathisch validiert werden. Gerade, wenn der Verlust schon 7 Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen 99 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

101 länger zurückliegt, haben viele Opfer die Erfahrung gemacht, dass die Umwelt die Reaktionen des Opfers als überzogen und belastend erlebt und mit Forderungen nach loslassen»der alten Geschichten«reagiert. Validiert der Begleiter empathisch, so kann der Klient seine Gefühle meist umfassender äußern. Auf diese Weise werden dem Begleiter auch eher die verborgener Aspekte wie Scham, eventuelle empfundene eigene Mitschuld und Rachegedanken zugänglich. Manche Klienten zeigen bereits im Rahmen der Besprechung der oben dargestellten Fragen ein umfängliches, auch emotionales Verständnis für die Situation bzw. die Tat, die dort erlittenen Verluste sowie ihre eigenen Reaktionen auf diese Verluste. Eine weitere Vertiefung dieser Analyse ist dann nicht mehr erforderlich Nüchterne Betrachtung der Ursprungssituation Oft ist dem Klienten allerdings die Intensität seiner Verletzung (ggf. auch deren Vielschichtigkeit) noch nicht wirklich ins Bewusstsein getreten. Da er möglicherweise schon länger mit Ärger und Groll auf den Täter und die Situation schaut, konnte er bisher die emotionale Auseinandersetzung mit den schmerzhafteren Gefühlen vermeiden. In der ersten Phase hat er sich diesem Thema eher kognitiv angenähert. Nun geht es um die emotionale Verarbeitung des Erlebten. Diese wird im Folgenden zum Thema. Der Umfang und die emotionale Vielschichtigkeit einer schwierigen Situation sind im Vorfeld nicht immer klar erkennbar. Es ist nicht selten, dass der Klient große Mühe hat, die Situation ohne sofortige Beschimpfungen, Bewertungen und Opferreaktionen zu beschreiben. Der nächste Teil des Prozesses beginnt daher, indem der Klient die Situation erst einmal aus einer Kameraperspektive möglichst knapp und sachlich beschreibt. Dazu gibt es methodisch verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen Vorteilen. Er wird gebeten, sich die gesamte Situation vorzustellen: " wie auf einer Leinwand (die passivste Variante), " wie in einem Fernseher (Variante mit der Möglichkeit, Bild und Ton durch eine Fernbedienung zu verändern (Veränderung von Submodalitäten)) oder " als wenn er selber durch eine Kamera schauen und Regie führen würde (Variante mit der Möglichkeit, ggf. auch den Bildausschnitt zu verändern und eventuell sogar in die Regieführung einzugreifen). Sprachgestaltung in der therapeutischen Begleitung Vor Beginn der Beschreibung besprechen der Klient und der Therapeut genau, wie die einzelnen Personen benannt werden sollen (Täter Opfer Zuschauer, oder auch die Namen der einzelnen Personen ohne Rollenzuschreibung). Dabei achtet der Therapeut darauf, dass der Klient für den Täter wenn möglich keine herabwürdigenden Bezeichnungen verwendet. Jeder Vergebensprozess hat zum Ziel, dass alle Beteiligten wieder»normale Menschen«mit ihren Chancen und Grenzen sind. Eine Einigung auf Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

102 eine sachliche Beschreibung mit abwertenden Formulierungen wäre nicht förderlich. Anschließend wird der Klient dazu angeleitet, das Geschehen so zu beschreiben, dass er auch von sich selber ausschließlich in der dritten Person spricht. Das bietet den Vorteil, dass man gegebenenfalls mit dem Klienten wie in einer Supervision über die potenziellen Motive, die gezeigten Verhaltensweisen und die Reaktionen der einzelnen Personen sprechen kann. So stellt der Therapeut beispielsweise bei der Variante»hinter der Kamera«sicher, dass der Klient wirklich in dieser Rolle des Beobachters hinter seiner Kamera bleibt. Verlässt er sie (in dem er anfängt von ich und seinen Gefühlen zu reden), bittet der Therapeut ihn wieder imaginativ hinter die Kamera zu treten und das Geschehen wirklich von dieser Außensicht zu beschreiben. Zur Unterstützung kann dem Klienten z. B. ein Papprohr in die Hand gegeben werden. Das Durchschauen hilft bei der Aufrechterhaltung der Kameraposition. Diese Haltung ist für den Klienten in der Regel ungewohnt, da er einerseits spezifisch sein eigenes Verhalten beschreiben muss, nicht in die»man«-formulierungen abgleiten kann und Wirkung und Auswirkung des Verhaltens aller Beteiligten so sachlich wie möglich analysiert. Der Therapeut stellt sicher, dass sich der Klient mit seiner Aufmerksamkeit jederzeit im Raum orientieren kann. Der Vorteil der Kameraposition ist, dass man den Klienten leichter wieder ins»hier und Jetzt«zurückholen kann. Die Kameraposition verhindert weitgehend, dass der Klient direkt assoziiert und von den Gefühlen überrollt wird. Bei traumatischen Opfersituationen kann dieses gestufte Vorgehen dazu dienen, eventuelle Traumareaktionen zu erkennen und ggf. eine entsprechende Bearbeitung mit traumatherapeutischen Methoden einzuleiten oder den Klienten entsprechend zu überweisen. Meist treten allerdings in Situationen mit langfristigen Grollreaktionen (also in klassischen Vergebenssituationen) keine spezifischen Traumareaktionen mehr auf. Im Verlauf der Arbeit mit der Kameraposition bieten sich Nachfragen zur Situation an: "»Wer hat wem was angetan?«"»wer wurde moralisch, psychisch oder physisch verletzt oder gar getötet?«"»welche Folgen, Schäden oder Behinderungen sind daraus kurz- und langfristig entstanden?«"»was wurde beschädigt oder zerstört?«"»war der Verlust ersetzlich oder unersetzlich?«"»was hat emotional in welcher Weise gekränkt?«"»welche Erwartungen und Werte wurden verletzt?«"»was war die Haltung des Täters (Handlung, Unterlassung, billigende Inkaufnahme, Absicht oder boshafter krimineller Vorsatz)?«Klienten, bei denen der Vergebensprozess aufgrund (chronischer) Kränkungen zum Einsatz kommt, gelangen bereits bei diesem Schritt zu ersten Einsichten in eine eventuelle eigene Mitbeteiligung am Geschehen Nüchterne Betrachtung der Ursprungssituation 101 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

103 7.2 Emotionale Realisierung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes Kränkungen und Verletzungen werden beim Opfer oft als starker Selbstwertverlust empfunden (Staemmler, 2016). Das einfache (Wieder-)Erleben von Gefühlen kann gerade in Opfersituationen dazu führen, dass der Selbstwert noch weiter sinkt, weil die Gefühle trotz der lange verstrichenen Zeit immer noch gleich stark sind. Viele therapeutische Richtungen arbeiten mit unterschiedlichen Teile- oder Modus- Modellen, z. B. die Schema-Therapie, die Ego-State-Therapie, die Transaktionsanalyse. Schulz von Thun (2008) nutzt in Anlehnung an Fraser (1991) die»innere Teile-Konferenz«, und es sind viele weitere Ansätze beschrieben. Es bietet sich zu diesem Zeitpunkt an, eine derartige Modus- oder eine Teilearbeit zu nutzen. So wird einerseits ein Durchleben der Gefühle ermöglicht. Andererseits wird gleichzeitig die Kompetenz im Umgang mit Gefühlen trainiert und dem Klienten darüber hinaus vermittelt, dass die eigentlich belastende Situation schon lang vergangen ist Kurze Einführung in das Modusmodell Modi sind Erlebenszustände, in die der Klient immer wieder automatisch hineingerät. Die Arbeit mit den Modi erfolgt, indem man mit ihnen wie mit verschiedenen Persönlichkeitsteilen spricht. Für die weitere Arbeit werden dem Klienten in dieser Situation zwei Modi angeboten: " der»fitte Erwachsene«und " das»traurige / Verletzte Kind«Der erstgenannte Anteil kann klar überlegen und will Vergebung finden, weil er frei werden und gut weiterleben möchte. Er wird Fitter Erwachsener genannt. Diese Instanz ist fähig zu überlegen, wägt ab und entscheidet bewusst über Vor- und Nachteile. Im Endeffekt übernimmt sie die Funktion, die anderen Anteile im System zu versorgen, zu beruhigen oder auch in ihre Grenzen zu verweisen und ihre Argumente zu entkräften. Der andere Teil ist traurig und verletzt, hilflos und überfordert. Er wird als Trauriges / Verletztes Kind oder auch als Jüngeres, Verletztes Ich / Selbst bezeichnet. Es besteht auch die Möglichkeit, einfach mit dem Namen des Klienten z. B. als»die jüngere verletzte Paula«bzw.»der jüngere verletzte Paul«zu arbeiten. Diesem Anteil wird das Erleben der Gefühle zugeordnet. Dieses Vorgehen hat den großen Vorteil, dass der Fitte Erwachsene später im Verlauf des Prozesses das traurige / verletzte Kind trösten und versorgen kann. Dadurch wird zumindest einem Teil des Klienten die Fähigkeit zum Umgang mit der Verletzung zugeordnet. Bei vielen Klienten kann sich dadurch schon jetzt der Selbstwert teilweise stabilisieren. Das Modell bietet hier auch den Vorteil, dass bei Bedarf später noch weitere Modi die Inneren Eltern- / Erziehermodi (auch Inneren Antreiber- oder Inneren Beschimp Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

104 fermodi genannt) eingeführt werden können. Das wird relevant, falls Klienten mit abwertenden Selbstdialogen zu kämpfen haben (vgl. Abschn ). Wenn der Klient in diesem Denkmodell geübt ist, ist er in der Lage nach Abschluss des Vergebens sich selbst (bei potenziell wieder auftretenden Gefühlen oder Grübelgedanken) über den Fitten Erwachsenen zu führen und zu beruhigen. Das Ziel ist dabei, dass es zu einer möglichst entspannten Situation zwischen diesen inneren Anteilen kommt Das Innere Kind (Jüngere Selbst) trösten Nachdem der Klient die Vorfälle im vergangenen Schritt aus der Kameraposition beschrieben hat, kann man ihn nachdem man die Tragik der Situation angemessen gewürdigt hat mit dem Konzept des Fitten Erwachsenen und des Verletzten Jüngeren Selbst bekannt machen. Mithilfe dieses Konzeptes kann mit dem Klienten eingeübt werden, wie er sich selber (durch einen Dialog zwischen dem Fitten Erwachsen und dem Verletzten Inneren Kind) validieren, stabilisieren und trösten kann. Wording Es tut mir sehr leid, dass sie sich in einer derart schwierigen Situation befunden haben. Und ein Teil von ihnen konnte das eben durchaus klar und genau beschreiben. Das ist der Teil, der auch die Idee des Vergebens akzeptiert, damit es hier und heute gut für Sie weitergehen kann. Den Teil nennen wir den»fitten Erwachsenen«oder die»fitte Erwachsene Paula«(hier können bei Bedarf weitere Fähigkeiten und Ressourcen des Fitten Erwachsenen benannt und aufgebaut werden). Auf der anderen Seite ist da die junge Frau in dieser extrem schwierigen Situation die Jüngere, Verletzte Paula. Und es ist gut zu wissen, dass es nicht nur die Jüngere, Verletzte Paula, sondern auch die Fitte Erwachsene Paula gibt. Aber der»jüngeren, Verletzten Paula«geht es in dem Film dort richtig schlecht. Das muss nicht so bleiben. Es wäre gut, wenn Sie als Fitte Erwachsene die Jüngere dort jetzt erst mal trösten könnten. Dabei würde ich Sie jetzt gern unterstützen. Anschließend gibt es verschiedene Möglichkeiten: Entweder wird der Klient gebeten, sich vorzustellen, er würde in den Film einsteigen und zum Verletzten Jüngeren Selbst hingehen und es trösten. Alternativ kann man für das Jüngere Selbst und den Fitten Erwachsenen zwei Stühle aufstellen und diese Arbeit dort durchführen. Dabei hat sich der Einsatz eines Kissens für das Jüngere Selbst sehr bewährt, welches der Klient im Verlauf beispielsweise auf dem Schoß halten kann. Häufig ruft schon die Einladung das Jüngere Selbst zu trösten eine intensive emotionale Reaktion beim Klienten hervor. Auf diese Weise werden einerseits die Emotionen aus der Ursprungssituation in vollem Umfang erlebbar, andererseits erlebt der Klient gleichzeitig seine eigene Kompetenz als Fitter, Tröstender Erwachsener. 7.2 Emotionale Realisierung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes 103 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

105 Wenn die Realität der Verletzung in vollem Umfang wahrgenommen wird, treten häufig sehr starke Gefühle der Verletztheit, der Wut und der Trauer auf. Hier ist zwischen adaptiven primären Gefühlen (Wut, Trauer, ), die zur Verarbeitung der Belastung führen und sekundären Gefühlen (Schuld, Scham, Groll, Selbstmitleid) zu unterscheiden. Die adaptiven Gefühle sollten so weit wie möglich erlaubt, gefördert und angemessen ausgedrückt werden. Maladaptive Gefühle (wie Groll und Selbstmitleid, die das System beeinflussen und sich durch sekundäre Gewinne selbst stabilisieren) können überflüssig werden und in den Hintergrund treten. Wording Und wenn Sie als Fitte Erwachsene Frau von heute jetzt in Ihrer Vorstellung einfach einmal in diesen Film einsteigen und zu der Jüngeren Paula dort hingehen und sich ihr vorstellen. Sagen Sie ihr einfach, dass Sie aus der Zukunft kommen und die Fitte Erwachsene Paula sind Erklären Sie ihr, dass Sie jetzt 45 Jahre alt sind und als Ärztin täglich einen richtig guten Job machen Und sagen Sie ihr auch, dass diese hässliche Situation nun schon zwölf Jahre zurückliegt Wie schaut die Jüngere Paula dann? Und wenn es passt, können Sie sie einfach in den Arm nehmen und trösten Und wie ist es dann? Bitte machen Sie ihr klar, dass ihre Wut, ihre Angst, ihre Hilflosigkeit und ihr Zorn vollständig gerechtfertigt sind dass es sogar gut ist, dass sie ihre Gefühle merkt! Und wie ist das dann jetzt? Die Veränderung des Erlebens scheint dabei nicht nur durch die Validierung der Intensität der Verletzung zu erfolgen, sondern vor allem durch ein strukturierendes, nicht überflutendes Erleben der Intensität der Gefühle. Besonders unterstützend ist es, wenn der Klient selber als Fitter Erwachsener die Gefühle des Jüngeren Selbst erlaubt, gutheißt und validiert. Stühlearbeit zum Umgang mit Gefühlen Inneres Kind (Jüngeres Selbst) trösten Um einen angemessenen Rahmen zum Umgang mit den auftretenden Gefühlen anbieten zu können, hat sich eine Stühlearbeit zum Trösten des Jüngeren Selbst bewährt. " Es werden zwei Stühle aufgestellt, einer für den Fitten-Erwachsenen-Anteil, einer für das Jüngere Selbst. " Der Klient nimmt auf dem Stuhl des Jüngeren Selbst Platz. In dieser Rolle drückt der Klient seine Gefühle vollständig aus. " Anschließend wechselt der Klient auf den Stuhl für den Erwachsenen. Er tröstet das Jüngere Selbst. Gleichzeitig erlaubt er diesem, Gefühle wann immer sie auftauchen wahrzunehmen und anzusprechen. (Gegebenenfalls kann zusätzlich ein Self-Compassion-Mantra eingesetzt werden vgl. Abschn. 9.4). " Der Wechsel zwischen den beiden Stühlen kann so oft wiederholt werden, wie es erforderlich ist. Dabei achtet der Therapeut darauf, dass der Klient wirklich nur aus der Rolle spricht, die dem jeweiligen Stuhl zugeordnet ist Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

106 Wording Und was würden Sie tun, wenn Sie ein Kind trösten würden? Die meisten Menschen würden es in den Arm nehmen oder wenn es klein ist, auf den Schoß nehmen. Sie würden sich Zeit nehmen und es trösten (und vielleicht auch hin und her wiegen). Und in Ihrer Vorstellung können Sie genau das tun. Sie können das Jüngere Selbst (bzw. das Innere Kind) das verletzt, ängstlich und traurig ist, in den Arm nehmen und trösten, bis es sich wieder beruhigt hat. Manchmal geht das sehr schnell, manchmal dauert es eine Zeit. Und manchmal muss man es wieder und wieder tun. Und Sie können einfach spüren, wie das ist: Sie haben Ihr Kind auf dem Arm und trösten es so lange, bis es sich wieder beruhigt hat (hier kann dem Klienten ein passendes Kissen zum Festhalten angeboten werden). Dann sagen Sie Ihrem Jüngeren Selbst bitte, dass es völlig verständlich ist, dass es noch traurig und wütend ist oder Angst hat und verletzt ist, und dass das da sein darf. Und, dass es jedes Mal wieder zu Ihnen (dem Fitten Erwachsenen) kommen kann, wenn diese Gefühle da sind. Und, dass Sie gleichzeitig als Erwachsener bei Ihrer Entscheidung bleiben, dass Sie vergeben, weil Sie dann frei von dieser Vorgeschichte Ihr Leben selber in die Hand nehmen und gestalten wollen. Erklären Sie dem Kind immer wieder, dass die Situation abgeschlossen und vorbei ist, dass der Aggressor keinen Zugang mehr hat. Machen Sie Ihrem Jüngeren Selbst deutlich, dass Sie die Verantwortung dafür übernehmen, sich selber (und Ihre Inneren Kinder) zu schützen. Erklären Sie Ihrem Jüngeren Selbst auch, dass das ein ganz normaler Schritt im Rahmen der Vergebung ist. Sagen Sie ihm, dass Sie es immer wieder trösten werden und, dass es jedes Mal ein kleines bisschen einfacher werden wird. Manchmal ist es allerdings der Fall, dass Klienten die Gefühle des Jüngeren Selbst überhaupt nicht beschreiben oder benennen können. Stattdessen steigern sie sich immer wieder in intensive Bewertung der moralischen Verwerflichkeit des Täters und dessen Ungerechtigkeit hinein. (Was sachlich übrigens völlig korrekt sein kann, allerdings den Prozess der emotionalen Befreiung nicht unterstützt, sondern hemmt). In solchen Fällen kann ein vorsichtiges Anbieten angemessener emotionaler Reaktionen unterstützend wirken (z. T. haben die Klienten nicht einmal Worte für ihre Gefühle). Auch ein Hinterfragen von Bagatellisierungen bei einer Verleugnung von Gefühlen kann in Einzelfällen unterstützen. Falls derartige Interventionen nicht ausreichen, können derartige Bewertungen wie innere Einwände behandelt werden. 7.2 Emotionale Realisierung des Umfangs der Verletzung und des Verlustes 105 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

107 7.2.3 Innere Einwände und Ansprüche Manchmal treten während dieser Stühlearbeit auch innere Einwände auf. Diese können sich auf die Ursprungssituation (zum Beispiel:»das hättest du vorher wissen können, selbst dran schuld, «) oder auch auf das Zulassen der Gefühle (zum Beispiel:»nun hör doch mal auf, hier rumzuflennen «) beziehen. Sie schießen häufig aus dem Unbewussten hoch. Im Sinne des Modusmodells werden derartige Reaktionen in der Schematherapie einem weiteren Modus zugeordnet: den sog. fordernden, strafenden Inneren Eltern / Erziehern. Im Umgang mit diesen Instanzen kommt dem Fitten Erwachsenen die Aufgabe zu, diese Forderungen zurückzuweisen. Das Ziel ist, den Inneren Erziehern in guter Weise sehr deutlich klar zu machen, dass diese Emotionen notwendig sind, um insgesamt zu einer guten Lösung zu kommen. " Falls innere Vorwürfe auftauchen, werden diese den sogenannten Inneren Erziehern / Antreibern zugeordnet. Diese erhalten dann einen eigenen, zusätzlichen Stuhl und werden gebeten, ihre Einwände auszusprechen. Hierzu kann der Klient den neu aufgestellten Stuhl einnehmen und die Einwände und Vorwürfe laut aussprechen. Sollte der Patient den Platz nicht einnehmen wollen, so kann er aufstehen und mit dem Therapeuten im Stehen»von außen«die Situation betrachten und in der dritten Person die Einwürfe der Inneren Erziehen benennen (» die sagen, dass dieses Geflenne aufhören soll! «). " Der Fitte Erwachsene weist anschließend vom Stuhl des Fitten Erwachsenen aus mit Unterstützung des Therapeuten die Vorwürfe der Inneren Erzieher an das Jüngere Selbst zurück. Für manche Klienten ist es relevant, mehr über die Inneren Eltern zu erfahren. Wenn keine umfangreiche Aufklärung im Sinne eines schematherapeutischen Vorgehens geplant ist, kann zum Beispiel mit folgender Erklärung gearbeitet werden: Wording Jedes kleine Kind muss lernen, selbstständig zu wissen, was richtig und was falsch ist. Dazu baut es sich etwa ab dem zweiten Lebensjahr Stimmen im Kopf ein, die ihm das sagen. Meist sind das Stimmen von den Eltern und Erziehern. Diese Stimmen trägt der Mensch dann sein Leben lang mit sich rum. Das fängt an mit»vorsicht der Herd ist heiß«und»du sollst nicht hauen«. Später kommen dann Sachen dazu wie»wenn du nicht aufisst, gibt es morgen schlechtes Wetter!«Oft stehen auch Forderungen oder Strafen hinter den Regeln. Das kleine Kind ist noch nicht in der Lage zu entscheiden, was davon sinnvoll ist und was nicht. Später, wenn das Kind größer ist, entscheidet es sich, nach welchen Regeln es leben möchte. Das sind dann die Regeln, die Sie als Fitter Erwachsener gut finden und befolgen. Leider werden aber die alten Regeln im Gehirn damit nicht gelöscht Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

108 Immer, wenn Stress auftaucht, springen automatisch auch die alten Regeln an, weil sie sehr früh im Leben gelernt wurden. Deswegen ist es wichtig, dass Sie sich dann genau überlegen, als Fitter Erwachsener wie Sie handeln und leben wollen. Den automatisch auftauchenden alten Regeln, die Sie nicht sinnvoll finden, erteilen Sie dann jeweils eine Absage. Das Gehirn denkt aber in Bildern und kann nur mit Bildern arbeiten. Deswegen gibt es bei jedem Menschen einen solchen inneren Anteil, der verbildlicht werden kann und der sich anfühlt, wie ein Antreiber oder Erzieher manche sagen auch Innere Eltern dazu. Näheres zur Schemaarbeit im Coaching und Begleitung findet sich bei Handrock et al. (2016), umfassende Informationen zur Schematherapie bei Roediger (2016). Je nach Art und Intensität der Verletzung und des Verlustes kann es auch erforderlich werden, hier noch weitere Schritte aus dem Bereich der Trauerarbeit mit dem Klienten zu gehen. Einige Hinweise zu imaginativen Trauerarbeitsprozessen finden Sie im Arbeitsmaterial (s. AB 4»Überblick Trauerprozesse«und AB 5»Trauerbrücke«). 7.3 Umgang mit Rachegedanken Wenn sich der Klient intensiver mit dem Verlust, den er erlitten hat, auseinandersetzt, treten neben den Emotionen auch oft die Groll- und Rachegedanken wieder verstärkt in den Vordergrund. Dies ist völlig normal, wird aber von Klienten oft so nicht erwartet. Wenn der Klient vorab im Sinne eines Framings auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht worden ist, wird er ein Auftauchen solcher Gedanken nicht so leicht als»rückfall«interpretieren. Selbstverständlich beinhaltet ein Hinweis auf diese Möglichkeit gleichzeitig unter hypnotherapeutischen Aspekten eine Suggestion zum Auftreten dieser Gedanken. Dies ist durchaus beabsichtigt. Denn treten Rache und Grollgedanken im Verlaufe dieses therapeutischen Prozesses auf, so kann bereits zu diesem Zeitpunkt ein adäquater Umgang mit ihnen trainiert werden. Wenn diese Gedanken im späteren Leben wieder auftreten, ist der Klient im Umgang mit ihnen bereits geübt. Ob Rachegedanken vom Klienten frei geäußert werden, hängt von dessen Bewertung von Rache ab. Rache wird von Reiss und Reiss (2009) als eines der 16 basalen Lebensmotive betrachtet. Je nachdem, ob dieses Motiv beim Klienten stark oder schwach ausgeprägt ist, ist dessen Rachenbedürfnis hoch oder niedrig. Hinzu kommt die Bewertung von Rache durch seine soziokulturelle Gruppe, welche die Bewertung des Rachemotivs noch einmal überformt. Je nach soziokulturellem Kontext kann Rache in einem Extremfall als die geforderte und notwendige Ausgleichshandlung zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit angesehen werden. Im anderen Extremfall kann schon das Bedürfnis nach Rache verpönt und verboten sein. Die Bewertung durch die Gruppenzugehörigkeit kann schlimms- 7.3 Umgang mit Rachegedanken 107 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

109 tenfalls dazu führen, dass ein therapeutisch indizierter Vergebensprozess zu einer extremen Abgrenzung der rachefordernden Herkunftsgruppe führt. Gegebenenfalls muss sich der Klient, falls er den Vergebensprozess fortsetzt, mit dem Gesichtsverlust innerhalb seiner Gruppe und schlimmstenfalls sogar mit dem Ausschluss aus dieser Gruppe auseinandersetzen. Bei Klienten aus Gruppen, die Rache extrem ablehnen, kann das Rachebedürfnis derart verboten sein, dass der Klient kaum wagt, es sich selber einzugestehen. Möglich ist auch, dass er sich für die zugrunde liegenden Gefühle stark schämt und sofort selbst verurteilt. Bei diesen Klienten ist es häufig erforderlich, Rache als eine normale menschliche Intention darzustellen und vorerst einfach nur das Vorhandensein dieser Intentionen zu validieren. Es geht aber nicht darum, diesem Bedürfnis Vorschub zu leisten und zu entsprechenden Handlungen zu animieren. Bei manchen Klienten sind der Wunsch nach Rache und das Bedürfnis nach einem Ausgleich sehr stark. Es kann unumgänglich werden, diesen Fantasien einen gewissen Raum zu geben. Die Rachefantasien aussprechen zu lassen, bzw. Rache und Beschimpfungsfantasien schreiben zu lassen, können dabei unterstützen (Thomas, 1972). Auch eine kunsttherapeutische Verarbeitung kann unterstützend wirken. Solche Übungen können ggf. mehrfach und (bei ausreichender Vorerfahrung des Klienten) auch zuhause ausgeführt werden. Das direkte körperliche Ausagieren von Rachefantasien im Sinne vom Zerstören oder Verprügeln von Gegenständen (z. B. Kissen) verbunden mit der Vorstellung, dies mit der verursachenden Person zu tun, werden heute kontrovers diskutiert. Untersuchungen konnten zeigen, dass dadurch die Aggressionen eher gebahnt und verstärkt werden (Bushman, 2002). Daher wird ein derartiges Vorgehen i. d. R. nicht mehr empfohlen. Hingegen sind regelmäßig ausgeführte Kampf- oder Ausdauersportarten geeignet, das allgemeine Stress- und Aggressionsniveau langfristig zu senken (Salmon, 2001). Darüber hinaus bietet sich der Einsatz des verarbeitenden Schreibens nach Pennebaker (2009) an. Dabei schreibt der Klient in einer strukturierten Weise an vier Tagen hintereinander jeweils zum gleichen Thema. Dieses Vorgehen ist sehr gut untersucht und dient zur Verarbeitung von belastenden und traumatisierenden Situationen. Es wird hier leicht modifiziert eingesetzt. Wie Pennebaker es vorsieht, werden in den ersten zwei Tagen einfach emotional und unzensiert alle Inhalte hinaus geschrieben (inklusive aller eventuellen Rachefantasien). Am dritten Tag wird nun allerdings das Ganze aus einer Kameraposition beschrieben. Am vierten Tag erfolgt das Schreiben unter einem weiteren Aspekt. Das bisher Geschriebene wird wie der Plot eines Romans betrachtet. Für diesen Plot schreibt der Klient nun abschließend einen guten Klappentext. Falls die beiden ersten Tage zum schriftlichen Durcharbeiten der vorhandenen Wut und der Beschimpfungen nicht ausreichen, können ein oder zwei weitere Tage dazu genommen werden. Dann verlängert sich der Prozess. Den Abschluss des Prozesses sollte aber nach wie vor die dissoziierte Schreibweise (Klappentext) bilden (Anleitung im Arbeitsmaterial, s. AB 6) Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

110 7.4 Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes Wenn der Klient den Umfang der Verletzung und / oder der Kränkung sowie die emotionalen Auswirkungen wirklich zugelassen hat, geht es darum eine Entschiedenheit zu gewinnen den Vergebensprozess dennoch fortzusetzen und endgültig beizubehalten. Dabei hat es sich bewährt, den Klienten über einen gewissen Zeitraum die Vor- und Nachteile des Vergebens überdenken und zusammentragen zu lassen. Währenddessen wird im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse untersucht, was der Klient durch den Vergebensprozess gewinnt, was er verliert und was er dafür aufwenden muss. Weiterhin werden die Auswirkungen auf andere Beteiligte (Familie, Betrieb, ) untersucht. Abschließend wird noch einmal betrachtet, was passieren würde, wenn er weiterhin in seinem Groll verhaftet bleibt. Eine gute Möglichkeit diesen Prozessabschnitt umzusetzen besteht darin, den Klienten zu bitten über einen gewissen Zeitraum alle Ideen, die ihm dazu kommen (Gedanken, Vor- und Nachteile, Einschränkungen usw.) einzeln auf»post-it«-zetteln zu notieren. Die einzelnen Haftnotizen können mitgebracht und in einer Kosten- Nutzen-Tabelle gesammelt werden (z. B. auf einem Flipchart). Dabei hat der Begleiter noch einmal Gelegenheit, weitere Aspekte zu beleuchten oder zu ergänzen. Abschließend wird das Flipchart mit allen Post-Its fotografiert und der Klient erhält eine entsprechende Kopie. Manche Klienten bevorzugen auch, diese Tabelle direkt selber zu bearbeiten. Diese kann in der nächsten Sitzung noch einmal durchgesprochen werden. Bevor man mit einem Klienten die folgenden Fragen beleuchtet oder ihm eine derartige Tabelle zur Verfügung stellt, sollte er bereits über die objektiven Vorteile des Vergebens (vgl. Abschn ) hinreichend informiert sein. Ein Muster für eine entsprechende Tabelle zur Kosten-Nutzen-Analyse findet sich in den Arbeitsmaterialien (s. AB 7). Im Folgenden ist in einem exemplarischen Beispiel gezeigt, wie eine derartige Tabelle aussehen kann: Wording Frau Schmidt ist Funktionsoberärztin in einer größeren Klinik. Vor acht Jahren hat sie eine Stelle als leitende Oberärztin im einzigen Schwerpunktkrankenhaus der Region nicht erhalten, obwohl sie die qualifiziertere Bewerberin war. Die Stelle wurde mit einem jüngeren, männlichen Bewerber besetzt, der jetzt ihr Vorgesetzter ist. Sie sieht keine weitergehenden Karrierechancen mehr für sich, den Wohnort wollte / konnte sie aus familiären Gründen nicht wechseln, auch eine Niederlassung war für sie aufgrund ihres Faches nicht attraktiv. Sie ist seit acht Jahren chronisch wütend auf den Chefarzt, den Oberarzt und die Klinikleitung. In der Klinik lässt sie keine Gelegenheit für Sticheleien und Bloßstellungen aus. In den 7.4 Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes 109 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

111 letzten Jahren ist Ihr Blutdruck langsam aber stetig gestiegen. Sie hat bereits eine Psychotherapie gemacht, mit deren Ergebnis sie insgesamt zufrieden ist. Allerdings haben sich währenddessen die berufliche Situation und ihre Einstellung dazu kaum verändert. Sie sieht Vergeben als»letzte Chance mit diesen Idioten weiter zusammenzuarbeiten«und setzt sich in einem selbst gewählten Coaching mit dem Thema auseinander. Über drei Wochen trägt sie auf»post-its«zusammen, was ihr zu dem Thema alles einfällt. Danach ergibt sich folgendes Bild: Was gewinne ich / Was könnte ich gewinnen Was sind die Vorteile Was verliere ich / Worauf muss ich verzichten Was sind die Nachteile wenn /falls ich Chefarzt Müller vergebe? Möglicherweise würde mein Blutdruck wieder sinken. Ich würde wieder lieber zur Arbeit gehen vielleicht könnte mir mein Bereich sogar wieder Spaß machen. Vermutlich hätte ich Sonntagabend weniger schlechte Laune zu Hause. Ich würde meinem Mann nicht mehr vorwerfen, dass er mich in diesem Kaff gefangen hält. Wenn ich insgesamt zufriedener wäre, würde man in der Klinik vielleicht wieder mehr auf mich hören. Ich könnte Oberarzt Schulze nicht mehr bei jeder Gelegenheit vorzuführen. Bei Klinikveranstaltungen könnte ich nicht immer krank werden Ich müsste vielleicht auf die Unterstützung von zwei Kolleginnen aus anderen Abteilungen verzichten, denn die halten seit damals immer zu mir. wenn es mit dem Groll weiter so bleibt, wie jetzt? Ich sorge dafür, dass diese Ungerechtigkeit nie vergessen wird. Ich muss mich nicht mit Schulze und Müller arrangieren. Sie lassen mich weitgehend in Ruhe und machen einen Bogen um mich und das ist gut so. Schulze und Müller versuchen mich nicht weiter zu provozieren und ich kann mir meine Dienste legen, wie ich will. Mit mir will sich keiner mehr anlegen, die fürchten meine Zunge! Ich gehe morgens weiter mit Übelkeit arbeiten. Ich raste vermutlich weiter bei jeder Kleinigkeit in der Klinik aus und bin danach fertig. Mir macht die Klinik überhaupt keine Freude, obwohl ich meinen Beruf eigentlich mal mochte und Jahre auf das Studium gewartet habe. Mich meiden manche Kollegen, weil sie Angst vor mir Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

112 Was muss ich dafür aufwenden (Kosten, Zeit, Energie usw.) Was gewinnen andere (Betrieb, Familie, Kollegen, Mitarbeiter) wenn /falls ich Chefarzt Müller vergebe? Ich könnte die Ungerechtigkeit im Bewusstsein der anderen nicht mehr anmahnen und Wiederholungen nicht verhindern. Ich müsste den ganzen Kram loslassen. Mir fehlen da auch Strategien, wie ich den Ärger dann zügeln kann. Die Kinder würden lernen, dass es auch nach schreienden Ungerechtigkeiten irgendwann wieder besser werden kann das wäre vielleicht ganz gut für sie! Sie würden vielleicht lernen, dass es auch mal ein»vorbei«gibt vielleicht wäre meine Tochter dann nicht mehr so nachtragend. Mein Mann hätte eine zufriedenere Frau. Die anderen Ärzte in der Klinik hätten eine zufriedenere Kollegin. Manche Patienten würden eine stringentere Therapie erhalten. Das wäre schon besser. Bei richtigen Fehlern würde ich schon einschreiten, aber die gibt es quasi nicht, Schulze ist ja nicht völlig unfähig. Aber die Anzahl der Medikamentenwechsel und Ver- wenn es mit dem Groll weiter so bleibt, wie jetzt? haben, wenn sie den Anordnungen von dem Schulze folgen. Das ist manchmal doof. Auf Dauer verliere ich endgültig die letzten Reste von Freude an meinem Beruf. Wenig ich muss nur einfach so weitermachen. Es bleibt so wie bisher. 7.4 Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes 111 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

113 Was verlieren andere / Worauf müssen andere verzichten Was müssen andere aufwenden (Kosten, Zeit, Energie usw.) wenn /falls ich Chefarzt Müller vergebe? unsicherungen wäre wahrscheinlich geringer, denn ich stelle das um, wenn die verlegt werden und ich das anders sehe. Da gab es auch schon mal Beschwerden, aber der Chef hält sich da raus. Die Assistenten hätten eine klarere und einheitlichere Ausbildung. Die müssten auf gar nichts verzichten, die wären wie immer fein raus verzichten muss immer nur ich! Die müssten auch nichts aufwenden, das ist ja das Gemeine! wenn es mit dem Groll weiter so bleibt, wie jetzt? Auf Spaß und Freude am Leben mit mir jedenfalls meine Familie. Wir könnten schon mehr Spaß haben, wenn es mir im Job besser ginge. Da müssen schon Viele Rücksicht nehmen und aufpassen, dass sie nichts Falsches sagen, meine Familie aber auch die Netteren in der Klinik. Der Vorteil an der Arbeit mit einem Flipchart oder einer Tabelle besteht darin, dass der Klient hinterher schwarz auf weiß vor Augen hat, welche Auswirkungen sein Groll hat und wie ihn ein mögliches Vergeben im freieren Weiterleben unterstützen könnte. In aller Regel liegen für den Klienten nach der Beendigung der Überlegungen die Vorteile klar auf der Hand und er ist bereit eine entsprechende Entscheidung zu treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er diese mit Entschiedenheit beibehält, ist hoch. Bei Bedarf kann die Entschiedenheit durch zwei weitere imaginative Interventionen unterstützt werden Entschiedenheit erlangen eine andere Person beraten Der Klient wird gebeten sich eine andere Person vorzustellen, die an einem anderen Ort in einer vergleichbaren Situation lebt. Anschließend wird er eingeladen, diese Person zu beraten. Der Therapeut kann dabei eine gewisse Unterstützung geben Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

114 Abschließend wird der Klient gebeten, seinem imaginativen Beratungsklienten einen Vorschlag zu machen, wie dieser sich entscheiden soll. Wording Ich möchte Sie einladen, dass Sie sich mit mir gemeinsam einmal vorstellen, irgendwo in einem kleinen Ort in Norddeutschland gibt es eine Frau, die in einer ganz ähnlichen Situation ist. Sie arbeitet genau wie Sie in einer Klinik und leidet nun schon seit fast zehn Jahren an genauso einer Ungerechtigkeit. Sie hat sich entschieden, ihren Job in dieser Klinik definitiv behalten zu wollen. Was würde diese Frau Ihnen sagen? Nun erfolgt die Analyse dieser Situation. Danach wird der Prozess fortgesetzt: Und wenn Sie nun dieser Frau dort abschließend ein paar Hinweise für ihr weiteres Vorgehen geben und dann zu einer Entscheidung raten, was sagen Sie ihr dann? Anschließend können weitere Fragen gestellt werden: Worüber klagt diese Person besonders heftig? Wie könnte das Leben der Person aussehen, wenn sie es wirklich schaffen würde diese zehn Jahre alte Verletzung loszulassen? Wie würde sich ihr Familienleben entwickeln, ihre Beziehung zu Kollegen, ihre allgemeine Arbeitszufriedenheit? Dabei wird dem Klienten die Gelegenheit gegeben, die Situation noch einmal aus einer distanzierten Sichtweise zu würdigen. Zum Abschluss wird der Klient gefragt, welchen Rat er der anderen Person erteilen würde. Daran anschließend kann noch einmal mit einer zweiten Intervention die Verantwortung für das weitere Leben in den Blick genommen werden Entschiedenheit erlangen Die Situation aus der Zukunft betrachten und Verantwortung übernehmen Der Klient wird gebeten, sich eine Situation in der ferneren Zukunft vorzustellen. Besonders geeignet sind dazu runde Geburtstage nach Abschluss der Arbeitstätigkeit am häufigsten wird der 70. Geburtstag gewählt. Es ist aber auch möglich, den Klienten zu bitten ganz weit in die Zukunft zu gehen, bis kurz vor das Ende des eigenen Lebens. Diese Übung kann einerseits als reine Imagination durchgeführt werden, andererseits erleben es viele Klienten als unterstützend, diese Übung leibhaft zu erleben und sich dabei im Raum zu bewegen. Für die Übungsumsetzung mit Bewegungsanteilen wird im Therapieraum vom Klienten eine Zeitlinie (Timeline) ausgelegt (zum Beispiel mit einem Seil oder mit Markierungspunkten für verschiedene Lebensstationen). Auf dieser Linie kann der Klient während der Übung körperlich in die Zukunft schreiten (und danach in die Gegenwart zurückkommen). Aus der Zukunftsposition heraus wird der Klient gebeten, sich umzuschauen und auf sein Leben mit dem gelungenen Vergebungsprozess zurückzuschauen. 7.4 Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes 113 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

115 Der große Vorteil bei diesem Vorgehen besteht darin, dass der Klient einmal antizipieren muss, wie sein Leben verlaufen könnte, wenn er vergibt. In vielen Fällen führt allein das Durchspielen der Möglichkeit vergeben zu haben dazu, dass der Klient diesen Weg überzeugt einschlägt. Bei Bedarf kann anschließend auch die Entscheidung nicht zu vergeben auf diese Weise untersucht werden. Da prinzipiell beide Alternativen betrachtet werden können, sollte es von der Intention des Klienten abhängig gemacht werden, welche Variante zuerst betrachtet wird. Hier geschieht das am Beispiel von Paul. Wording Paul, ich möchte Sie zu einem weiteren Gedankenexperiment einladen. Gesetzt den Fall, Ihr gesamtes Leben würde in diesem Raum quasi wie auf einer Linie abgebildet sein, wo läge dann Ihre Vergangenheit und wo Ihre Zukunft? (Klient beschriftete Karten oder Zettel und legt sie auf die bezeichneten Stellen auf dem Boden.) Und wo ist diese Situation, in der Sie sich entscheiden, ob Sie dem Täter endgültig vergeben wollen? Bitte geben Sie auch dieser Situation einen Platz auf dieser Linie und markieren Sie sie. (Therapeut gibt dem Klienten eine weitere, andersfarbige Karte zum Markieren.) Und nun möchte ich Sie einladen, vorwärtszugehen in Ihre Zukunft bis kurz vor das Ende Ihres Lebens. Sie haben Ihr Leben gut gelebt, es ist mit allem, was dazugehörte, ein gutes Leben geworden. Und nun schauen Sie zurück in die Situation damals, wo der junge Paul in dieser Entscheidung stand zu vergeben oder nicht zu vergeben. Und wenn Sie sich diese Situation damals jetzt so anschauen, wie hat sich Paul damals entschieden? und Sie können jetzt einfach erst einmal eine Variante wählen und anschauen Falls der Klient zögert, kann der Therapeut nachlegen:» und bei Bedarf können wir uns die andere Möglichkeit später auch noch anschauen, es geht im Moment nur einfach darum, womit Sie erst mal anfangen wollen«. Klient:»Er hat dann doch vergeben.«okay, dann lassen Sie uns anschauen, wie sich Pauls Leben danach weiter entwickelt hat. Was hat sich dadurch alles positiv verändert?. (hier sollten die unterschiedlichen Bereiche psychisches Erleben, Gesundheit, Beziehungen, Familie, Beruf, betrachtet werden.) Und wenn Sie so darauf schauen, so kann es sein, dass es auch etwas gibt, was Sie Paul mitgeben möchten, was er beachten soll, auf diesem Weg des Vergebens. Und Sie haben ja jetzt die Weisheit Ihres ganzen Lebens zur Verfügung und können ihm alles mit auf seinen Weg geben, was Ihnen wichtig ist Die zweite Phase Den Verlust in vollem Umfang anerkennen

116 Klient:»Es hat keinen Zweck, irgendwann machst Du es sowieso! Du weißt, dass es der einzig vernünftige Weg da raus ist, dann kannst du es auch gleich machen, dann hast Du länger was davon!«in Ordnung, und wenn Sie die Situation noch einmal abschließend betrachten und dem jüngeren Paul alles gesagt haben, was Ihnen wichtig ist, dann kommen Sie bitte hierher in die Gegenwart zurück. Anschließend wird der Klient in der Gegenwart als der jüngere Paul angesprochen:»und Sie haben ja gerade gehört, was Ihnen der ältere Paul Ihr weises altes Ich gesagt hat. Wie sehen Sie das jetzt?«wenn sich der Klient kongruent für die Fortsetzung des Weges entschieden hat, kann direkt begonnen werden die Sicht des Täters zu erforschen (vgl. Abschn. 8.2). Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass es auch Klienten gibt, die das Vergeben nach diesen Schritten als Möglichkeit für sich ablehnen. Selbstverständlich hat der Therapeut diese Entscheidung genauso zu respektieren, wie die andere für das Vergeben. Interessanterweise ist es so, dass schon die Schritte bis hierher bei vielen Klienten eine Veränderung der Haltung zu der vergangenen Situation bewirken. Auch Klienten, die das Vergeben letztendlich ablehnen, sind bereits nach den bisherigen Prozessschritten häufig ruhiger bezüglich der auslösenden Situation. Sowohl das Arbeiten mit Zeitprogression, als auch die Betrachtung aus einer Beraterposition (Sachse, 2008) werden in verschiedenen therapeutischen Verfahren genutzt. Die Zusammenstellung der Grundstruktur (sowohl die ausführliche Betrachtung von Vor- und Nachteilen, als auch die Zusatzübungen) gehen auf einen Entscheidungsprozess zurück, der bereits seit über 500 Jahren für Lebensentscheidungen eingesetzt wird. Die Grundstruktur dafür findet sich im Buch»Geistliche Übungen«von Ignatius von Loyola (1998). 7.4 Entscheidung dem Täter zu vergeben im Angesicht des wahren Verlustes 115 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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118 8 Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben In den bisherigen Prozessschritten sind folgende Aspekte betrachtet und gewürdigt worden: " Die Schädigung des Opfers ist in ihrer vollen Dimension mit den zugehörigen Gefühlen erfahren und vom Therapeuten validiert worden. " Es gibt nach der Prüfung durch den Klienten einen Täter, der für diese Schädigung schuldhaft verantwortlich ist. " Der Klient hat bereits erfahren, dass er in der Lage ist, durch den Fitten Erwachsenen, sein Inneres Kind einigermaßen zu trösten. " Der Klient hat die Vor- und Nachteile des Vergebens abgewogen und sich dafür entschieden. Nun wird in einem nächsten Schritt der Verursacher des Schadens der Täter in den Blick genommen. Das ist erforderlich, damit die Gedanken des Opfers, die bisher immer wieder um unterschiedliche Aspekte des Tätes kreisten in einem formalisierten Prozess ein mehr oder minder vollständiges Bild erhalten. Erst danach wird ein weiteres Durchdenken der Situation für den Klienten als nutzloses Grübeln erkennbar. Abschließend wird der Täter aus seiner fixierten und reduzierten Täterrolle entlassen. Durch die Entlassung aus der Täterrolle entfällt die dadurch definierte Opferrolle. Deswegen betrachtet sich der Klient anschließend noch einmal selber in seiner Rolle als ehemaliges Opfer. Teilweise wird es dabei erforderlich, mit eigenen Schuldanteilen umzugehen. Diese können einerseits aus der Tat herrühren, andererseits aber auch aus den Folgen des langfristigen Verbleibs in der Opferrolle und den Auswirkungen, die das auf das System des Klienten gehabt hat. Selbstverständlich gibt es viele Situationen, in denen das Opfer sich mit der Person des Täters auseinandersetzt und dabei feststellen muss, dass es als Opfer unschuldig in das Geschehen verwickelt wurde. In diesen Fällen muss der Klient sich meist wesentlich intensiver mit Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit und der Angst vor einer potenziellen Wiederholung auseinandersetzen. Dann ist es Aufgabe des Therapeuten, alle eventuellen Selbstzuschreibungen von Schuld, welche die Hilflosigkeit abmildern würden, aufzuzeigen und aufzulösen. Anschließend wird eine realistische Einschätzung für ein potenziell bestehendes Restrisiko ermittelt und es werden angemessene Verhaltensweisen für den Umgang mit diesem Restrisiko erarbeitet. Auch in diesem Schritt kann das Vorgehen eher kognitiv oder eher emotionsfokussiert erfolgen. 8 Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben 117 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

119 Das eher kognitive Vorgehen eignet sich als erster Schritt bei belastenden körperlichen Situationen und beim traumatischen Verlust von Angehörigen oder dem Miterleben von Gewaltexzessen. Erst danach kann entschieden werden, in welchem Maße einem derartigen Klienten ein emotionsfokussiertes Vorgehen überhaupt angeboten werden sollte. Das kognitive Vorgehen ist auch primär erst einmal geeigneter, wenn Klient und Begleiter (noch) keine intensive (therapeutische) Beziehung zueinander haben. Derartige Situationen können zum Beispiel im Rahmen betrieblicher Coachings auftreten. Gegebenenfalls kann später auch nach einem kognitiven Beginn mit stärker emotionsfokussierten Ansätzen weitergearbeitet werden. Ein stark emotionsfokussiertes Vorgehen ist insbesondere bei Kränkungen und Situationen mit einer wahrscheinlichen»mitschuld«des Opfers geeignet. Die nachfolgende Tabelle stellt kognitives- und emotionsfokussiertes Vorgehen zu diesem Zeitpunkt im Prozess einander gegenüber: Tabelle 8.1 Gegenüberstellung des kognitiven- und emotionsfokussierten Vorgehens eher sinnvoll, wenn der Klient Wirkung Kognitives Vorgehen " unschuldig ist und Opfer fremder Täter wurde " durch die Tat stark geschädigt wurde " vorsätzlich geschädigt wurde " eine emotionsfokussierte Vorgehensweise ablehnt Durch den ohnehin schon vorhandenen Schaden könnten emotionsfokussierte Vorgehensweisen den Klienten zu diesem Zeitpunkt noch überfordern. Emotionsfokussiertes Vorgehen indirekte imaginative Mitteilung an den Täter " jemandem vergeben möchte, der schon verstorben ist " jemandem vergeben möchte, zu dem eine Beziehung endgültig abgebrochen wurde Die höhere Emotionalität führt zu einer stärkeren inneren Überzeugung. Das erhöht die Entschiedenheit im Vergleich zum kognitiven Vorgehen. direkte imaginative Konfrontation mit dem Täter " zum Täter in einer andauernden Beziehung steht " vom Täter verlassen wurde " vornehmlich Kränkungen vergeben will " möglicherweise eine Mitschuld an der Situation trägt Durch die direkte Konfrontation wird jeder weitere Kontakt mit dem Täter zu einer Erinnerung an die Vergebensentscheidung. Während des Prozesses Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

120 Tabelle 8.1 (Fortsetzung) Weiteres Schreibritual Kognitives Vorgehen Vergebungserklärung Emotionsfokussiertes Vorgehen indirekte imaginative Mitteilung an den Täter Vergebungsbrief oder Vergebungserklärung direkte imaginative Konfrontation mit dem Täter werden dem Klienten ggf. Inkongruenzen deutlich, die auf einer Mitbeteiligung beruhen können. Vergebungsbrief und Vergebungserklärung 8.1 Verständnis für die Situation des Täters erarbeiten kognitives Vorgehen Bei einer kognitiven Vorgehensweise wird zuerst gemeinsam mit dem Klienten diskutiert, unter welchen Umständen ein Mensch in derartiger Art und Weise zu einem Täter werden kann. Selbstverständlich ist es dabei am hilfreichsten, wenn der Täter und seine Sozialisationsbedingungen bekannt sind. Das ist jedoch häufig nicht der Fall. Die Aufklärungsquote von Straftaten lag im Jahr 2015 in Deutschland bei 56,3 % (gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Inneren, 2016). Also wird beispielsweise etwa der Hälfte der Opfer von Straftaten nichts über den Täter bekannt werden. Immer wenn diese Bedingungen nicht bekannt sind, ist es psychisch im Sinne eines in sich kohärenten Narrativs zum Schließen einer Gestalt auch wirksam, eine wahrscheinliche, in sich schlüssige Geschichte des Täters gemeinsam mit dem Klienten zu konstruieren. Gemeinsam mit dem Klienten kann anschließend erörtert werden, inwieweit dieser sich in einem weiteren Schritt ein emotionsfokussiertes Vorgehen zutraut. Ein Vergebensprozess ist häufig umfassender wirksam, wenn er ein starkes emotionales Erleben beinhaltet. Falls der Klient zustimmt, wird mit diesem fortgefahren. 8.2 Die Sicht des Täters erkunden emotionsfokussiertes Vorgehen Soll das Verständnis für den Täter und die Tat weiter vertieft werden, ist es sehr hilfreich, sich in die Sicht des Täters so weit wie möglich hinein zu versetzen. Dabei 8.2 Die Sicht des Täters erkunden emotionsfokussiertes Vorgehen 119 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

121 hilft es oft, auch dessen Sozialisationsbedingungen, seine Biografie und Herkunft zu betrachten. Einerseits kann dies in ähnlichen Situationen möglicherweise helfen, eine Wiederholung zu verhindern. Andererseits wird der Täter, der im Moment nur auf die Tat reduziert ist, wieder als ganzer Mensch gesehen. Das vertiefte Verständnis des Täters ist besonders relevant, wenn Täter und Opfer in Zukunft weiter in engem sozialen Kontakt stehen werden und es sich um emotionale Kränkungen handelt. Hierzu bietet sich ein Modell an, in dem verschiedene Wahrnehmungspositionen eingenommen werden: (1) die Position des Opfers (2) die Position des Täters (3) die Position einer Kamera Der Einstieg gelingt vielen Klienten am leichtesten, wenn mit der Kameraposition begonnen wird. Der Klient kann den Tathergang noch einmal aus größerer Entfernung dissoziiert, Schritt für Schritt beschreiben. Anschließend wird der Klient gebeten, möglichst vollständig in die Rolle des Täters zu schlüpfen. Dabei unterstützt der Therapeut den Klienten dabei, indem er ihn systematisch in die Rolle hineinführt: Wording Für den Täter Fritz in eine Situation mit dem Opfer Paul: O. k., und Sie sind jetzt Fritz, was haben Sie heute an, Fritz (welche Kleidung), welche Schuhe, welche Hose, tragen Sie ein Hemd oder einen Pulli? Und wie fühlt es sich an, so in diesen Hosen und diesem Pulli da zu sitzen? Und Fritz, ist das gerade Ihre normale Haltung, in der Sie da gerade sitzen? Und jetzt, Fritz, schauen Sie mal kurz auf den Stuhl dort drüben. Dort sitzt der Paul. Und was sagen Sie jetzt zu dem Paul (hier wird die Ursprungssituation benannt)? Und wie reagiert der Paul? Der Begleiter leitet den Klienten an, nun aus der Rolle des Täters zu agieren. Das bedeutet, dass der Klient jetzt von sich als Täter in der ersten Person und in der Gegenwart spricht. Der Klient wird gebeten, seine Sichtweise auf die Situation und das Opfer aus dieser Rolle zu schildern. Dabei spricht er über das Opfer in der dritten Person oder er spricht das Opfer in der zweiten Person direkt an. Falls der Klient die Sprachmuster verändert, kann der Begleiter den Satz einfach in der korrekten Sprachform wiederholen. Oft ist es nicht erforderlich, dass der Klient noch einmal seine Position als Opfer einnimmt und auf dessen Stuhl wechselt. Sollte er allerdings nicht in der Lage sein, die Reaktionen des Opfers aus der Kameraposition oder aus der Position des Täters zu verstehen, so kann der erneute Wechsel in die ursprüngliche Opferrolle hilfreich sein Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

122 In der Regel ist es jedoch ausreichend, wenn der Klient zwischen der Rolle des Täters und der Position hinter der Kamera mehrfach wechselt, bis die Absicht und Vorgehensweise des Täters für ihn nachvollziehbar ist. Während dieser Übung ist es für den Klienten unterstützend, wenn der Begleiter darauf achtet, dass der Klient in der Kameraposition, sachlich-neutrale Formulierungen für Täter und Opfer nutzt. Bei beschimpfenden Formulierungen sollte der Therapeut kurz unterbrechen und um Neuformulierung bitten. Das Ziel besteht darin, den Täter schlussendlich nicht mehr auf die Tat zu reduzieren und das sprachliche assoziative Netzwerk, das mit Tat und Situation verbunden ist, auch so wenig wie möglich zu aktivieren. Stauss (2010) schlägt für diese Phase des Prozesses vor, den Klienten vier Briefe aus der Rolle des Täters schreiben zu lassen. Der Erklärungsbrief ist aus unserer Sicht zusätzlich zur imaginativen Konfrontation sinnvoll, wenn der Klient noch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Geschehen benötigt. Die Auswahl der weiteren vorgeschlagenen Briefe muss sehr exakt an die Situation des Klienten angepasst werden. Es sollten dabei aus unserer Sicht nur solche Briefe Verwendung finden, die der reale Täter möglicherweise zu schreiben bereit wäre (beispielsweise bei bereits verstorbenen Tätern). Diese Briefe eignen sich nur sehr bedingt als Aufgabe zwischen zwei Sitzungen. Sie sollten bei Bedarf während der Sitzung oder unmittelbar davor geschrieben werden. Die von Stauss (2010) vorgeschlagenen Briefe enthalten folgende Aspekte: (1) Erklärungsbrief aus der Sicht des Täters auf die Tat: Er erklärt, wie es aus seiner Sicht zu der Tat gekommen ist. In diesem Brief wird explizit betont, dass diese Erklärung die Tat nicht entschuldigen oder beschönigen soll. Die Intention des Briefes liegt in der besseren Verstehbarkeit der Tat durch das Opfer. (2) Brief aus Tätersicht auf die Handlungsfolgen für ihn selbst: In diesem erläutert der Täter, welche Konsequenzen die Tat für ihn und sein Leben hatte (und welchen Schaden er sich selber durch die Tat zugefügt hat). (3) Reuebrief des Täters: In diesem Brief lässt Stauss den Klienten aus der Rolle des Täters die Tat bereuen. Zusätzlich lässt er aus der Sicht des Täters formulieren, was die Tat und die Tatfolgen wohl für den Klienten bedeutet haben. (4) Brief aus der Sicht des Täters mit der Bitte um Vergebung Die Auseinandersetzung mit dem Täter kann beim Klienten noch einmal starke Reaktionen und Emotionen hervorrufen. Das gilt auch für die beiden folgenden vertiefenden Schreibaufgaben. Der Klient sollte immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, dass solche Reaktionen normal und hilfreich sind. Sie dienen der emotionalen Verarbeitung des Erlebten und sind dem inneren Kindmodus zuzuordnen. Bei jedem Auftreten besteht die Aufgabe des Klienten darin, dieses Innere Kind zu versorgen und zu trösten. Je besser es dem Klienten gelingt, sich selbst gegenüber Mitgefühl zu entwickeln und diese innerlich tröstende Haltung einzunehmen, desto leichter fällt es ihm in der Regel, umfänglichen Nutzen aus dem Vergebungsprozess zu ziehen. 8.2 Die Sicht des Täters erkunden emotionsfokussiertes Vorgehen 121 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

123 8.2.1 Dankesbrief als weiterführende Aufgabe emotionsfokussiertes Vorgehen Vergebens-Prozesse insbesondere in nahen Beziehungen erweisen sich häufiger als kompliziert. Insbesondere trifft dies zu, wenn in der Beziehung zum Täter gleichzeitig auch sehr positive Aspekte vorhanden sind. Hier treten häufiger Ambivalenzen zwischen den Schuldzuschreibungen einerseits und Schuldgefühlen andererseits, wegen der vorhandenen Kritik an der durchaus auch positiven Beziehung, auf. In diesem Fall eignet sich die folgende zusätzliche Aufgabe. Der Klient wird gebeten, einen Dankesbrief an den Täter zu schreiben für alles, was gut war und nichts mit der schwierigen Situation zu tun hatte. Es sollte jedoch explizit vorab besprochen werden, dass die Tat und alles, was damit zusammenhängt, dadurch nicht geschmälert wird. Sie bleibt gleichzeitig in ihrer vollen Schwere und ihrem vollen Umfang bestehen. Durch den Dankesbrief wird dem Klienten die Möglichkeit gegeben, neben dem Vergebensprozess auch die andere Seite der ambivalenten Beziehung adäquat zu artikulieren, das Positive wertzuschätzen und zu erhalten. Dankesbriefe werden heute im Rahmen der positiven Psychologie eingesetzt, da sie beim Klienten nachweislich depressionsmindernd wirken (Toepfer & Walker, 2009). Es wird in der Literatur teilweise empfohlen, Dankesbriefe an den Adressaten zu übergeben. Dieser Schritt ist hier im Augenblick nicht indiziert. Dankesbriefe können auch als paradoxe Interventionen ihre Wirksamkeit entfalten, zum Beispiel bei einer Kränkungssituation mit (hoher) eigener Beteiligung des Opfers. Manche Klienten ziehen einen hohen sekundären Gewinn aus der Kränkungssituation und nutzen ihre Opferrolle zu ihrem Vorteil. In solchen Situationen kann es ebenfalls sinnvoll sein, einen Dankesbrief an den Täter zu schreiben. Dabei wird dann der Dank für die durch die Tat auch entstandenen Gewinne artikuliert. Die beiden letzten Einsatzbereiche eignen sich jedoch weniger gut als Aufgaben für zu Hause, da Interventionen mit paradoxem Charakter die Beziehung zum Therapeuten belasten können, wenn ein direktes Besprechen der Erfahrungen nicht möglich ist. In den letzten Jahren hat die Forschung gezeigt, dass schon kleine emotionale Schreibübungen große psychologische Wirkungen haben. Die Notwendigkeit beim Schreiben das zu Sagende vollständig auszuformulieren und die gleichzeitige Verlangsamung des Denkprozesses durch das Schreiben scheinen per se therapeutisch wirksam zu sein. Untersuchungen über die positiven Auswirkungen von Dankesbriefen sind umfangreich (Emmons & McCullough, 2003) Die schriftliche Anklage emotionsfokussiertes Vorgehen Zur Vorbereitung auf den nächsten Schritt kann das schriftliche Verfassen einer formalen Anklageschrift sehr unterstützend wirken. Der Klient wird dadurch gezwun Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

124 gen, seine Vorwürfe vollständig zu durchdenken und dabei seine Denkprozesse so weit zu verlangsamen, dass er sie in eine geordnete Sprache bringen kann. Außerdem hat eine schriftliche Anklage ein völlig anderes Gewicht als klagende und jammernde Worte. Die schriftliche Anklage sollte folgende Punkte umfassen: " Beschreibung der Tat oder der Situation " die vermeintliche negative Intention des Täters " die Folgen für das Opfer " gegebenenfalls das inadäquate Verhalten des Täters nach dem Geschehen (z. B. fehlende Wiedergutmachung, ) Dabei sollte die Formulierung umso umfassender sein, je stärker es sich um eine Kränkung oder ein inadäquates elterliches Verhalten handelt. Viele Klienten brauchen erstaunlich lange, bis sie die wirkliche Anklage formuliert haben. Nach einer adäquaten Vorbesprechung eignet sich die schriftliche Formulierung daher gut als Aufgabe zwischen zwei Sitzungen. Zwei Anregungen dazu (Anklageschrift und Anklagetabelle) finden sich im Arbeitsmaterial (s. AB 8). Der große Vorteil einer schriftlichen Anklage besteht darin, dass sich die Anklageschrift in einem späteren Vergebensritual verbrennen lässt. Die Beobachtung, dass sich die Anklage im Feuer auflöst, ist für viele Klienten hilfreich Änderung des Prozesses bei neuen Erkenntnissen Manchmal wird im Verlauf der Arbeit klar, dass es sich beim vermeintlichen Täter zwar um den Verursacher eines Schadens handelt, dieser dafür aber nicht verantwortlich ist. Durch das Hineinversetzen in die Rolle des Täters wird diese Erkenntnis begünstigt und tritt daher hier öfter auf. In diesem Fall kommt es zu einer Änderung des Prozesses. Im weiteren Verlauf wird in Richtung einer radikalen Akzeptanz gearbeitet. Manchmal kommt es sogar dazu, dass ein Opfer erkennt, dass es keinen Täter gibt und jemand zu Unrecht für eine Situation beschuldigt worden ist. Beispiel Ein Arzt hatte im Nachtdienst größere Teile einer Klinik alleine zu versorgen. Zwei Patienten ging es sehr schlecht, er versorgte den einen Patienten, während der andere Patient verstarb. Der Arzt war nicht in der Lage an zwei Standorten gleichzeitig zu sein. Potenziell hätte er sich aber dafür entscheiden können, die Reihenfolge der Behandlung zu verändern, was mutmaßlich das Leben des Einen gerettet hätte, während der Andere verstorben wäre. Nachdem sich der Klient in die Rolle des Arztes hinein versetzt und das Dilemma zwischen zwei zu rettenden Leben intensiv erfahren hatte, kam es zu einer starken Trauerreaktion, die bisher nicht erfolgt war. Kurz danach erklärte der Klient, dass der Arzt recht gehabt habe und nicht schuldig sei. 8.2 Die Sicht des Täters erkunden emotionsfokussiertes Vorgehen 123 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

125 Einige Tage vorher hatte der Klient ein sehr scharfes Beschwerdeschreiben an die Klinikleitung gerichtet. Der Arzt bedauerte natürlich den Tod des Patienten sehr, aber wies eine Schuldzuweisung von sich. Der Klient wiederum bedauerte nun sein Schreiben und zog es zurück. Der weitere Prozess bezog sich nun nicht mehr auf Vergebensarbeit, sondern auf die Trauer und die Akzeptanz des Todes. Auch hier können bestimmte Aspekte aus der Vergebungsarbeit, wie trösten des Inneren Kindes und das Zurückweisen von Forderungen Innerer Eltern, durchaus hilfreich sein. 8.3 Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen Das folgende Vergebensritual enthält mehrere emotionsfokussierte Bestandteile. Je nach der Art der Verletzung und der Stabilität des Opfers sollten diese mehr oder weniger vollständig eingesetzt werden. Im Einzelnen besteht es aus folgenden Komponenten: " der imaginativen Konfrontation des Täters mit der Realität, dass das Opfer ihm jetzt vergibt " der expliziten Entlassung des Täters aus seiner Rolle mit dem Ziel der dreifachen Befreiung des Opfers durch: (1) das Zerstören oder Verbrennen einer eventuell erstellten Anklageschrift (2) das imaginative Erkunden der Reaktion des Täters (3) das Ausstellen einer Vergebensurkunde Die direkte Konfrontation mit dem Täter in der Imagination ist sehr wirksam, wird aber gleichzeitig auch als belastend erlebt. Sollte die belastende Situation dramatisch sein und noch nicht lange zurückliegen, so könnte ein derartiges Vorgehen gegebenenfalls zu einer Retraumatisierung führen. In solchen Fällen bietet es sich an, lediglich eine Vergebungsurkunde auszustellen. Andererseits lassen sich auch langjährige Grollreaktionen, die durch stärker kognitive Ansätze nicht veränderbar waren, mit der direkten Konfrontation teilweise in einer Sitzung auflösen. Die Einschätzung, welche Bestandteile sinnvoll sind, trifft der jeweilige Therapeut in jedem Einzelfall neu, sodass kein Vergebensprozess dem anderen exakt gleichen wird. Bei Bedarf kann der Prozess noch ausgeweitet werden, indem ein zusätzliches Rescripting der Ursprungssituation erfolgt. Dabei stellt das Opfer den Täter imaginativ Ressourcen bereit. Anschließend wird ein imaginativer Film mit einer neuen Lösung der Ursprungssituation konstruiert (Anleitung im Arbeitsmaterial, s. AB 9) Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

126 8.3.1 Den Täter imaginativ mit der Vergebung konfrontieren Vor Beginn der imaginativen Arbeit ist es sinnvoll, den vollständigen Ablauf mit dem Klienten ausführlich zu besprechen. Dabei wird außerdem noch einmal Folgendes klargestellt: Der Klient wird um seiner selbst Willen vergeben, um selbst von den veränderlichen Folgen der Verletzung frei (so frei wie möglich) zu werden. Das bedeutet, dass er den Täter obgleich dieser der Verursacher dieses Schadens bleibt und die Tat verwerflich bleibt nicht länger dieser Tat bezichtigen und beschuldigen wird. Der Vergebende wird auf Abwertungen gegenüber Dritten und auf andere Formen von Rache verzichten. Er tut dies, um die drei Freiheiten des Vergebens zu erlangen: " Freiheit 1: Da der Vergebende den Täter entlässt, gibt es keinen Täter mehr. Deswegen gibt es auch kein Opfer mehr. Der Vergebende wird jetzt zum freien Menschen, unabhängig vom damaligen Verhalten des Täters. " Freiheit 2: Der Vergebende ist nicht mehr darauf angewiesen, den Täter auf seine Täterschaft und sich auf seine Opferrolle zu reduzieren. Der Vergebende kann den Verursacher wieder als Mensch mit allen Chancen und Risiken betrachten. Dadurch wird der Vergebende frei, seine zukünftige Beziehung zum Verursacher zu definieren. " Freiheit 3: Der Vergebende befreit sein System von dem schwelenden Konflikt, den Täter und Opfer miteinander verbreitet haben. Falls der Klient Teile der Imagination oder des nachfolgenden Rituals ablehnt, so sollte eine Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse des Klienten erfolgen. Nach dieser Vorbesprechung und der Zustimmung des Klienten wird er zu einer Imagination eingeladen. Er wird gebeten, sich vorzustellen, er könne den Täter (in der Imagination) direkt mit seiner Entscheidung zur Vergebung konfrontieren. Die Übung kann noch intensiviert werden, wenn der Therapeut einen schweren Stein oder ein schweres Buch bereithält, das die Last des Schadens und des Grolls symbolisiert. Die Imagination verläuft in folgenden Schritten: " Der Klient legt im Raum einen imaginativen Platz für den Täter und einen für sich selber also für den Vergebenden fest. Zwar kann im Sinne einer Stühlearbeit mit zwei Stühlen im Sitzen gearbeitet werden, jedoch ist hier in der Regel ein Arbeiten im Stehen sinnvoller. " Der Vergebende wird gebeten, seinen eigenen Platz einzunehmen. (Falls mit einem Symbol für die Last gearbeitet wird, nimmt der Vergebende dieses nun in die Hände). Er wird gebeten wahrzunehmen, wie der Täter jetzt vor ihm steht. Dabei unterstützt es den Klienten oft, wenn er den Täter so beschreibt, wie er ihn gerade vor sich sieht. " Nun konfrontiert der Vergebende den imaginierten Täter explizit mit der Tat, den entstandenen Verletzungen und den Folgen aus diesen Verletzungen. Er erklärt dem Täter, dass alles bezüglich dieser Tat damals im Jahr oft genug durchdacht 8.3 Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen 125 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

127 wurde und dass sich der Vergebende alle Lernchancen aus der Situation gesichert hat. Dabei ist es wesentlich, die gesamte Last der Verletzung zu artikulieren. Der Vergebende erklärt dem Täter, dass der aktuelle therapeutische Prozess dessen Schuld nicht mindert. Nun wird die vorab erstellte Anklageschrift vorgelesen. " Der Klient wird gebeten seine dabei entstehenden körperlichen Reaktionen wahrzunehmen, zu benennen und die zugehörigen Gefühle zu artikulieren Formales Vergebensritual durchführen Im Regelfall schließt sich jetzt direkt der rituelle Teil des Vergebensprozesses an. (Falls erforderlich, können jetzt noch auftretende starke Gefühle oder erneute Einwände noch einmal bearbeitet werden.) Das Ausführen eines Rituals hat diverse Vorteile und intensiviert den Prozess (vgl Exkurs: Wirkungsaspekte des Vergebensrituals). Ein derartiges Ritual kann in folgender Weise angeleitet werden: " Der Vergebende teilt dem Täter im direkten imaginativen Augenkontakt mit, dass er ihm jetzt vergibt, weil er als Vergebender diese alte Last damit ablegt (häufig hilft es, dabei konkret die Last und das Alter dieser Last zu benennen). Das heißt, dass der Vergebende ab jetzt aus freier Entscheidung heraus, auf Rache und weitere (innere und äußere) Diskussionen über die Tat verzichtet! " Auch teilt er dem Täter mit, dass dieses Geschenk der Vergebung, das der Vergebende ihm gerade macht, vollständig unverdient ist. Weder die Tat noch deren Verwerflichkeit werde damit im Geringsten geschmälert! Es ist ein freies Geschenk des frei Vergebenden. " Zusätzlich kann der Täter noch damit konfrontiert werden, dass dieses Vergeben in der ausschließlichen Macht des Klienten liegt. Ein eventuell vorhandenes Symbol wird nun dem Täter vor die Füße gelegt. Dem Täter wird Folgendes mitgeteilt:»ab jetzt bist Du für mich nicht mehr Täter, sondern. und ich bin nicht mehr Dein Opfer, sondern ich bin! Ich bin frei meinen Weg in die Zukunft zu gehen.«anschließend wird gegebenenfalls die Anklageschrift zerrissen und zusätzlich verbrannt. Die Asche kann anschließend noch vergraben oder in einen Fluss oder in den Wind gestreut werden. " Von nun an wird der Täter falls die Ursprungssituation erwähnt wird nur noch als Verursacher bezeichnet oder besser noch mit seinem realen Namen angesprochen und benannt. Auch der Klient wird nur noch als der Vergebende bezeichnet oder mit seinem Namen benannt. " (Falls der Klient möchte, kann er danach die Rolle des Verursachers einnehmen und spüren, wie sich die veränderte Beziehung anfühlt.) " Nun nimmt der Vergebende von seinem eigenen Platz aus die Reaktionen des ehemaligen Täters wahr, ohne sein eigenes Verhalten weiter zu begründen oder zu rechtfertigen. Danach schickt der Vergebende den Verursacher in dessen Leben zurück und schaut zu, wie sich dieser entfernt Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

128 " Abschließend wendet sich der Klient seiner eigenen Zukunft, seinen neuen Zielgewohnheiten und deren Nutzen (Belohnung) zu. " Anschließend an den Abschluss des eigentlichen Rituals empfiehlt es sich, dass der Klient sich gründlich wäscht, duscht oder badet und frische Kleidung anzieht. Die Wirkung des Rituals ist umso höher, je vollständiger es ausgeführt wird. Unterstützend wirkt dabei, wenn der Klient vorab schriftlich Sätze formuliert, die er im Ritual gegenüber dem Täter aussprechen möchte und diese dann auch ausspricht. Werden die Sätze vorab einzeln auf Karten geschrieben, kann der Klient sie, sobald er sie ausgesprochen hat, beiseitelegen. Das erhöht den Charakter des Rituals und es entfällt ein eventuelles Nachfragen an den Therapeuten während des Prozesses. In einigen Fällen empfindet der Klient zu großen Widerstand, dem Täter ungeschützt gegenüber zu stehen. Dann hilft es oft, eine imaginative Panzerglasscheibe zwischen Täter und Vergebendem zu installieren. Gegebenenfalls kann diese mit einem Einweglautsprecher ausgestattet sein. Sollte auch das noch zu belastend sein, kann die Botschaft durch einen Dritten zum Beispiel den Therapeuten überbracht werden. Die grundsätzlichen Prozessschritte bleiben auch in diesem Fall dieselben. Falls während des Prozesses erneut intensive Gefühle auftauchen, werden diese dem Inneren Kind zugeordnet. In solchen Fällen wird dem Inneren Kind versichert, dass es nach dem Prozess getröstet werden kann. Falls es notwendig ist, kann die Übung»Kinder trösten«(abschn ) erneut eingesetzt werden Ausstellung der Vergebensurkunde Nach Abschluss des Vergebensrituals ist es für Klienten häufig unterstützend, selber eine Urkunde auszustellen, in der sie die erfolgte Vergebung noch einmal besiegeln. Das hat mehrere Vorteile: " Das Erstellen einer schönen Urkunde (wertiges Papier besorgen, Schrift wählen, Entscheidung über PC oder handschriftliche Ausfertigung, Text formulieren ) dauert lange und erfordert eine intensive Beschäftigung mit dem Abschluss dieses Teiles des Vergebensprozesses (Ein Musterformular findet sich im Sinn einer Anregung im Arbeitsmaterial, s. AB 10). " Die Urkunde wirkt als Anker und kann den Klienten immer wieder an seine Entscheidung und seine Entschiedenheit zu vergeben erinnern. Das ist besonders relevant, wenn die Beziehung zum Täter aufrechterhalten wird und es zukünftig zu neuen Interferenzen kommen kann. " Gleichzeitig verdeutlicht die Urkunde dem Klienten, dass es in seiner Macht liegt, sein Leben frei zu gestalten. Der Verursacher kann nicht verhindern, dass diese Urkunde ausgestellt wird. In manchen Fällen ist es sinnvoll, zusätzlich einen Vergebungsbrief an den Täter schreiben zu lassen. Dieser hat in etwa den gleichen Inhalt wie die Vergebungsurkunde, spricht aber den Täter direkt an. Ein derartiges zusätzliches Vorgehen wirkt besonders 8.3 Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen 127 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

129 unterstützend, wenn der Täter bereits verstorben (oder nicht mehr erreichbar) ist und der Brief ihm durch Verbrennen ritualisiert»übermittelt«wird. Die Vergebungsurkunde verbleibt in jedem Fall beim Opfer. Sie wirkt in Fällen eventueller späterer Verunsicherung als Anker für die getroffene Vergebungsentscheidung Exkurs: Wirkungaspekte des Vergebensrituals Um die ritualisierte Struktur einiger Prozessanteile zu plausibilisieren, folgt ein Exkurs zu Wirkungsaspekten von Ritualen im psychischen Erleben. Rituale sind regelgeleitete Handlungsabläufe, die das menschliche Zusammenleben ordnen. Rituale finden sich an größeren und kleineren Übergängen des menschlichen Lebens. Van der Hart (2010) versteht Rituale als»vorgeschriebene symbolische Handlungen, die in einer bestimmten Weise und einer bestimmten Sequenz ausgeführt werden müssen manchmal in Verbindung mit bestimmten verbalen Formeln.«Hinzu kommt teilweise die Verwendung bestimmter Symbole im Rahmen des Rituals. Nach Langner (1992) dient ein Ritual dazu, den aktiven Abschluss einer symbolischen Transformation von Erfahrungen zu ermöglichen. Und schon van Gennep (1986) hat gezeigt, dass Rituale eine zentrale Funktion der Strukturierung der Übergänge zwischen den einzelnen Phasen des menschlichen Lebens einnehmen. Generell unterscheidet er dabei drei Phasen des Rituals: eine Trennungsphase, eine Übergangsphase und eine Angliederungsphase an den neuen Alltag. Ein Ritual hat dabei zwei Aspekte eine Bekenntnisfunktion nach innen und eine Zuschreibungsfunktion nach außen. Auch das Zusprechen einer Vergebung gegenüber dem Täter kann im Sinne von van Gennep als Übergangssituation des menschlichen Lebens aufgefasst werden. Der Klient geht aus der Opferrolle in die Rolle des freien Menschen (des frei entscheidenden Vergebenden). Das Ritual strukturiert in seiner vollständigen Form unterschiedliche Aspekte: " Es wird vom Therapeuten als Ritual angekündigt. Schon eine Ankündigung eines Rituals kann zu einer wirkungsvollen Angstreduktion und einer Leistungsverbesserung beitragen (Brooks et al., 2016). " Es beinhaltet nach innen die Bekenntnisfunktion, in der der Klient sich zum Verzicht auf weiteres Nachdenken und auf Rache bekennt (gegebenenfalls kann der Text hierfür vorher auf Karten vorformuliert werden). Nach außen beinhaltet es die Neudefinition der Rollen von Täter und Opfer. Nach innen und außen wirkt das Neubenennen beider Personen. " Das Ablegen einer schweren Last (Stein oder Buch) macht die Entlastung körperlich spürbar. Dabei kann ein schweres altes Buch mit sehr unterschiedlichen Geschichten noch einmal eine eigene symbolische Bedeutung entfalten. (Dieses Objekt sollte nach Beendigung des Prozesses vom Therapeuten entfernt werden). " Das Zerreißen einer schriftlichen Anklage symbolisiert den aktiven Verzicht auf diese und symbolisiert als aktive aggressive Handlung die Beendigung eventueller Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

130 aggressiver Fantasien des Opfers gegenüber dem Täter. Das nachträgliche Verbrennen der Reste bewirkt bei der Beobachtung noch einmal die passive Metamorphose des gesamten Materials die nicht in der Macht des Vergebenden steht. " Das Fortsenden des Verursachers in dessen Leben und das aktive Umwenden des Klienten zu seinen persönlichen Zielen stellt die Neuorientierung dar. " Das Waschen (Duschen, Baden) nach dem Vergeben verändert die Wahrnehmung moralischer Verfehlungen und vermindert die Wahrnehmung kognitiver Dissonanzen (Lee & Schwarz, 2010, 2011). Es unterstützt so das Loslassen möglicher eigener unbewusster Schuldanteile. Das neue Einkleiden markiert zusätzlich den Neubeginn. " Die Vergebensurkunde dokumentiert auch später noch die erfolgte Vergebung im Sinne eines Impact-Objektes. Der Ablauf bis zum Zerreißen der Anklageschrift stellt im Sinne van Genneps die Trennungsphase dar. Das Beobachten, wie die Reste der Anklageschrift von den Flammen verzehrt und verändert werden, zeigt den Übergangsteil. Die Angliederungsphase setzt mit dem Senden der beiden Beteiligten in ihre jeweiligen Leben ein. Gleichzeitig stellen Rituale im therapeutischen Sinne Impact-Techniken dar, die einen hohen mnemotechnischen und auch emotionalen Gehalt aufweisen (Banlieu, 2007). So bewirkt ein intensives Erleben eines Rituals einen hohen Erinnerungs- und Lerneffekt und erleichtert das Vergeben Integration des Vergebens im Sinne der Modusarbeit Auch die Durchführung eines wirksamen Rituals kann das Auftreten alter Gedanken und Gefühle nicht immer zuverlässig verhindern. Es ist damit zu rechnen, dass immer wieder Emotionen zu der Ursprungssituation auftreten können. Daher ist es oft unterstützend, wenn der Klient eingeladen wird, alle beteiligten Persönlichkeitsanteile (das Innere Kind und ggf. auch nörgelnde Antreiber)»offiziell«über die Vergebung zu informieren. Dies kann z. B. im Rahmen einer Stühlearbeit geschehen. Der Klient wird gebeten, die bisher bekannten Anteile zu imaginieren und ihnen mitzuteilen, dass das soeben erfolgte Vorgehen gerade»das Vergeben«war. Die Inneren Kindanteile erhalten anschließend die Versicherung, dass sie jederzeit Unterstützung erhalten werden, falls sich mal wieder alte Gefühle melden würden. Darüber hinaus sollten sie erfahren, dass so etwas normal sei. Zu einem solchen Wiederaufflackern kommt es insbesondere, wenn der Klient (unerwartet) zeitlichen, örtlichen oder personalen Triggern ausgesetzt ist (z. B. Jahrestage, Tageszeiten, Kontakt mit Personen, die mit dem Verursacher verbunden werden, plötzlich auftauchende Briefe, Fotos, ). Oft hilft es, dies mit dem Klienten im Sinne einer prophylaktischen Normalisierung solcher Erlebnisse zu besprechen. Gleichzeitig wird dem Klienten durch eine Entwicklungssuggestion mitgeteilt, dass diese aufflackernden Gefühle im Laufe der Zeit immer seltener werden. 8.3 Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen 129 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

131 8.3.6 Radikale Akzeptanz des verbleibenden Schadens Durch den Akt des Vergebens wird der real existierende Schaden, den das Opfer aus der Tat hat, nicht geringer. Es reduzieren sich jedoch die sekundären belastenden Gefühle, die einen großen Teil des Leidens ausmachen können. Dennoch bleibt häufig ein unveränderbarer Verlust vorhanden. Wie bereits in Abschnitt erwähnt, kann es durchaus eine emotionale Strategie des Opfers sein, seine Unversöhnlichkeit zu kultivieren, um auf diese Weise die schmerzhaften primären Emotionen des erlittenen Verlustes zu vermeiden. Nach dem Akt des Vergebens treten diese schmerzlichen Emotionen oft umso häufiger in den Vordergrund. Unter therapeutischen Aspekten ist dies einerseits ein Fortschritt jedoch sieht sich der Klient teilweise mit unerwartet heftigen Gefühlen konfrontiert. Eine zentrale Strategie zum Umgang mit diesen Gefühlen ist die sogenannte radikale Akzeptanz (Linehan, 1996) in anderen Kontexten auch als Bereitwilligkeit bezeichnet.! Akzeptanz oder Bereitwilligkeit bezeichnet eine Haltung in Form eines fortlaufenden Prozesses die jeweils real empfundenen Gefühle zuzulassen und wahrzunehmen, ohne die Intention zu haben diese zu verändern. Damit unterscheidet sich Akzeptanz oder Bereitwilligkeit nach Luoma und Kollegen (2009) von der Toleranz, die immer noch hofft, dass die Gefühle bald aufhören und es sich zum Besseren wendet. Eine erste Darstellung des Akzeptanzkonzeptes bewirkt bei Klienten häufig massive Ablehnung. Einerseits haben sie sich jahrelang bemüht, mit den unangenehmen und belastenden Gefühlen irgendwie fertig zu werden. Andererseits entsteht häufig der Eindruck, mit Akzeptanz sei das Akzeptieren externaler (z. B. sozialer) Ungerechtigkeiten gemeint. Daher ist es von zentraler Bedeutung dem Klienten zu verdeutlichen, dass es um die Akzeptanz dessen, was tatsächlich historisch war und um die Akzeptanz der zugehörigen und der aktuellen Gefühle geht. Dabei geht es gerade nicht um das Akzeptieren neuer Ungerechtigkeiten oder gar das positive Bewerten von vergangenem Unrecht. Ganz im Gegenteil, der Klient wird sogar ermutigt, sich an seinen Werten auszurichten und diese im Leben vermehrt umzusetzen und zu leben. Bereitschaft bzw. Akzeptanz ist nach Luoma und Kollegen (2009) ein Teil von Achtsamkeit. Sie kann auf Dauer im Gegensatz zum Vermeiden von negativen Gefühlen die Häufigkeit und die Intensität der entsprechenden Emotionen dämpfen, obgleich das an dieser Stelle nicht das Ziel ist. Manchen Klienten unterstützt zum Verständnis das Bild unterschiedlicher Küstenformen. An einer flachen Küste, an der die Wellen»vom Strand akzeptiert«werden, laufen sie langsam aus. An Felsen, die sich der Macht der Wellen entgegenstellen, entstehen hingegen hohe Wellen und weit gefährlichere Situationen Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

132 Vielen Klienten hilft es, wenn gemeinsam untersucht wird, in welchen Bereichen Akzeptanz unterstützend und hilfreich ist. Strosahl und Robinson (2009) nennen hier insbesondere: " spontan auftauchende Gedanken, Erinnerungen und Gefühle " Körperempfindungen (was nicht bedeutet, dass unangenehme und vor allem erstmalig auftretende Körperempfindungen keiner (ggf. einmaligen) medizinischen Abklärung und ggf. einer Behandlung bedürfen) " vergangene Ereignisse und persönliche biographische Ereignisse " real vorhandene, unveränderbare äußere Ereignisse und Stressfaktoren, sowie auch ggf. das Verhalten anderer Menschen Es gibt umfangreiche Programme zum Training von Akzeptanz und Achtsamkeit (Luoma et. al., 2009; Germer, 2012), die dem Klienten empfohlen werden können. Häufig ist es darüber hinaus nützlich, gemeinsam mit dem Klienten zu untersuchen, was seine Befürchtungen sind. Hier geben folgende Fragen eine Hilfestellung: " Und wenn dieses Gefühl jetzt einfach einmal da sein darf, was passiert dann? Und wenn auch das (vom Klienten auf die vorherige Frage benannte) da sein darf, was geschieht dann? " Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn Sie dieses Gefühl jetzt spüren würden? Okay, und was wäre das Schlimmste daran? (Diese Fragekette kann fortgesetzt werden, bis der Klient feststellt, dass es zwar unangenehm aber nicht wirklich schlimm sein würde.) Sehr häufig gelangen Klienten zu dem Ergebnis, dass das Erleben des Gefühls zwar unangenehm, unerwünscht und schmerzhaft, aber nicht wirklich schlimm und bedrohlich wäre. Von Bedeutung ist, dass dem Klienten klar wird, dass eine Emotion zwar eine Handlungsintention beinhaltet, aber keine Ausführungsvorschrift darstellt. Obwohl die Emotion vorhanden ist, kann die zugehörige intendierte Handlung unterlassen werden. Falls der Klient sich durch die Handlungsintentionen bedroht fühlt (zum Beispiel, wenn er bei Wut die Idee entwickelt, er würde / müsse seine Kommunikationspartner anbrüllen), sollten hierfür mehrere alternative Verhaltensweisen aktiv eingeübt werden. Hier wird der Rahmen der Akzeptanzarbeit verlassen und es kommen die Methoden zur Emotionsregulation zum Einsatz. Akzeptanz im Umgang mit wieder auftretenden Bildern Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten den Aufbau der Akzeptanz vergangener belastender Ereignisse zu begleiten. In Therapiesituationen, in denen sich beispielsweise nach Verlustsituationen einzelne Bilder einer hoch belastenden Ursprungssituation immer wieder aufdrängen (z. B. das Bild des Angehörigen, der unter starken Schmerzen leidend im Krankenhausbett liegt), kann eine Akzeptanzintervention durchgeführt werden. Sie führt zu einem erhöhten Kontrollerleben auf Seite des Klienten und zu einer verbesserten Akzeptanz der hiermit verbundenen Emotionen. 8.3 Formales Vergebensritual Entlassung des Täters und des Opfers aus ihren Rollen 131 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

133 Die sich aufdrängenden Bilder der Ursprungssituation werden teilweise von einzelnen zusätzlichen Erlebnisqualitäten aus der Ursprungssituation, wie z. B. Gerüchen begleitet und rufen starke unangenehme Emotionen hervor. Im Unterschied zu triggergebundenen Flashbacks berichten die Klienten aber nicht das Nacherleben der Situation, sondern starke negative Affekte (Trauer, Angst oder einen gemischten negativen Affekt). Vor allem berichten sie eine Art Bedrängnisgefühl durch die Bilder. Obwohl es sich um negative Affekte handelt, empfinden die Klienten diesen Bildern gegenüber meist eine Ambivalenz. Sie äußern einerseits aktiv den Wunsch nicht von den Bildern bedrängt zu werden, andererseits möchten Sie den Zugang zu den Bildern auch nicht verlieren. Der Wunsch den Zugang zu den Bildern zu erhalten kann bereits als ein Schritt zur Akzeptanz des Geschehenen verstanden werden (beispielsweise als (schmerzlicher) Teil der gemeinsamen Geschichte mit dem Verstorbenen). Um diesen Akzeptanzprozess einerseits zu stärken und andererseits den erlebten Kontrollverlust durch das unerwartete sich Aufdrängen der Bilder zu reduzieren, kann der Umgang mit diesen Bildern imaginativ gestaltet und über die Einführung eines Rituals formalisiert werden. Dieses Vorgehen bietet sich insbesondere an, wenn beispielsweise der Nachtschlaf durch die Bilder stark gestört ist oder sich die Bilder während der therapeutischen Arbeit regelmäßig»dazwischendrängen«. Die Formalisierung kann mithilfe der Galerie der alten Bilder folgendermaßen aufgebaut werden: " In einem ersten Schritt beschreibt der Klient kurz die unangenehmen Bilder und die zusätzlich auftretenden Erlebnisqualitäten. Hierbei ist es wichtig die Sinnesmodalitäten zu erfragen, aber die Beschreibung durch den Klienten knapp zu halten, um das Auftreten der negativen Emotionen in einem handhabbaren Rahmen zu halten. Sollte der Klient die Bilder in Bewegung beschreiben, so wird er schon jetzt aufgefordert, die Bewegung vor dem inneren Auge anzuhalten und die wichtigsten Standbilder im Hinterkopf zu behalten. Je schneller und stärker sich die Emotionalität des Klienten beim Beschreiben der Bilder negativ verändert, desto empfehlenswerter ist es die Bilder schon jetzt imaginativ noch zusätzlich zu verändern (z. B. bunt zu schwarz / weiß, riesige Bilder auf DIN A4 Größe, Foto in Ölgemälde etc.). Vorhandene Geräusche können ausgeschaltet oder leise gemacht werden, Gerüche können abgeschaltet oder ersetzt werden. " Nach der Beschreibung kann es hilfreich sein den emotionalen Zustand (State) des Klienten zu unterbrechen, um ihm ein konzentriertes Weiterarbeiten zu ermöglichen. Dies kann z. B. durch Aufstehen und sich Recken, Zehenspitzengang und Hackengang durch den Raum, Aufsagen der eigenen Telefonnummer rückwärts, aktives Holen und Trinken eines Glases Wasser o. ä. geschehen. " Im nächsten Schritt imaginiert der Klient eine leere weiße Wand, wie in einer Gemäldegalerie oder in einem Museum. " Nun erfragt der Therapeut, was für Bilderrahmen zu den im ersten Schritt imaginativ veränderten Bildern passen würden. Es kann sein, dass jedes der Bilder einen unterschiedlichen Rahmen vom Klienten erhält. Es ist empfehlenswert die Anzahl der Bilder, ihr jeweiliges Thema und die Art des Rahmens kurz zu notieren Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

134 " Folgend wird dem Klienten die weiße Wand als sein ganz persönlicher feierlicher, sicherer und ruhiger Erinnerungsort für diese wichtigen Bilder»vorgestellt«. Anschließend werden die Sinnesmodalitäten, die der Klient zu Beginn der Intervention neben dem Inhalt der Bilder als relevant bezeichnet hat, mit anderen Eindrücken aus einer Galerie o. ä.»belegt«(feierliche Stille, Geruch von Teppichboden und Kaffee o. ä.. Der Klient gestaltet und der Therapeut kann, wenn der Klient dies wünscht, Ideen geben). " Anschließend kann der Klient imaginativ die einzelnen Bilder an diesem ruhigen und feierlichen Ort aufhängen. Hierbei ist es wichtig, dass der Therapeut sicherstellt, keines der vorher imaginativ gestalteten Bilder vergessen zu haben. Es kann passieren, dass der Klient sich entscheidet, nicht alle Bilder in der Galerie aufzuhängen. Dann werden die wichtigsten Bilder ausgewählt, an der Wand platziert und die restlichen Bilder imaginativ zur Seite gestellt. Dies kann beispielsweise in einer Art imaginierter Sammelmappe erfolgen, für den Fall, dass der Klient die Ausstellung wechseln möchte. " Nun folgt mit dem Klienten eine Absprache darüber, wie oft es im Moment notwendig ist, die Bilder in der Galerie zu besuchen und zu betrachten (in Anerkennung dessen, was damals geschehen ist), um im Ausgleich nicht mehr von den Bildern im Alltag»überrollt«zu werden. Die Absprache kann in Form einer Stühlearbeit mit dem»anteil«erfolgen, der bisher die Intrusionen»zu verantworten«hatte. Wird auf diese Weise eine Einigung ausgehandelt, sollte unbedingt zuerst die positive Intention des entsprechenden inneren»anteils«herausgearbeitet werden. Häufig liegt ein unerfüllbarer Beziehungswunsch oder der Wunsch nach einer unwiederbringlich verlorenen Fähigkeit o. ä. zugrunde. " Das imaginäre Besuchen dieser Galerie wird entsprechend der gefundenen Abmachung als Ritual aufgebaut und sinnvollerweise mit anderen alltäglichen und habituierten Verhaltensweisen des Klienten kognitiv verknüpft. Die Verknüpfung zu bestehenden normalen Alltagsroutinen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Klient diese Galeriebesuche imaginativ regelmäßig durchführt. " Der Besuch dieser Galerie gemäß der gefundenen Routine kann als Übungsaufgabe mitgegeben werden. Sie wird regelmäßig abgefragt und kann im Verlauf der weiteren Therapie i. d. R. Stück für Stück verringert werden. Teilweise passen Klienten die Frequenz auch schon selbstständig an ihre Bedürfnisse an Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen Bei weitem nicht in allen, aber jedoch in vielen Verletzungssituationen empfindet das Opfer eine Mitschuld am Geschehen. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Rolle des Täters wird dies dem Opfer bewusst. In vielen Fällen lösen sich die Selbstvergebensaspekte während des Vergebensprozesses unbewusst mit. Dann ist keine weitere Klärung erforderlich Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen 133 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

135 Selbstvergeben ist im Rahmen eines Vergebensprozesses eigentlich nur ein gesondertes Thema, wenn der Klient von sich aus auf den Umgang mit seinem Anteil am Geschehen zu sprechen kommt. Dann folgt die Frage nach dem Umgang damit. (Einige Vergebensprozesse finden auch statt, indem sich der Klient zuerst mit seiner eigenen Rolle am Geschehen auseinandersetzt und erst später dem Täter vergibt. Daher sprechen wir in diesem Kapitel noch von Täter und Opfer.) Im Folgenden werden vorab in zwei Exkursen einige immer wieder auftretende Sondersituationen in Hinblick auf Selbstzuschreibung von Schuld durch das Opfer beleuchtet: Exkurs: Umgang mit empfundener Mitschuld von Opfern kindlichen Missbrauchs Opfer kindlichen Missbrauchs entwickeln sehr häufig Schuldgefühle und schreiben sich intensiv eine Mitschuld am Geschehen zu. An dieser Stelle sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es bei Opfern von kindlichem Missbrauch in aller Regel kontraindiziert ist, eine eventuelle Mitschuld an der sexualisierten Gewalt auch nur zu erwägen. Es ist Aufgabe der Therapie des Missbrauchs, dem Opfer zu verdeutlichen, dass Kinder keine Mittäter, sondern reine Opfer sind! Im Verlauf des therapeutischen Geschehens sollte das Opfer erkennen, dass die Selbstzuschreibungen von Schuldanteilen einerseits durch die häufigen Drohungen der Täter erlernt wurde. Andererseits sollte das Opfer erkennen, dass die Schuldgefühle gerade in derartigen Situationen zur Vermeidung seiner nahezu unerträglichen Hilflosigkeit und Ohnmacht dien(t)en. Insbesondere dann, wenn solche Klienten auch aus völlig anderen Gründen erneut mit Ohnmacht und Hilflosigkeit konfrontiert sind, treten manchmal diese alten Schuldgefühle wieder auf. Nicht selten treten diese Klienten (teilweise auch gerade wegen dieser Schuldgefühle) mit einem Vergebenswunsch bezüglich der kindlichen Missbrauchssituation an neue Begleiter heran. Die Aufgabe des Begleiters besteht dann darin, die explizite reine Opfersituation des Klienten zu stärken und keinesfalls mit diesem eine auch nur eventuelle potenzielle Mitschuld des Opfers zu erörtern. Exkurs: Selbstvergebung bei christlichen Klienten Die Idee einer Selbstvergebung ist für streng christlich sozialisierte Klienten manchmal schon wegen der Bezeichnung in dieser Form nicht annehmbar. Aus christlicher Sicht ist Gott der Einzige, der vergeben kann. Falls solche Klienten aus ihrer Sicht schuldig geworden sind und noch keine Schritte zur Erlangung einer entsprechend erforderlichen religiösen Vergebung unternommen haben, kann es sein, dass der therapeutische Vergebensprozess nicht fortgesetzt werden kann. Wenn man Buber (1958) folgt, ist es dennoch nicht die Aufgabe eines Therapeuten einen Klienten zu einem derartigen religiösen Akt (z. B. einer Beichte) zu bewegen. Es hilft christlichen Klienten jedoch häufig, wenn sie bemerken, dass das Vollziehen religiöser Rituale vom Therapeuten als Chance und Ressource angesehen wird Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

136 Wenn bereits ein religiöses Ritual zur Vergebung erfolgte (z. B. im Rahmen einer Beichte), kann der Prozess des Selbstvergebens dennoch auch hier genutzt werden. Dabei ist es jedoch günstig, die Formulierung»Selbstvergebung«zu vermeiden. Manchmal ist es sinnvoll, stattdessen von vollständigem Akzeptieren und Annehmen von Vergebung zu sprechen. Dann können auch streng christlich sozialisierte Klienten aus den folgenden Schritten Nutzen ziehen Klärung des Vorhandenseins eventueller Mitschuld Falls die Schuldsituation nicht eindeutig ist, das Opfer jedoch Schuld empfindet, sollte die Situation zunächst wieder kognitiv untersucht werden. Dazu kann gemeinsam mit dem Opfer das Frageschema zur Klärung der Schuldfrage (vgl. Abschn. 6.1) bezüglich seiner eigenen Rolle durchgegangen werden. Wenn sich dabei herausstellt, dass das Opfer eine nachvollziehbare Mitverantwortung an dem Geschehen trägt, bestehen die nächsten Schritte im Prozess des Selbstvergebens. Anderenfalls geht es um den Umgang mit Schuldgefühlen»ohne objektivierbare Schuld«. Wir sprechen in diesem Zusammenhang bewusst nicht von neurotischen Schuldgefühlen oder von grundlosen Schuldgefühlen. Die Gefühle haben sicher einen subjektiv identifizierbaren Grund, nur liegt er nicht in objektivierbarer Schuld begründet (vgl. Abschn ) Umgang mit Schuldgefühlen ohne objektivierbare Schuld Wenn ein Klient mit Schuldgefühlen zu der kognitiven Überzeugung gelangt, dass er sich als nicht mitschuldig am Geschehen betrachten kann, steckt er in einem Dilemma: Einerseits empfindet er (zum Teil starke) Schuldgefühle. Andererseits»weiß«er, dass er gerade nicht mitschuldig ist. Es ist hilfreich zu klären, ob der Klient nur bezüglich des einen spezifischen Themas unter Schuldgefühlen leidet oder ob er generell die Tendenz hat, sich schnell schuldig zu fühlen. Ist letzteres der Fall, ist zu erwarten, dass dies nicht ausschließlich mit der einen Situation zu tun hat. Es handelt sich häufig um zugrunde liegende Schemata, die im Rahmen einer Schematherapie sinnvoll behandelt werden können. Der Umgang mit derartigen Schuldgefühlen ist kein primärer Bestandteil eines Vergebensprozesses. Handelt es sich hingegen vornehmlich um das eine, bereits im Vergebensprozess betrachtete Thema, gibt es unterschiedliche Gründe, die zum Auftreten dieser Schuldgefühle führen können. Einige sind im Folgenden dargestellt: " Die Schuldgefühle können wie schon öfter erwähnt der Vermeidung anderer Gefühle dienen. Falls das der Fall ist, haben die Klienten oft nur bezüglich dieses einen Themas entsprechende Schuldgefühle. " Ebenso können die Schuldgefühle dem Bindungserhalt zu Personen dienen, die entweder verstorben sind oder die eine Beziehung zum Klienten abgebrochen haben Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen 135 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

137 " Des Weiteren können Schuldgefühle und die Akzeptanz einer Sündenbockrolle in systemisch belasteten Situationen zur Aufrechterhaltung der augenblicklichen Systemsituation dienen (Worthingthon & Sandage, 2016). " Ein Sonderfall ergibt sich, wenn Klienten die Schuld von Abhängigen übernehmen und dadurch in eigene Schuldkonstruktionen hineingeraten. Für derartige Konstellationen findet sich die Geschenk-Box-Übung im Arbeitsmaterial (s. AB 11). In den beschriebenen Situationen kann es unterstützend wirken, den Nutzen der Schuldzuschreibung des Klienten an sich selbst näher zu untersuchen. Hierzu ist es oft nützlich, mit einer erweiterten Wunderfrage zu arbeiten. Dabei wird dem Klienten angeboten, dass die Schuldgefühle über Nacht verschwunden sind. Es wird untersucht, welche Auswirkungen das auf ihn und sein System hat (eine Anleitung findet sich im Arbeitsmaterial, s. AB 2). Durch diese Fragen wird dem Klienten häufig deutlich, welche anderen Gefühle hinter den Schuldgefühlen noch verborgen sind und andere Prozesse, wie zum Beispiel Trauerarbeit oder radikale Akzeptanz, treten in den Vordergrund Sich selbst vergeben Hat der Klient hingegen ein Schuldempfinden und hat er eine objektivierbare Mitverantwortung erkannt, kann zum Prozess des Selbstvergebens übergegangen werden. Während des Selbstvergebens werden unterschiedliche Aspekte relevant: " Die, für viele Klienten herausforderndste Aufgabe, besteht in der vollständigen Anerkennung der eigenen Schuld. Zum ersten ist der Umgang mit eigener realer Schuld eine Herausforderung für das eigene Selbstbild. Es ist sehr menschlich, dass der Klient meist sofort, wenn er den Schuldanteil benannt hat, umfangreiche Rechtfertigungen folgen lässt. Eventuell hat er diese auch bereits vorausgeschickt. Emotional mindert das die Wirkung des realen Schuldanerkenntnisses. Genauso wie beim Schuldvorwurf an den Täter während des Vergebens, ist die Abmilderung und Rechtfertigung an dieser Stelle nicht sinnvoll. Für viele Klienten ist es deswegen hilfreich, eine ebensolche Anklageschrift an sich, wie an den Täter zu verfassen. Da das emotional sehr belastend sein kann, ist diese Selbstanklage als schriftliche»hausaufgabe«eher nicht einzusetzen. Sie sollte in Begleitung des Therapeuten angefertigt werden. Ein Unterbrechen dieses Prozessschrittes aus zeitlichen Gründen ist ungünstig. Es sollte sichergestellt sein, dass die zur Verfügung stehende Therapiezeit ausreichend flexibel gestaltbar ist. " Anschließend hilft es, wenn der Klient sich die Wirkungen, die seine Tat für das Opfer hatte, bewusst macht. Auch hier ist es wieder sinnvoll, wenn der Klient sich in die Rolle des Opfers versetzt. Anschließend wirkt es unterstützend und entlastend, wenn der Klient einen Brief mit der Bitte um Verzeihung an das Opfer schreibt. Dieser Brief sollte folgende Aspekte enthalten: eine exakte Beschreibung, was der Täter genau getan hat eine Beschreibung, wieso das schuldhaft war Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

138 eine Beschreibung, welche Reaktionen und Verletzungen der Klient bei seinem Opfer erkannt hat ein klarer Ausdruck des Bedauerns über den Schaden des Opfers Ebenso, wie der Brief an den Täter während des Vergebensprozesses verbrannt wird, sollte auch dieser Brief hinterher verbrannt werden. " Daran anschließend ist zu überlegen, in welcher Form gegebenenfalls ein Ausgleich und auch eine Wiedergutmachung erfolgen sollte und könnte. Es ist zu berücksichtigen, dass ein Ausgleich nicht unbedingt unmittelbar gegenüber des Geschädigten erfolgen muss. Daher ist es möglich, mit bereits verstorbenen Personen Selbstvergebensprozesse durchzuführen. Wiedergutmachungen können wie positive Geschenke im Rahmen von Vergebensprozessen im Allgemeinen für die betreffende Person wahrnehmbar oder eben auch nicht wahrnehmbar sein. Gegebenenfalls können beispielsweise auch ehrenamtliche Tätigkeiten in relevanten Bereichen oder Spenden an entsprechende Institutionen emotional als Wiedergutmachung wirken. Hier ist darauf zu achten, dass das Bedürfnis nach Ausgleich vom Klienten ausgehen sollte. Anderenfalls wirkt es schnell als ein»freikaufen«und wird dann emotional wirkungslos oder gar schädigend. " Abschließend sollte bei Bedarf ein neues Verhalten für Situationen erarbeitet werden, in denen eine mögliche Gefährdung für eine Wiederholung auftreten könnte. Nicht selten entwickelt sich beim Klienten das Bedürfnis nach einem realen Gespräch mit dem Opfer, verbunden mit dem Wunsch, der andere möge ihn anhören und ihm Verzeihung gewähren. Dies ist insbesondere bei komplexen Kränkungssituationen in weiterbestehenden Beziehungen der Fall. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die andere Seite dem Prozess völlig anders gegenüberstehen kann. Spontane Aussprachen führen leider oft zu weiteren Komplikationen. Primär ist der Prozess des Selbstvergebens, wie auch der des Vergebens, ein intrapsychischer. Erst nach dessen Abschluss ist es sinnvoll über die realen Beziehungsgestaltungen nachzudenken (s. Abschn. 10.3) und eventuelle Kontaktaufnahmen zu diesem Thema mit dem Opfer gezielt vorzubereiten Umgang mit Aktivierungen beim Selbstvergeben Gerade schuldhaftes Verhalten aktiviert sehr häufig alte Schemata. Das kann dazu führen, dass es zu sehr aggressiven inneren Dialogen kommt. Diese sind nicht förderlich. Deswegen bietet es sich an, in diesem Zusammenhang eine weitere Modus- Übung durchzuführen. Voraussetzung für die Arbeit mit der folgenden Technik besteht darin, dass der Klient bereits mit den Modi des Fitten Erwachsenen, des Jüngeren Selbst (Inneres Kind) und den Antreibern / Beschimpfern (Innere Eltern / Innere Erzieher) vertraut ist (vgl. Abschn ). " Der Klient wird gebeten, drei Stühle aufzustellen einen in der Mitte für den Fitten Erwachsenen, einen für das Jüngere Selbst und einen für die Antreiber / Beschimpfer Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen 137 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

139 " Anschließend wird er gebeten, als Fitter Erwachsene auf dem mittleren Stuhl Platz zu nehmen. Auf diesem Stuhl fragt dieser jetzt in Richtung der Inneren Antreiber nach allen Vorwürfen, die diese bezüglich der Tat und der jeweiligen Verantwortlichkeiten haben. " Gemeinsam mit dem Begleiter werden aus den Anklagen und Vorwürfen alle Lernchancen herausgearbeitet, die sich aus der Situation noch ergeben. Sie werden auf Metaplankarten notiert und so gesichert. In der Regel entstehen dabei noch einmal relevante Hinweise für zukünftige Situationen. Dann fällt es dem Klienten meistens auch leicht, in Richtung der Antreiber einen gewissen Dank zu äußern. " Danach untersagt der Fitte Erwachsene den Antreibern explizit für die Zukunft alle weiteren Vorwürfe zu diesem Thema. Er kündigt an, dass er sich eventuelle Vorwürfe, falls sie noch einmal geäußert werden sollten, sofort verbitten würde, da nun vollumfänglich über das Thema nachgedacht worden sei und aller Nutzen gesichert wurde. " Anschließend fragt der Fitte Erwachsene noch einmal innerlich, ob es über das bisher Gesagte hinausgehende weitere Kommentare, Fragen oder Anmerkungen von anderen Anteilen bezüglich dieses Themas (Vergeben und Selbstvergeben) geben würde. Gegebenenfalls werden neue Einwände entsprechend bearbeitet. " Wenn alle Einwände abgearbeitet sind, erklärt der Fitte Erwachsene den Antreibern und allen weiteren Teilen, dass hiermit alle Einwände und Vorwürfe umfassend durchdacht und gewürdigt wurden. Des Weiteren erklärt er, dass deswegen weiteres Nachdenken über dieses Thema keinen weiteren Nutzen, sondern nur weiteres Leid erzeugen würde. " Er stellt noch einmal dar, dass dieses Nachdenken von früher und bis jetzt zumindest teilweise sinnvoll war und daher zur Gewohnheit wurde. Dann klärt er darüber auf, dass er diese Gewohnheit ab sofort zugunsten gesünderer Gewohnheiten umstellen wird. Anschließend kann eine neue Zielgewohnheit erarbeitet und deren Nutzen (Belohnung) definiert werden. (Dieser Punkt ist vor allem dann erforderlich, wenn der Groll bereits über lange Zeit gehegt wurde.) " Der Fitte Erwachsene wendet sich dann dem Jüngeren Selbst zu und versichert ihm, dass jedes Gefühl, das auftauchen sollte, vollständig in Ordnung sei. Des Weiteren versichert er dem Jüngeren Selbst seine Unterstützung. (Gegebenenfalls kann hier noch einmal auf das Kindertrösten (vgl. Abschn ) hingewiesen werden.) " Abschließend erklärt der Fitte Erwachsene allen Teilen, dass damit der Schritt des Selbstvergebens beendet ist. Alle Aspekte wurden gewürdigt, neue Verhaltensweisen wurden erarbeitet, die Verantwortung wurde übernommen, ein Ausgleich wurde durchgeführt oder geplant. Nun geht es darum, gut weiterzuleben. Das bedeutet auch, dass der Klient ab jetzt gut für sich sorgt, sich an seinen Werten und Zielen orientiert und seine positiven Aspekte wertschätzt. Bei Bedarf kann sich hier eine weitere Arbeit an den Lebenszielen und an der Werteorientierung des Klienten anschließen Die dritte Phase Dem Täter (und sich selbst) vergeben

140 8.4.5 Beide Kinder trösten Eine empfundene Notwendigkeit zum Selbstvergeben tritt oft im Rahmen von Vergebensprozessen bezüglich naher Angehöriger auf. Häufiger geht es dabei um das Thema, dass den eigenen Eltern vergeben werden soll. Meist sind dabei Situationen betroffen, in denen der Klient noch relativ jung war. Wenn es sich nicht um schwerwiegende Vergehen der Eltern handelt, sondern um allgemeine Unzulänglichkeiten und Fehlentscheidungen, treten beim Vergeben häufig starke Ambivalenzen auf. Oft ist der Klient dann auch betroffen von seinem eigenen Anteil (der meist die Dauer seines Grolls betrifft). Auf der anderen Seite ist seine Wut auf den Täter auch noch nicht völlig abgeklungen. In derartigen Situationen kann es sehr unterstützend wirken, wenn der Klient sich das betreffende Elternteil im gleichen Alter vorstellt, wie der Klient es selber zur Zeit der Verletzung war. Dazu wird erst einmal zusammengetragen, wie die Lebenssituation des Elternteils in dem entsprechenden Alter war. Anschließend stellt der Klient die beiden»inneren Kinder«einander vor. Erklärt jedem Kind, inwiefern das andere jeweils verletzt worden ist und tröstet beide Inneren Kinder gemeinsam. Diese Übung hat häufig eine sehr hohe emotionale Wirkung. Beispiel Eine Frau hatte über viele Jahre große Schwierigkeiten, die wöchentlichen Telefonate mit ihrer Mutter auszuhalten (die sie aber für notwendig hielt). In ihrer Kindheit war es immer wieder zu massiven Abwertungen durch die Mutter gekommen und die Klientin fühlte sich immer noch missachtet. Nun war die Mutter im Seniorenheim bettlägerig geworden und die Tochter war sehr ambivalent bezüglich der Besuche. Daher hatte sie sich entschlossen, ihrer Mutter zu vergeben. Am Ende des Prozesses war sie zwar sehr sicher, dass sie ihre Mutter wöchentlich besuchen wollte, ihre Emotionen waren aber immer noch ambivalent. Daraufhin wurde die Übung»beide Kinder trösten«angeboten. Die Klientin schilderte ausführlich, unter welchen Umständen ihre Mutter die Kriegszeit und die Flucht überlebt hatte. Dabei entstand ein»inneres-kind-bild«der Mutter. Anschließend machte sie die beiden imaginierten Inneren Kinder (die durch Kissen repräsentiert wurden) miteinander bekannt. Diese näherten sich vorsichtig aneinander an und beide waren sehr traurig. Die Klientin tröstete sie intensiv. Dieser Prozess war sehr emotional. Hinterher hatte die Klienten ein völlig anderes Empfinden ihrer Mutter gegenüber und hatte das dringende Bedürfnis sie zu besuchen. Auch nach mehreren Monaten war dieses Ergebnis stabil. Ein ähnliches Vorgehen schlagen auch Roediger und Kollegen (2013) im Rahmen einer schemafokussierten Paartherapie vor Umgang mit (eventuell vorhandenen) eigenen Schuldanteilen 139 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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142 9 Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken, inneren Einwänden und schwierigen Gefühlen konstruktiv umgehen 9.1. Rückfallprophylaxe Auch nach Abschluss eines Vergebensprozesses kann es immer wieder zu Situationen kommen, in denen die alten Gedanken spontan auftauchen oder ausgelöst werden. Dies kann zum Beispiel durch Außenreize geschehen (zufälliges Aufsuchen von Orten, Zusammenkunft mit beteiligten Personen, Kontakt mit Objekten, die dem Täter gehört haben, ). Häufig handelt es sich jedoch um innere Ereignisse, wobei dem Klienten die Auslöser zum Teil nicht einmal bewusst sind (neben den typischen Jahrestagen sind das oft auch verborgene Jahrestage, wie das Verlobungsdatum, der Beginn der Hochzeitsreise oder Geburtstage von Angehörigen, ). Wenn dieses sporadische Wiederauftreten von belastenden Gedanken und Gefühlen als normal angesehen und vorab benannt worden ist, wird die Einordnung für den Klienten einfacher. Es ist für ihn einsichtig, weshalb das Erlernen entsprechender Methoden zum Umgang damit in jedem Falle sinnvoll ist. Oft ärgern sich Klienten während des Vergebensprozesses darüber, dass sie»ihre Gedanken nicht in den Griff kriegen«und immer wieder über die alte Situation nachgrübeln. Dann besteht Gelegenheit, diese Situation zu»entpathologisieren«und gleichzeitig die emotionale Selbstfürsorge durch einen guten Umgang mit den verletzten Anteilen zu verbessern. Wording Es ist völlig normal, dass Ihnen das passiert! Schließlich haben Sie seit der Verletzung immer und immer wieder über diese Situation nachgedacht, sodass im Gehirn quasi Datenautobahnen zu diesen Gefühlen von Ärger, Wut, Enttäuschung und Trauer gebahnt wurden. Daher ist es oft so, dass Sie vom Kopf her schon alles vergeben haben, aber die Gefühle quasi noch hinterherhinken. Das zeigt einfach, dass Ihr Fitter Erwachsener-Anteil das Ganze schon als abgeschlossen betrachten möchte. Allerdings gibt es da auch noch das verletzte Jüngere Selbst. Das ist einfach noch traurig, verletzt und enttäuscht. Das bedeutet, dass der Teil noch mal versorgt werden möchte. Und Sie kennen das ja aus der einen Übung neulich. Also geht es darum, Ihren inneren Fitten Erwachsenen zu diesem Jüngeren Selbst zu schicken, damit der es wieder tröstet und beruhigt. Wenn Sie das einfach systematisch bei Bedarf immer wieder machen, wird die Intensität der Gefühle jedes Mal ein kleines bisschen abnehmen, weil 9.1. Rückfallprophylaxe 141 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

143 " die Gefühle wahrgenommen, wertgeschätzt und nicht weggedrängt werden, " eine gute Versorgung da ist, " Sie die bereits durchgeführten Schritte der Vergebung nicht in Zweifel ziehen und klar bei Ihrer Entscheidung zur Vergebung bleiben. Klienten erleben es auch als entlastend, wenn sie die neurobiologischen Grundlagen für das Wiederauftreten der Gefühle verstehen. Es kann anhand folgenden Vorgehens verdeutlicht werden: Der Klient wird gebeten, drei Minuten lang wirklich an nichts zu denken. Falls ein Klient keine intensiven Vorerfahrungen mit Meditation hat, wird ihm das nahezu unmöglich sein. Anschließend kann man gemeinsam mit ihm sein Erleben auswerten. Er wird über die verschiedensten Gedanken berichten. Anhand dieser Erfahrung ist es leicht, das Vorhandensein und die Aufgaben des Ruhenetzwerkes im Gehirn zu erklären. Wording Sie haben gerade beschrieben, dass Ihnen in den vergangenen drei Minuten»aller möglicher Kram«durch den Kopf gegangen ist. Das ist völlig normal. Das liegt daran, dass wir im Gehirn ein sehr großes Netzwerk haben, das Ruhenetzwerk genannt wird. Dabei ist das Netzwerk keineswegs ruhig! Es ist das Netzwerk, was anfängt zu arbeiten, sobald wir ruhig werden. Dann liefert uns dieser Teil unseres Gehirns alles, was noch nicht ganz perfekt oder ganz fertig ist und alles, was wir noch tun und erledigen könnten. Falls also irgendetwas zufällig an dieses alte Thema erinnert, findet Ihr Ruhenetzwerk im Gehirn, dass Sie darüber nochmal nachdenken könnten. Und dann präsentiert es Ihnen diese Bilder und Gedanken. Das ist völlig normal! Ihr Gehirn wird Ihnen also sicher ab und an den einen oder anderen Gedanken an diese verletzende Situation»servieren«. Ihr Job besteht dann darin, dankend abzulehnen und dem Gehirn klarzumachen, dass Sie das alles schon fertig durchgedacht haben und dass das alte Geschichten sind. Sie haben ja ganz klar erkannt, dass Ihnen weiteres Nachdenken darüber keinen Nutzen bringt. Wenn Sie also Ihrem Gehirn»Bescheid sagen«, dass Sie das Thema abschließend und komplett durchgedacht haben und trotz des»gut gemeinten Angebotes dort nicht mehr einsteigen«, dann wird es dazu übergehen, das Thema immer seltener zu servieren irgendwann ist dann vielleicht sogar endgültig Ruhe damit. Das geht beispielsweise, indem Sie sich sagen:»ich habe gerade den Gedanken, dass! Ich könnte diesem Gedanken jetzt folgen, und weiter darüber nachdenken! Stattdessen kann ich aber jetzt auch!«und hier können wir nachher ein paar Alternativen durchsprechen. Falls Sie allerdings lieber wieder damit anfangen, intensiv über diese schwierige Situation nachzudenken, dann rutschen Sie vielleicht auch wieder in die ganzen alten Muster hinein und können sich auch die alten Gefühle wieder wachrufen. Ihr Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken konstruktiv umgehen

144 Gehirn denkt dann, dass es wohl doch gut war, Ihnen das Thema wieder zu servieren, und wird das dann wieder häufiger tun. Das klappt bei den meisten Menschen nicht automatisch, aber es gibt gute Übungen zum gezielten Umgang mit Gedanken und Gefühlen. Wenn Sie die trainieren, lernen Sie Ihre Gedanken gezielter zu steuern. Das hilft Ihnen dann übrigens auch in anderen schwierigen Situationen. 9.2 Umgang mit Gedanken und inneren Einwänden Sollte der Klient größere Zweifel daran äußern, dass seine Gedanken wirklich seine Gefühle beeinflussen können, so lässt sich das mithilfe der Imagination einer Zitrone oft sehr gut verdeutlichen. Wording Bitte schließen Sie die Augen einmal kurz und stellen sich einen Teller vor. Welche Farbe hat der Teller? Aha, sehr gut. Und auf diesen Teller wird jetzt eine Scheibe einer Bio-Zitrone gelegt. Wie dick ist in Ihrer Vorstellung der weiße Rand dieser Zitrone, eher dünner oder eher dicker? Und wie riecht sie? Und wenn Sie diese Scheibe jetzt anfassen und einmal zusammenknicken und zum Mund führen würden, wie ist das? Und wenn Sie da dann hineinbeißen wie fühlt sich das an? Und wie viel Speichel ist jetzt in Ihrem Mund? Und Sie merken, nur allein über ihre Vorstellung und über die Ausrichtung ihrer Gedanken können Sie sogar ihre Körperreaktionen, ihren Speichelfluss steuern. Nur etwas funktioniert nicht, das würde ich Ihnen auch gerne noch zeigen. Bitte denken Sie jetzt keinesfalls mehr an diese Zitrone oder an andere Zitronen! Klappt das? Nachdem der Klient erlebt hat, dass er über die Richtung seiner Gedanken sogar seine Körperfunktionen steuern kann, hilft es, ihn mit einigen Ansätzen zum Umgang mit seinen Gedanken vertraut zu machen. Einige Möglichkeiten werden im Folgenden dargestellt: Zum einen kann es hilfreich sein zu prüfen, ob irgendwelche»teile«des Klienten Widersprüche gegen den Prozess der Vergebung haben. Das ist insbesondere der Fall, wenn noch nicht alle Aspekte, die aus dem Geschehen gelernt werden konnten, vollständig durch den Klienten verarbeitet sind. Es ist dann hilfreich eine s. g. Teilekonferenz (z. B. als Stühlearbeit) einzuberufen: Man bittet alle Teile, sich zu versammeln (Technik nach Fraser, 1991). Der Sprecher dieser Konferenzrunde wird gebeten, die Runde zu befragen. Wer hat welche Einwände gegen den Prozess der Vergebung und was ist die gute Absicht dieses Einwandes. Die guten Absichten werden aufgeschrieben und wertgeschätzt. Danach wird geprüft, ob weitere Teile entspre- 9.2 Umgang mit Gedanken und inneren Einwänden 143 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

145 chende Einwände haben. Anschließend können diese Einwände analysiert und bearbeitet werden. Das Grübeln hört häufig auf, wenn die Einwände beseitigt sind. Wenn das Grübeln habituiert ist, sind zwar die positiven Absichten schon alle integriert, aber das Denkmuster wird immer wieder abgerufen. In solchen Situationen bietet es sich an, nicht am Inhalt der Gedanken, sondern am Auftreten der Gedanken zu arbeiten. Zitat Dazu ist es sinnvoll, dem Klienten das Konzept der Fusion und der Defusion aus der»acceptance and Commitment«-Therapie (ACT) zu erklären. Unter»Fusion«versteht man, dass Gedanken und Gefühle wie reale äußere Gegenstände und Tatsachen aufgefasst und als externale Wahrheiten empfunden werden. Der Klient hat das Gefühl, aufgrund seiner Emotionen und Gedanken direkt handeln zu müssen. Diesen Zustand bezeichnen Hayes und Kollegen (2014) als Fusion mit den Gedanken oder Gefühlen. Wenn der Klient angeleitet wird, Gedanken und Gefühle von außen z. B. als von einer Metaposition betrachtbare innere Prozesse anzusehen, so gewinnt er einen neuen Standpunkt. Dieser Prozess wird als»defusion«bezeichnet (Hayes und Kollegen, 2014). Im Umgang mit wieder auftretenden Gedanken haben sich insbesondere die Techniken der defekten Jukebox und die Top Ten Hits der Woche bewährt. Weiterhin hat sich gezeigt, dass Selbstmitgefühl den Abschluss von Vergebensprozessen unterstützt. Daher ist es sinnvoll, dem Klienten diese Methoden anzubieten. Die defekte Jukebox und die Top Ten-Hits der Woche. Als wirksame Metapher zum Umgang mit Grollgedanken hat sich die defekte Jukebox in Kombination mit der»hitliste der Woche«bewährt. Klienten haben i. d. R. die Erfahrung gemacht, dass sie in der Lage sind, im Supermarkt einkaufen zu gehen, obwohl die dort vorhandene Musik von ihnen weder gewünscht ist, noch ihrem Geschmack entspricht. Auch kennen sie die Situation unerwünschter Radioberieselung am Arbeitsplatz oder im Restaurant o. Ä. Die Klienten wissen, dass sie die Wahl haben, dieser Musik»zu lauschen«, oder sie zwar im Hintergrund wahrzunehmen, aber dennoch ihre Einkaufsliste abzuarbeiten. Sie haben die Erfahrung, dass sie trotz störender»hintergrundberieselung«durchaus in der Lage sind, sich auf ihre gewünschten Aktivitäten zu konzentrieren. Daher werden Grollgedanken als»alte Schallplatten«formalisiert, die in einer defekten Jukebox immer wieder automatisch aufgerufen und abgespielt werden. Darüber hinaus wird der Klient gebeten, seine persönliche Hitliste, die Top Ten der Woche, zu erstellen und im nächsten Gespräch kurz vorzustellen. Dadurch wird das eventuelle Vorhandensein verbleibender Grollgedanken in einen Rahmen gesetzt, der für den Klienten meist akzeptabel ist Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken konstruktiv umgehen

146 Wording Sie können sich zum Beispiel sagen:»okay, während der Hit»Warum ich«läuft, kann ich gleichzeitig tun«. Und dann beschreiben Sie die Tätigkeit, die Sie gerade tun. Zum Beispiel während der Hit»Oh ich armes Schwein läuft!«kann ich gleichzeitig meine Waschmaschine bestücken oder meinen Garten jäten, etc. Außerdem können Sie sich einen»spaß«daraus machen, ihre persönliche Hitliste aufzustellen. Ah, heute läuft mein Lieblingshit: Das»Ich armes Schwein«-Lied, und es spielt jetzt schon und da können Sie auch mitzählen:»oh, jetzt schon zum 23. Mal, mal sehen, wie oft es noch spielen will.«sie können sich auch eine CD-Hülle nehmen, ein CD-Cover basteln, eine Pappscheibe ausschneiden, und den Inhalt Ihres Lieblingshits auf die CD schreiben, und die CD ins Regal stellen. Immer, wenn der Hit wieder spielt, schreiben Sie einen Zettel und stecken ihn dazu. Was passiert bei dieser Methode? Dadurch, dass Sie sich einen halb- oder unbewusst ablaufenden Prozess bewusst machen und Ihre Automatik verändern, (z. B. durch das Schreiben eines Zettels) wird Ihnen der ganze Vorgang bewusst. Sie schalten sozusagen Ihren Autopilotmodus im Gehirn ab. Dadurch wird der automatische Ablauf der Grübelgedanken gestört. Auf die Dauer verhindert das meistens den Ablauf dieser Gedanken und sie hören irgendwann auf. Gleichzeitig distanzieren Sie sich von dem früher als automatisch richtig empfundenen Gedanken. Der Gedanke wird umbewertet: Von der automatischen Zustimmung hin zu»das ist ein alter Song«. Auch das reduziert die Häufigkeit, mit der der Gedanke zukünftig auftritt. Da es Klienten nicht immer sofort gelingt, auftauchende spontane Gedanken rechtzeitig als solche zu erkennen, ist es nützlich, einige Kurzinterventionen zum Umgang mit belastenden Gefühlen vorzustellen. Dazu bietet sich an, die Klienten als nächstes mit dem Pendeln nach Levine (2012) vertraut zu machen. Hierunter versteht man prinzipiell den Wechsel der Richtung der Aufmerksamkeit. Pendeln ist sowohl mit Gedanken als auch mit Empfindungen möglich. 9.3 Möglichkeiten den eigenen Zustand zu verändern kurzfristige Unterbrechung von Mustern Pendeln zwischen zwei Zuständen Diese Intervention kommt aus den traumatherapeutischen Ansätzen von Levine (2012). Er schreibt über das Pendeln:»Eine erstaunlich wirkungsvolle Methode im Umgang mit schwierigen Empfindungen besteht darin Klienten zu helfen eine gegensätzliche Empfindung zu finden.«und später:»der Klient lernt allmählich, die eigene Wahrnehmung zwischen inneren Empfindungen von relativem Wohlbefinden und Unbehagen und Verzweiflung, hin und her zu verlagern«. 9.3 Möglichkeiten den eigenen Zustand zu verändern kurzfristige Unterbrechung von Mustern 145 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

147 Übung Der Klient wird gebeten, an eine angenehme Situation zu denken und mit den zugehörigen Gefühlen in Kontakt zu kommen. Anschließend wird er eingeladen seine Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen, die zu diesem angenehmen Gefühl gehören, zu lenken, diese körperlich zu lokalisieren und genau wahrzunehmen und zu beschreiben. Danach wird er aufgefordert, an die unangenehmen, aktivierenden Gedanken bzw. die Situation zu denken und die dazugehörigen Gefühle ebenfalls kurz wahrzunehmen. Dieses Vorgehen hat gleichzeitig den Vorteil, dass dem Klienten implizit vermittelt wird, dass er durch seine Gedanken seine Gefühle auslöst und beeinflusst. Im Anschluss daran wird der Klient eingeladen, seine Aufmerksamkeit im Wechsel auf die angenehme und die unangenehme Wahrnehmung zu lenken. Dadurch wird ihm klar, dass er seine Wahrnehmung durch die Richtung seiner Aufmerksamkeit beeinflussen kann. Diese Übung kann der Klient in vereinfachter Form auch in einer akuten emotionalen Situation anwenden. Dazu wird der Klient während einer Aktivierung gebeten, sich kurz im Raum zu orientieren und dann den Bereich des Körpers wahrzunehmen, der sich zurzeit am angenehmsten anfühlt. Von dort aus wechselt er wieder zu dem Bereich des Körpers mit der Aufmerksamkeit, in welcher er das Aktivierungsgefühl wahrnimmt. Anschließend wechselt er mehrmals und verfolgt dabei die Veränderung des Aktivierungsgefühls. Das Einüben dieser Form von Pendeln ist für viele Klienten sehr hilfreich und wird gern im Alltag genutzt (Handrock et al., 2016). Power-Posen einnehmen Manchmal fällt es Klienten sehr schwer aus einer aktivierten Gedankenschleife heraus zu pendeln, insbesondere, wenn sie den Gedanken schon einige Zeit gefolgt sind. Häufig nehmen die Klienten dann sogenannte»low-power-haltungen«ein, die zu einer negativen psycho-physiologischen Rückkopplung führen. Gerade, wenn Klienten in solche Muster von Selbstmitleid und Hoffnungslosigkeit geraten, sind aktivierende körperorientierte Kurzinterventionen für viele Klienten einfacher anzuwenden und auch schneller wirksam. Die einfachste körperliche Unterbrechung besteht in der Übung des Holzhackens. Der Klient steht auf und stellt sich mit hüftbreit gespreizten Beinen hin. Dann streckt er die Arme zur Zimmerdecke und legt die Handflächen aneinander. Nun führt er die Arme wie beim Holzhacken schnell zwischen die Beine und anschließend wieder Richtung Zimmerdecke. Diese Übung wird fünf bis achtmal in schneller Abfolge wiederholt. Durch diese Übung verändern sich schlagartig die Durchblutungsmuster im Gehirn, wodurch es zu einer kurzfristigen Unterbrechung des Gedankenflusses kommt. Anschließend wird der Klient angeleitet, für etwa zwei Minuten eine»power- Haltung«(Power-Pose) einzunehmen (vgl. Abb. 9.2) Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken konstruktiv umgehen

148 Abb. 9.1 Low-Power-Posen Abb. 9.2 Power-Posen Carney und Kollegen (2010) konnten zeigen, dass das Einnehmen sogenannter Power Haltungen, die über einen Zeitraum von zwei Minuten eingenommen werden, dazu führen, dass das Cortisollevel um ca. 40 % sinkt. Danach fühlen sich die Klienten außerdem psychisch stärker und erwarten mehr positive Ergebnisse. 9.4 Erhöhung von Selbstmitgefühl und Mitgefühl Gegen Ende eines Vergebensprozesses sind zwar die willensbezogenen Aspekte mehr oder weniger abgeschlossen, die emotionale Verarbeitung dauert jedoch oft noch 9.4 Erhöhung von Selbstmitgefühl und Mitgefühl 147 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

149 weiter an. Diese Verarbeitung kann durch Übungen zum Mitgefühl und zum Selbstmitgefühl unterstützt werden. Mitgefühl ist ein wichtiger Aspekt der Empathie. Diese wiederum unterstützt die emotionalen Anteile des Vergebens. Selbstmitgefühl und Selbstvergebensfähigkeit korrelieren deutlich miteinander. Außerdem beeinflussen beide Variablen die negativen Aspekte von Groll, wie Rumination und Vermeidungsverhalten (Williams, 2015). Daher ist es sinnvoll, dem Klienten einige Ansätze zur Förderung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl an die Hand zu geben Self-Compassion-Mantra Mantra des Selbstmitgefühls Selbstmitgefühl ist ein Konzept zum Umgang mit immer wieder auftretenden negativen Situationen und Emotionen. (Neff, 2012) konnte zeigen, dass Personen, die mehr Selbstmitgefühl hatten, seltener an Depressionen und Ängsten litten. Statistisch erklärt Selbstmitgefühl nach Neff 30 bis 50 Prozent der Streuung bei Ängsten und Depressionen. Darüber hinaus erhöht Selbstmitgefühl die Resilienz und verbessert die emotionale Belastbarkeit (Handrock et al., 2016). Eine Möglichkeit, Selbstmitgefühl zu trainieren, besteht in der Anwendung des sogenannten Mantras des Selbstmitgefühls nach Neff (2012). Es beinhaltet vier zentrale Komponenten des Mitgefühls: (1) Die achtsame und bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf die gerade aktuelle, unangenehme emotionale Realität und deren Benennung als Leiden. Darin enthalten ist die Erlaubnis, dass es so sein darf und, dass diese Gefühle nicht unterdrückt,»abgeschaltet«oder»weggepackt«werden müssen. (2) Die Grunderkenntnis, dass Leiden etwas zwar Unerwünschtes aber völlig Normales ist, was zu jedem menschlichen Leben dazugehört. Leiden ist universell, niemand entgeht ihm! (3) Der Aspekt, dass andere Menschen genauso (oder auch stärker) leiden. Dadurch entsteht eine innere Verbindung mit anderen Menschen und die Aktivierung des Oxytocinsystems. (4) Der explizite und dadurch erlaubte Wunsch nach einer jetzt erforderlichen, angemessenen Selbstfürsorge und einer Einladung, dieser nachzukommen (auch allen eventuell negativen, inneren Einwänden zum Trotz). Das Mantra selbst ist ritualisiert. Dadurch lässt es sich wenn es eingeübt ist in schwierigen Situationen ohne erneutes Nachdenken abrufen. Es besteht aus folgenden vier Sätzen, die hintereinander rezitiert werden (Neff, 2012): Zitat»Dies ist ein Moment des Leidens. Leiden gehört zum Leben. Möge ich in diesem Moment freundlich zu mir selbst sein. Möge ich mir selbst das Mitgefühl schenken, das ich brauche.«148 9 Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken konstruktiv umgehen

150 Nachdem das Mantra eingeübt wurde, automatisiert sich der Ablauf und es erscheint als spontaner Gedanke als Antwort auf Ärger, Groll und ähnliche Reaktionen. Wenn Klienten den Umgang mit sporadisch, spontan auftauchenden und belastenden Erinnerungen als normale Reaktion ihres Gehirns betrachten, statt es als Rückfall oder Beweis für ein Nicht-Vergeben-Haben zu betrachten, können Sie diese Methoden auch nach Jahren wirksam einsetzen. Auch das Konzept des Vergebens und die Ausrichtung auf ein gutes Weiterleben werden durch ein derartiges Vorgehen weitgehend immunisiert. Beispiel Eine Klientin hatte eines ihrer Kinder durch einen Suizid nach Internetmobbing verloren. Einige Jahre nach dem Geschehen hatte sie den Tod und die damit zusammenhängenden Ereignisse angemessen verarbeitet. Beim Tanken an einer entfernteren Autobahnraststätte wurde ihr plötzlich unerwartet extrem übel und sie begann zu zittern. Sie kannte diese Reaktionen aus der Zeit kurz nach dem Tod ihres Kindes. Sie unterbrach ihre Weiterfahrt, um sich zu beruhigen. Zuerst setzte sie das Pendeln nach Levine ein, wobei sie ruhiger wurde, obgleich sie anfangs keine Idee hatte, was gerade geschah. Währenddessen wurde ihr klar, dass sie auf dieser Tankstelle erstmals Zeugin eines Telefonates ihres Kindes mit einem der Mobbingtäter geworden war. Sie konnte ihre Reaktionen nun einordnen. Im Verlauf ihres Vergebensprozesses hatte sie verschiedene Übungen zum Umgang mit auftauchenden Gedanken und Gefühlen eingeübt. Sie nahm sich Zeit. Zuerst schrieb sie ihr Erleben auf, dann wandte sie ein individualisiertes Selfcompassion-Mantra an. Anschließend schrieb sie, weshalb sie vergeben hatte und was sie für ihr Leben mit dieser Vergebung bewirken wollte. Dieser gesamte Vorgang nahm etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Danach war sie ruhig und setzte ihre Fahrt fort. Weitere Reaktionen traten danach nicht auf. Einige Zeit später tankte sie wieder an dieser Stelle. Ihr war bewusst, was sie hier erlebt hatte, ohne dass es zu weiteren belastenden Reaktionen kam Sie ordnete das gesamte Geschehen im Nachhinein als Kompetenzerleben, nicht jedoch als Rückfall ein Loving-Kindness-Meditation (LKM) Eine weitere Möglichkeit, sowohl Mitgefühl als auch Selbstmitgefühl dauerhaft zu steigern und so indirekt die Fähigkeiten zum Vergeben und zum Selbstvergeben zu erhöhen besteht in der Anwendung der Loving-Kindness-Meditation (auch als Metta-Meditation oder Meditation der liebenden Güte bezeichnet). Sie stammt ursprünglich aus der buddhistischen Philosophie und artikuliert in drei Stufen die Wünsche nach Sicherheit, Glück, Gesundheit und einer Leichtigkeit im Umgang mit 9.4 Erhöhung von Selbstmitgefühl und Mitgefühl 149 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

151 dem Leben. Dabei handelt es sich um eine förmliche Textrezitation, die möglichst täglich über einen längeren Zeitraum (20 60 min) erfolgt. Es sind aber auch sehr kurze Meditationszeiten (3 min) wirksam. Die Effekte der Loving-Kindness-Meditation sind gut untersucht. Neben der direkten Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Komponenten des Mitgefühls sind zahlreiche positive Effekte gefunden worden. Rumination nimmt unter der Meditation ab (Feldman et. al., 2010), Empathie und positive Emotionen nehmen zu (Lutz et al., 2008). Darüber hinaus sind vielfältige physiologische Wirkungen beschrieben (z. B. Verlängerung der Telomere bei Frauen (Hoge et al., 2013) oder die Beeinflussung von Schmerzen (Carson et al., 2005). Bietet man diese Meditation religiösen Klienten aus monotheistischen Religionen an, hilft es darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Meditation nicht um ein Gebet (also die Ansprache einer höheren Macht) handelt. Der Meditationstext der in verschiedenen Abwandlungen eingesetzt wird ist in einer konjunktiven Sprachkonstruktion gehalten. Er wird dreistufig eingesetzt. Jede Stufe umfasst nach Germer (2012) vier Wünsche: (1) Möge ich sicher sein. (2) Möge ich glücklich sein. (3) Möge ich gesund sein. (4) Möge ich mit Leichtigkeit leben. Ursprünglich werden die vier Sätze zuerst auf das Selbst bezogen gesprochen (erste Stufe). Danach werden sie auf eine andere Person bezogen:»mögest du «, die der Klient sich dabei bildlich vorstellt. In einer dritten Stufe werden alle Wesen einbezogen:»mögen alle Wesen und auch ich «Wenn der Klient diese Form eingeübt hat, kann als andere Person in der zweiten Wiederholungsschleife irgendwann der Verursacher der Vergebenssituation gewählt werden. Aber auch ohne diese explizit auf die Vergebenssituation bezogene Wahl wirkt die Meditation unterstützend. Ist doch der Verursacher automatisch in»alle Wesen«einbezogen. Einigen Klienten fällt es schwer, diese Meditation mit dem Selbst zu beginnen. Das ist auch nicht zwingend erforderlich. Der Beginn kann ebenso gut mit einer geliebten anderen Person erfolgen. Die Grundform findet sich in unterschiedlichen Abwandlungen, die jedoch alle die konjunktive Konstruktion enthalten (z. B.: möge ich frei von Leiden sein, möge ich voll Liebe sein, möge ich in Frieden sein, möge ich meine Freude finden (Kristeller & Johnson, 2003; Übersetzung A. H.)). Diese Sprachform verhindert innere Diskussionen sowohl über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens, als auch über einen potenziellen Adressaten. Unter Einhalten dieser sprachlichen Konstruktion kann die Meditation sinngemäß an den individuellen Klienten angepasst werden. Das regelmäßige Üben dieser Meditation unterstützt den Vergebensprozess oft nachhaltig Vierte Phase Mit wieder auftretenden Grübelgedanken konstruktiv umgehen

152 10 Fünfte Phase Ausrichtung auf die Zukunft und Gestaltung des Kontaktes zum Verletzer 10.1 Sich auf die eigene Zukunft ausrichten Gegen Ende des Vergebensprozesses stellt sich die Frage, wie mit dem Verletzer zukünftig umgegangen werden soll. Um diese Frage adäquat beantworten zu können, ist es zuvor sinnvoll, mit dem Klienten zu besprechen, was ihm für die Zukunft wichtig ist Ausrichtung an den eigenen Werten Dabei hilft es, wenn sich der Klient seine Werte vergegenwärtigt. Je klarer einem Klienten ist, wofür er mit seinem Leben schlussendlich einstehen möchte, desto eher orientiert er sich mit seinen verbleibenden Handlungsoptionen darauf. Die erste Annäherung besteht für viele Klienten darin, dass sie eine Liste erstellen mit dem, was ihnen im Leben wichtig ist. Anschließend kann jeder Punkt auf dieser Liste mit»weil«hinterfragt werden. Manchmal hilft es, auch mehrfach nachzufragen. Beispielsweise schreibt ein Klient»Erfolg«auf seine Liste. Auf die erste Frage»Erfolg ist Ihnen wichtig, weil?«antwortet er mit:»weil ich dann Sicherheit habe!«auf die weitere Frage:»Und die ist Ihnen wichtig, weil?«antwortet er:»weil ich dann gut für meine Kinder sorgen kann!«ein anderer Klient antwortet auf die gleiche Frage nach dem Erfolg mit:»weil ich dann die Möglichkeit habe, wirklich die Welt zu sehen!«durch das Hinterfragen der ersten Ideen auf der Liste wird sich der Klient seiner wirklichen Werteausrichtung wesentlich bewusster. Gegebenenfalls kann die Übung»vom Ende des Lebens zurückschauen«aus Abschnitt zur Identifizierung der Werte unterstützend eingesetzt werden. Auch die Frage nach dem geistigen Vermächtnis des Klienten an seine Kinder und Enkel (bzw. an seine Nachfolger) kann hier sinnvoll sein. Eine vergleichbare Übung ist das Schreiben der eigenen Grabesrede(n). Dabei schreibt der Klient nieder, was Personen, die ihm wichtig sind, nachdem sein Leben gelungen ist, über ihn sagen. Auch die Überlegung, was der Klient tun würde, wenn er nur noch sechs Monate zu leben hätte, führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Derartige Übungen eignen sich für ich-stabile Klienten sehr gut. Sie werden sowohl im Rahmen der Spiritualität als auch in Management-Trainings häufiger eingesetzt. Wenn auf der Basis der gefundenen Werte über die weitere Ausrichtung des Lebens gesprochen wird, kann der Klient sie ab jetzt immer stärker als Richtungsorientierung 10.1 Sich auf die eigene Zukunft ausrichten 151 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

153 einsetzen. Die Kenntnis der eigenen Werte ist auch ein wesentlicher Aspekt bei der Wahl der Langzeitziele Everest-Ziele Cameron (2012) beschreiben Everest-Ziele als das jeweils Beste, was ein Mensch erreichen kann. Sie sind per se sinnstiftend, da sie mit einem in sich bereits bedeutsamen Wert nach Aristoteles einem Wert erster Ordnung (z. B. Liebe, Weisheit, Erfüllung (Aristoteles, 2011)) verbunden sind. Dadurch wirken diese Ziele nicht ermüdend und die Sehnsucht danach bleibt auch auf einem hohen Grad der Zielerreichung bestehen. Everest-Ziele orientieren sich primär nicht an den Fragen»Warum?«oder»Wozu?«. Das bedeutet, diese Ziele sind nicht auf die Lösung von Problemen, Schwierigkeiten oder persönlichem Gewinn ausgerichtet. Viel mehr fokussieren sie auf Chancen, Möglichkeiten und Potenziale auf die Option, etwas (Neues) zu schaffen. Everest- Ziele stellen einen Beitrag zu einem größeren Ganzen dar. Insofern können sie einen wichtigen, sinnstiftenden Beitrag für die weitere Lebensgestaltung des Klienten darstellen. Erst, wenn der Klient für sich geklärt hat, wie er sein Leben gestalten und leben will, ist es sinnvoll zu prüfen, welchen Platz der Verletzer in diesem Leben gegebenenfalls einnehmen soll, muss oder darf Den weiteren Umgang mit dem Verletzer klären Nachdem die Grundausrichtung des weiteren Lebens in den Blick genommen wurde, sollte nun erläutert werden, welche Erwartungen der Klient und der Verletzer in Bezug auf einen weiteren Kontakt oder gar eine Versöhnung aneinander haben. Prinzipiell gibt es vier Varianten (vgl. Abb. 10.1): (1) Der Klient und der Verursacher wünschen beide eine Fortsetzung oder einen Neubeginn der bisher schon bestehenden Beziehung. Es ist zu klären, ob in diesem Rahmen Verzeihungsrituale einen Platz haben können oder sollen. Der Klient wünscht zwar eine Fortsetzung oder einen Neubeginn der Beziehung, der Verursacher ist dazu jedoch nicht bereit. Hier schließt sich gegebenenfalls eine noch erforderliche Trauerarbeit an. Diese Situation kann sich auch entgegengesetzt darstellen: Der Verursacher versucht (gegebenenfalls schon seit längerer Zeit) wieder eine Beziehung aufzubauen, der Klient wünscht dies aber nicht. Da jetzt die Emotionalität (aus Rache und Grollgefühlen) fehlt, ist hier oft der Aufbau einer adäquaten Abgrenzungsstrategie erforderlich. Wenn es sich um nahe Familienangehörige handelt, kann eine derartige bewusste Trennung Trauer auslösen, die verarbeitet werden muss. Ein Sonderfall tritt auf, wenn der Klient sich mit einem Toten versöhnt. Hier gibt es unterschiedliche Ansichten. Einerseits gibt es die Ansicht, dass ein Trauer Fünfte Phase Ausrichtung auf die Zukunft und Gestaltung des Kontaktes zum Verletzer

154 prozess zu einer endgültigen Beendigung der Beziehung führen sollte. Andererseits existieren mittlerweile auch Verfahren, wie Beziehungen zu Verstorbenen hypnosystemisch gestaltet werden können (Kachler, 2010). (2) Weder der Klient noch der Verursacher können oder wollen wieder eine Beziehung miteinander eingehen. Ein Kontakt zwischen beiden Parteien ist auch nicht erforderlich. In der Regel sind keine weiteren Schritte notwendig. (3) Weder der Klient noch der Verursacher wollen eine Beziehung miteinander gestalten, allerdings ist die Notwendigkeit einer Beziehung dauerhaft gegeben (z. B. durch gemeinsame Kinder oder komplexe berufliche Situationen). In derartigen Situationen sind häufig Mediationsprozesse sinnvoll, die meist eine Strukturierung der notwendigen Beziehung und der noch vorhandenen gemeinsamen Ziele beinhalten. Falls hier keine Strukturierung erfolgt, wird häufig eine dritte Person als Bote oder Mittler zwischen beiden Parteien benutzt was gegebenenfalls zu einer (weiteren) Triangulierung und Parentifizierung eines Dritten (Untergebener, Kind) führen kann. Wünsche des Verursachers Beziehung ja Beziehung nein Versöhnungswunsch ja Versöhnungswunsch nein Wünsche des Vergebenden Abb.10.1: Kontaktgestaltung am Ende des Vergebensprozesses (Figuren: Anatoly Maslennikov, coramax, jojje11, diego1012, Fotolia) Bevor der Klient eine Entscheidung trifft, welche der Varianten für ihn wahrscheinlich die beste ist, sollten die Einschätzung bezüglich des Verursachers und die Selbsteinschätzung des Klienten untersucht werden Den weiteren Umgang mit dem Verletzer klären 153 Dieses Buch ist lizenziert für Julia Cremasco

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