Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht Lehrstuhl für Öffentliches Recht

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Transkript:

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht Lehrstuhl für Öffentliches Recht Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. Israelflagge Am 10.01.2009 fand anlässlich des Gaza-Krieges eine gegen Israel gerichtete Demonstration in Kiel statt, zu der die islamistische Organisation MG aufgerufen hatte, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Zu der ordnungsgemäß angemeldeten Versammlung fanden sich ca. 10.000 Demonstranten ein, die dem planmäßigen Ablauf des Demonstrationszuges folgten. Die Polizei war ihrerseits nur von rund 1000 Teilnehmern ausgegangen und befand sich dementsprechend mit nur wenigen Einsatzkräften vor Ort. Der jüdische Student P und seine Freundin, die in einer Mietwohnung auf der straßenzugewandten Seite eines Mehrfamilienhauses wohnen, waren von dieser Demonstration nicht angetan, meinten sie doch, Israel würde sich in diesem Krieg nur selbst verteidigen. Da der Demonstrationszug auch an ihrer Wohnung vorbei führte, entschlossen sie sich, ihrer Solidarität mit Israel und der Ablehnung der Demonstration dadurch Ausdruck zu verleihen, dass sie gut sichtbar Israelflaggen an ihren Balkon und von innen an ihre Fenster anbrachten. Anschließend verließen sie die Wohnung, um einzukaufen. Als der Demonstrationszug die Wohnung passierte und die Demonstranten die Flaggen in und an der Wohnung des P erblickten, eskalierte die Situation. Zunächst wurden wütende Hasstiraden auf den Staat Israel abgegeben, dann wurden aus der Mitte der Demonstration Steine, Flaschen und andere Wurfgeschosse in Richtung der Fenster der Wohnung des P abgefeuert. Die Polizei versuchte die Menge zum Weitergehen zu animieren und die Lage unter Kontrolle zu bringen, war aufgrund ihrer schwachen Besetzung allerdings nicht dazu fähig. Polizeiliche Maßnahmen gegen die Demonstranten unterblieben daher. Als die Demonstranten immer wütender tobten und sich einige anschickten das Wohnhaus zu stürmen, um in die Wohnung des P einzudringen, entschieden sich die Polizeikräfte, die immer weiter zurückgedrängt wurden und die Lage nicht mehr kontrollieren konnten, selbst tätig zu werden, bevor es zu einer weiteren Gewalteskalation hätte kommen können. Einige Polizisten versuchten daher zunächst durch lautes Rufen, den P zum Öffnen seiner Wohnungstür und der Abnahme der Flaggen zu bewegen. Da P wegen seiner Ortsabwesenheit die Tür nicht öffnete, brachen die Polizisten mangels Alternative die Tür selbst auf und hängten die Flaggen ab und hinterließen sie in der Wohnung. Nach der Aktion verlief sich die wütende Menge vor dem Haus. P ist erbost. Er meint, die Polizei habe seine Meinungsfreiheit mit Füßen getreten. Es hätten mehr Kräfte angefordert werden müssen. Er möchte daher feststellen lassen, dass die Polizei rechtswidrig gehandelt hat.

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 2 Diese hält ihr Vorgehen für rechtmäßig. Insbesondere hätte sie nicht rechtzeitig Verstärkung herbeirufen können, was der Wahrheit entspricht. Auch das Aufbrechen der Tür sei notwendig gewesen, da andernfalls Rechtsgüter des P in Gefahr gewesen wären. Zudem hätte die Meinungsfreiheit des P aufgrund der großen Gefahr, die von der wütenden Menge ausging, im Rahmen der Abwägung zurückstehen müssen. Zudem sei P selbst Schuld, schließlich hätte er die Menge derart provoziert, dass mit solchen Ausschreitungen zu rechnen gewesen sei. Hat eine Klage des P Aussicht auf Erfolg?

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 3 Lösung A. Zulässigkeit I. Eröffnung Verwaltungsrechtsweg Keine aufdrängende Sonderzuweisung. Verwaltungsrechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art gem. 40 Abs. 1 VwGO: Hier polizeirechtliches Vorgehen im präventiven Bereich, streitentscheidende Normen also 174, 176; 228 ff. LVwG, berechtigen und verpflichten Hoheitsträger gegenüber Privaten (+). Es liegt keine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit vor (+). Verwaltungsrechtsweg eröffnet (+). Keine abdrängenden Sonderzuweisungen ersichtlich. II. Statthafte Klage Geht nach Klägerbegehren 88 VwGO. Anfechtungsklage unstatthaft, da mögliche Verwaltungsakte bereits erledigt. Fortsetzungsfeststellungsklage? Liegt VA vor? Sowohl das Aufbrechen der Tür als auch das Abnehmen der Flagge hat keinen Regelungscharakter, es handelt sich um Realakte i.r.d. Verwaltungszwanges. Vorherige Anordnung der Polizei an den P die Tür zu öffnen und die Flaggen abzunehmen als GrundVA? Grds. alle VA Voraussetzungen vorhanden, aber keine Bekanntgabe, da der P nicht anwesend war VA gegenüber dem Adressaten nicht wirksam geworden, es liegt kein vollstreckbarer/vollstreckter VA vor. P möchte aber feststellen lassen, ob das Handeln der Polizei rechtswidrig war. Bestehen oder nicht Bestehen eines Rechtsverhältnisses? Prüfen, ob eine rechtliche Beziehung zw. Polizei und P bestanden hat, die die Polizei aufgrund öff.-rechtl. Normen zu der vorliegenden Handlung berechtigte. Hier könnte sich ein derartiges Rechtsverhältnis aus der Anwendung der 229 ff. LVwG ergeben, wonach der P zur Duldung der polizeilichen Handlungen verpflichtet gewesen wäre. Mithin ist hier die subsidiäre Feststellungsklage gem. 43 Abs. 1 VwGO statthaft. III. Klagebefugnis

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 4 Nach 42 Abs. 2 VwGO analog müsste P eine Rechtsverletzung geltend machen, die zumindest möglich erscheint. Str., ob tatsächlich die Erforderlichkeit für diesen Prüfungspunkt neben dem noch zu prüfenden Feststellungsinteresse besteht. Der Streit kann aber dahin stehen, wenn eine Klagebefugnis vorliegt. Dem Sachverhalt nach könnte zumindest in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Aufbrechen Wohnungstür, Betreten der Wohnung) als auch in die Meinungsfreiheit (Abhängen der Flaggen) des P eingegriffen worden sein (Art. 13 Abs. 1, 5 Abs. 1, ggf. 2 Abs. 1 GG). Dass es dabei nicht auch zu Grundrechtsverletzungen gekommen ist, kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden: Klagebefugnis (+) IV. Feststellungsinteresse Gem. 43 Abs. 1 VwGO müsste P ein Feststellungsinteresse haben. Darunter versteht man jedes nach vernünftigen Erwägungen durch die Sachlage anzuerkennendes schutzwürdiges Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art, sofern es hinreichend gewichtig ist. P hat ein nicht unerhebliches Rehabilitationsinteresse, da in bestimmte Rechtspositionen (Unverletzlichkeit der Wohnung, Meinungsfreiheit) eingegriffen wurde und daher eine Klärung der Wahrung oder Wiederherstellung seiner Rechtspositionen dienen könnte. V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit Für P gem. 61 Nr. 1, Alt. 1; 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Bei der Feststellungsklage richtet sich die Klage nach h.m. nach dem allgemeinen Rechtsträgerprinzip und nicht (analog) nach 78 VwGO. Dementsprechend ist die Klage gegen das Land SH als Rechtsträger der handelnden Polizeibehörde zu richten und das Land ist gem. 61 Nr. 1, Alt. 2, 62 Abs. 3 VwGO vertreten durch den Ministerpräsidenten des Landes beteiligten- und prozessfähig. VI. Rechtsschutzbedürfnis Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben. VII. Ergebnis Die Klage ist zulässig. B. Begründetheit Die Klage ist begründet, soweit die Maßnahmen der Polizei (Aufbrechen der Tür, Abhängen Flaggen) rechtswidrig waren und P in seinen Rechten verletzt haben. I. Das Betreten der Wohnung

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 5 Zunächst ist festzustellen, nach welcher Rechtsgrundlage die Polizei gehandelt hat. Sofern den Handlungen kein VA vorausging, ist die Polizei im Rahmen des sofortigen Vollzugs tätig geworden. Die Aufforderung der Polizei an den P die Wohnungstür zu öffnen und die Flaggen abzunehmen wurde dem P nicht bekanntgegeben und konnte keine Wirksamkeit erlangen. Das Betreten der Wohnung selbst könnte mithin im Rahmen des sofortigen Vollzuges nach 230 i.v.m. 208 Abs. 1 LVwG erfolgt sein. 1. Rechtsgrundlage für das Betreten der Wohnung 230 i.v.m. 208 LVwG 2. Formelle Rechtmäßigkeit Zuständige Stelle nach 231 LVwG: hier danach zu beurteilen, wer den fiktiven VA hätte erlassen können. Hinsichtlich des Verfahrens hätte 87 LVwG beachtet werden müssen, sofern der sofortige Vollzug selber als VA anzusehen wäre (str.). Sofern eine Anhörung aber ohnehin entbehrlich gewesen wäre, kann der Streit dahin stehen: Hier gegeben, da gem. 87 Abs. 2 Nr. 5 LVwG im Vollzug von einer Anhörung abzusehen ist. Formelle RM: (+) 3. Materielle Rechtmäßigkeit Zu prüfen ist des Weiteren, ob die Polizei mit dem Betreten der Wohnung materiell rechtmäßig gem. 208 LVwG gehandelt hat. a) Kein Grund VA Zunächst dürfte i.r.d. 230 LVwG kein Grund VA vorliegen. Dies ist hier der Fall b) RM des fiktiven Grund-VA ( innerhalb ihrer Befugnisse ) Allerdings müsste der fiktive Grund VA, der der Handlung der Polizei zugrunde liegt rechtmäßig sein. Der hier maßgebliche fiktive Grund VA wäre die Anordnung der Polizei an den P, der Polizei Eintritt in seine Wohnung zu gewähren. aa) Rechtsgrundlage fiktiver Grund VA 208 LVwG.

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 6 bb) Formelle Rechtmäßigkeit Zuständig wäre die Polizei gem. 163 Abs. 1; 168 Abs. 1 Nr. 3; 169 LVwG. Durchführung einer Anhörung gem. 87 Abs. 1 LVwG und Einhaltung der Form gem. 108 Abs. 2 LVwG sind entbehrlich bzw. können hier nicht überprüft werden. cc) Materielle Rechtmäßigkeit (1) Erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit Zunächst müsste für den Grund VA eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegen. Unter die öffentliche Sicherheit fallen alle Individualrechtsgüter, der Staat und seine Einrichtungen und die objektive Rechtsordnung an sich. Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, wenn eines dieser Schutzgüter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit Schaden nehmen würde. Das Individualrechtsgut des Eigentums an der Wohnung kann hier nicht außer Betracht bleiben, obwohl P nicht Eigentümer der Wohnung ist, da im Rahmen der öffentlichen Sicherheit die Zuordnung des Individualrechtsguts irrelevant ist. Die Subsidiaritätsklausel aus 162 Abs. 2 LVwG kann dem ebenfalls nicht entgegenstehen, da der Eigentümer erst Recht nicht rechtzeitigen zivilgerichtlichen Schutz gegen die mögliche Störung seines Eigentums erlangen könnte. Zudem war aber auch die objektive Rechtsordnung gefährdet, da bei den Übergriffen durch die Demonstranten mit Sicherheit auch strafbare Handlungen vollzogen worden wären, insb. Verstöße gegen 123, 303 StGB. Mithin lag eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor. Diese zu schützenden Rechtsgüter sind insgesamt auch als erheblich also als bedeutsame Rechtsgüter zu werten. Zwar waren hier nicht Leben, Freiheit und Gesundheit gefährdet, aber sowohl das Eigentum des Wohnungseigentümers als auch das Eigentum des P an den persönlichen Gegenständen in der Wohnung waren einer erheblichen Gefahr ausgesetzt. Mithin hätte die Polizei hier eingreifen dürfen. (2) Verantwortlichkeit Soweit Standardmaßnahmen keine eigenständigen Adressatenregelungen aufweisen, gelten auch hier die 218 ff. LVwG. Die unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit geht weder von P noch von der Wohnung oder den Flaggen aus, sondern von der wütenden Menge auf der Straße. Fraglich ist aber, ob P möglicherweise trotzdem als Verursacher einzuordnen ist und daher als Verantwortlicher in die Pflicht genommen werden könnte, ohne dass die 218, 219 LVwG. Dabei ist der Begriff der Verursachung umstritten.

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 7 (a) Theorie der rechtswidrigen Verursachung Nach einer Ansicht soll nur derjenige verantwortlich für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sein, der rechtswidrig gehandelt hat, also gegen eine Ge- oder Verbotsnorm verstoßen hat. Diese Ansicht versagt allerdings dort, wo es keinerlei solcher Normen gibt. (b) Theorie der Sozialadäquanz Nach einer anderen Ansicht soll derjenige verantwortlich sein, der sozialinadäquat gehandelt hat, wobei es schwierig ist, zu bestimmen, was dieses sozialinadäquate Handeln darstellt führt zu großer Unbestimmtheit. (c) Theorie der unmittelbaren Verursachung Nach dieser Ansicht ist bei wertender Betrachtung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles darauf abzustellen, ob ein Verhalten oder eine Sache die Gefahrgrenze überschreitet und eine damit unmittelbare Ursache für den Eintritt der Gefahr setzt. Dieser Ansicht ist zu folgen, da sie aufgrund des jeweiligen Einzelfalles die beste Gewähr für eine effektive Gefahrenabwehr bietet. Zwar hat P hier unmittelbar nicht die Ursache für die Gefahr gesetzt, allerdings ist nach der h.m. anerkannt, dass auch eine mittelbare Verursachung zur Pflichtigkeit führen kann, wenn ein bestimmtes Verhalten nach wertender Betrachtung von Anfang an ein erhöhtes Maß an Gefahrentendenz inne hat, sofern die Gefahr nach allgemeiner Erfahrung eine nahe liegende Folge und nicht lediglich atypische Konsequenz des Verhaltens ist (objektiver Wirkungs- und Verantwortungszusammenhang). In diesen Fällen wir das unmittelbar störende Verhalten der Dritten dem dann sog. Zweckveranlasser zugerechnet. Fraglich ist im vorliegendem Fall, ob bei objektiver Betrachtungsweise den Israelflaggen im Fenster eine erhöhte Gefahrentendenz inne wohnte, die zur Gefahr führte und dies auch objektiv so zu erkennen war. Zwar wollte P von vorneherein die Demonstranten durch das Aufhängen der Israelflaggen provozieren, auf der anderen Seite wollte er aber auch seine Solidarität mit Israel kundtun und dadurch seine Meinung äußern. Gerade aber Verhaltensweisen, die von der Rechtsordnung ausdrücklich oder konkludent erlaubt sind, wie bei Fragen der Grundrechtsausübung, findet der Zweckveranlasser seine Grenzen (wie z.b. auch bei Musikkonzerten oder Fußballspielen wg. Art. 12, 14 GG). Dementsprechend ist der Argumentation der Polizei entgegenzutreten: P hatte das Recht seine Meinung zu äußern und daher kann er auch nicht als Zweckveranlasser in Anspruch genommen werden. Das Aufhängen war zwar möglicherweise die mittelbare Ursache für die Gefahr, aufgrund des Grundrechtsschutzes, unter den sein Verhalten aber fällt, kann dies nicht zur Pflichtigkeit des P führen. Mithin ist P kein Zweckveranlasser.

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 8 Letztlich könnte P demnach nur als Nicht-Störer gem. 220 LVwG in Anspruch genommen werden. Hierfür müssten die Voraussetzungen von 220 Abs. 1 Nr. 1-3 LVwG erfüllt sein. Da hier sowohl Maßnahmen der Polizei aufgrund der explosiven Lage und der Überzahl der Demonstranten nicht erfolgversprechend gewesen wären als auch die Gefahr an sich nicht durch die Polizei hätte beseitigt werden können, liegen sowohl 220 Abs. 1 Nr. 1 als auch Nr. 2 LVwG vor. Der P hätte als Nichtstörer in Anspruch genommen werden können. (3) Ermessen (a) Entschließungsermessen Im vorliegenden Fall bestand eine erhöhte Gefahr, dass die wütende Menge in kürzester Zeit das Haus und auch die Wohnung des P gestürmt hätte, die Polizei hatte die Lage nicht mehr im Griff. Mithin ist vor dem Hintergrund des Schutzes des P und seiner Rechtsgüter davon auszugehen, dass das Einschreiten nicht ermessensfehlerhaft war. (b) Auswahlermessen Des Weiteren ist zu prüfen, ob die Polizei das richtige Mittel gegen den Verantwortlichen gerichtet hat. (aa) Sachliches Auswahlermessen Im Rahmen des 208 Abs. 1 LVwG hätte die Polizei lediglich das Betreten der Wohnung als Maßnahme ergreifen können. Dies müsste allerdings trotzdem ermessensfehlerfrei gewesen sein. Das Betreten der Wohnung wäre zum vorliegenden Zeitpunkt die einzige Maßnahme, um im Anschluss die Flaggen abnehmen zu können. Mithin ist i.r.d. möglichen Ermessensüberüberschreitung zu prüfen, ob die Maßnahme verhältnismäßig war. Zunächst ist festzustellen, dass die Polizei ein legitimes Ziel verfolgt hätte, wenn sie den fiktiven Grund VA erlassen hätte, nämlich den Schutz der Rechtsgüter des P. Die Maßnahme wäre auch geeignet gewesen, da sie dem Schutz der Rechtsgüter des P gedient hätte. Erforderlich wäre sie ebenfalls, da kein milderes Mittel ersichtlich ist. Die Polizei hätte als eine mildere Maßnahme im vorliegenden Fall zwar mehr Polizeibeamte anfordern können. Dies war vor dem Hintergrund des engen Zeitfensters, welches bis zu einer Eskalation blieb, allerdings nicht möglich, die Polizei war auch auf eine so große Demonstration mit derart vielen Teilnehmern nicht vorbereitet, weswegen erst recht nicht ausreichend Polizeikräfte rechtzeitig hätten angefordert werden können. Mithin erschien kein milderes Mittel ersichtlich. Somit hätte die Polizei nicht ermessensfehlerhaft gehandelt.

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 9 (bb) Personelles Auswahlermessen Aufgrund voran gegangener Überlegungen, war P als Nicht-Störer gem. 220 Abs. 1 Nr. 1, 2 LVwG auch der richtige Verantwortliche, an den sich die Maßnahme gerichtet hätte, da die Polizei Maßnahmen gegen die Demonstranten nicht erfolgversprechend hätte durchführen können. Zur effektiven Gefahrenabwehr hätte die Polizei also nicht ermessensfehlerhaft gehandelt, wenn sie den P als Nichtstörer in Anspruch genommen hätte. (4) Ergebnis Die Polizei hätte rechtmäßig gehandelt, wenn sie gem. 208 Abs. 1 LVwG eine Anordnung zum Betreten der Wohnung des P erlassen hätte. c) Sonstige Voraussetzungen des 230 Zunächst müsste eine gegenwärtige Gefahr vorliegen. Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sie unmittelbar bevorsteht. Das war hier der Fall, da die Situation jeder Zeit hätte eskalieren können. Zudem waren Maßnahmen gegen die Pflichtigen (die Demonstranten) nicht rechtzeitig möglich (). Des Weiteren müsste die Vollstreckung der Polizei ordnungsgemäß erfolgt sein. aa) Richtiges Zwangsmittel Die Polizei hätte das richtige Zwangsmittel wählen müssen: Ersatzvornahme bei vertretbaren Handlungen, ansonsten unmittelbarer Zwang als ultima ratio. Im vorliegenden Fall hätte P die Tür öffnen können. Mithin handelte es sich bei der Maßnahme um eine i.s.d. Ersatzvornahme, nicht um einen unmittelbaren Zwang gegen Sachen (ist die Einwirkung auf die Sache nur Beugemittel, das dazu führt, daß der Pflichtige unter dem Eindruck des Einwirkens die Gefahr selbst beseitigt: unmittelbarer Zwang) bb) Androhung Eine Androhung war nach 236 Abs. 1 LVwG entbehrlich. cc) Anwendung des Zwangsmittels

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 10 Die Maßnahme als Zwangsmittel wandte sich gegen den richtigen Adressaten i.s.d. 232 LVwG, da auch der fiktive VA sich gegenüber P erlassen worden wäre. Weitere Vollstreckungshindernisse sind nicht ersichtlich. Aus den gleichen Gründen wie oben ist auch hier von der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen auszugehen (oder bei gegebener Begründung auch nicht). II. Abhängen der Flaggen Wie oben dargestellt, fehlt es auch hinsichtlich des Abhängens der Flaggen an einem Grund- VA. Da hier keine Standardmaßnahme einschlägig ist, hat die Polizei hier aufgrund 230 i.v.m. 235 ff. LVwG gehandelt. 1. Rechtsgrundlage 230 i.v.m. 235 ff. LVwG. 2. Formelle Rechtmäßigkeit Zuständig nach 231 LVwG ist diejenige Behörde, die den fiktiven VA hätte erlassen können; Rest Formelle RM: (+) 3. Materielle Rechtmäßigkeit a) Kein Grund VA (+) b) RM des fiktiven Grund-VA Allerdings müsste der fiktive Grund VA, der der Handlung der Polizei zugrunde liegt, rechtmäßig sein. Der hier maßgebliche fiktive Grund VA wäre die Anordnung der Polizei die Flaggen abzuhängen. aa) Rechtsgrundlage fiktiver Grund VA Polizeiliche Generalklausel: 174, 176 LVwG. bb) Formelle Rechtmäßigkeit

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 11 Es hätte die zuständige Stelle gem. 163 Abs. 1, 168 Abs. 1 Nr. 3, 169 LVwG gehandelt. Durchführung einer Anhörung gem. 87 Abs. 1 LVwG (entbehrlich); Einhaltung der Form gem. 108 Abs. 2 LVwG kann nicht geprüft werden. cc) Materielle Rechtmäßigkeit (1) Gefahr für die öffentlichen Sicherheit (2) Verantwortlichkeit (3) Ermessen Auf der Rechtsfolgenseite hat die Behörde Ermessen auszuüben. (a) Entschließungsermessen Im vorliegenden Fall bestand eine erhöhte Gefahr, dass in kürzester Zeit die wütende Menge das Haus und auch die Wohnung des P gestürmt hätte, die Polizei hatte die Lage nicht mehr im Griff. Mithin ist vor dem Hintergrund des Schutzes des P und seiner Rechtsgüter davon auszugehen, dass ein Einschreiten nicht ermessensfehlerhaft war. (b) Auswahlermessen (aa) Sachliches Auswahlermessen Sachlich bestand der fiktive Grund VA darin, dass die Polizei dem P aufgetragen hätte, die Flaggen abzuhängen. Ein Ermessensausfall oder ein Ermessensfehlgebrauch ist hier nicht ersichtlich, fraglich ist aber, ob die Polizei ihr Ermessen überschritten hat. Dies wäre insbesondere vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes des P durch Art. 5 Abs. 1 GG möglich. Mithin ist i.r.d. möglichen Ermessensüberüberschreitung zu prüfen, ob die Maßnahme des fiktiven VAs verhältnismäßig gewesen wäre. (Mit guter Begründung alles zu vertreten.) (bb) Personelles Auswahlermessen

Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 12 (4) Ergebnis Mithin wäre der fiktive Grund VA der Polizei gegenüber dem P in Form einer Anordnung, die Fahnen abzuhängen, rechtmäßig gewesen. c) Sonstige Voraussetzungen des 230 aa) Richtiges Zwangsmittel bb) Rechtmäßige Androhung cc) Rechtmäßige Anwendung des Zwangsmittels Die Maßnahme als Zwangsmittel wandte sich gegen den richtigen Adressaten i.s.d. 232 LVwG, da auch der fiktive VA sich gegen P gewandt hätte. Weitere Vollstreckungshindernisse sind nicht ersichtlich. Von der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist auszugehen (oder bei gegebener Begründung auch nicht). C. Ergebnis Die Klage des P ist zulässig aber nicht begründet, die Handlungen der Polizei waren rechtmäßig und haben ihn nicht in seinen Rechten verletzt.