Vorlesung 6: Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie Georg Nöldeke Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Basel Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 1 / 21
1. Einleitung 1.1 Einordnung Als Reaktion auf die Probleme der Erwartungsnutzentheorie, die experimentelle und empirische Evidenz zu Entscheidungsverhalten unter Unsicherheit zu beschreiben, sind eine Vielzahl von alternativen Theorien entstanden. Wir beschränken uns hier auf einige Theorien (bzw. Bausteine von Theorien), die als die Modellierung von rationalen Präferenzrelationen über Lotterien aufgefasst werden können. Dies ignoriert verschiedene Formen von Darstellungs- und Prozedureffekten. Auf den psychologischen Hintergrund der verschiedenen Theorie gehen wir nur am Rande ein. Dies gilt insbesondere auch für die Frage der Festlegung des Referenzpunktes, den wir bei der Beschreibung von Lotterien als gegeben betrachten werden. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 2 / 21
1. Einleitung 1.2 Vorgehensweise Separate Diskussion von zwei Ansätzen zur Bewertung von monetären Lotterien: 1 Erwartungsnutzen wird nicht in Bezug auf die wahren Wahrscheinlichkeiten, sondern in Bezug auf sogenannte Entscheidungsgewichte berechnet. 2 Modellierung einer Bernoulli-Nutzenfunktion, die nicht auf absoluten Vermögenniveaus, sondern über Gewinne und Verluste definiert ist. Beide Ansätze werden in (Varianten) der sogenannten Prospect-Theorie vereint. Elemente der Prospect-Theorie werden heutzutage in vielen ökonomischen Anwendungen verwendet. In ihrer ursprünglichen Fassung enthält die Prospect-Theorie viele weitere Elemente, die wir hier nicht diskutieren werden. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 3 / 21
1. Einleitung 1.3 Die Erfinder der Prospect-Theorie Daniel Kahnemann (1934-), Wirtschaftsnobelpreis 2002 Amos Tversky (1937-1996) Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 4 / 21
2.1 Modellrahmen und Zielsetzung Wir betrachten einfache monetäre Lotterien L = (x 1, p 1 ; ;x n, p n ), wobei x 1 < < x n unterstellt ist. Wird die Menge der Ergebnisse X = {x 1,,x n } als gegeben betrachtet, so vereinfachen wir die Notation, in dem die Lotterie als p = (p 1,, p n ) beschrieben wird. Rationale Präferenzrelation über Lotterien ist gegeben und kann durch Nutzenfunktion U dargestellt werden. Ziel ist es, die Grundstruktur der Erwartungsnutzenfunktion beizubehalten, sie aber zugleich so zu verallgemeinern, dass einige der empirischen Probleme der Erwartungsnutzentheorie vermieden werden. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 5 / 21
2.1 Modellrahmen und Zielsetzung Die Grundstruktur der betrachteten Nutzenfunktionen ist U(L) = n ω i (p)u(x i ). i=1 ω i (p) heisst das Entscheidungsgewicht für das Ergebnis x i, das im Prinzip von dem gesamten Vektor der Wahrscheinlichkeiten p = (p 1,, p n ) abhängen kann. Die Funktion ω heisst die Wahrscheinlichlichkeits-Gewichtungsfunktion. Beachte: Die Entscheidungsgewichte nehmen die Rolle der Wahrscheinlichkeiten in der Erwartungsnutzendarstellung ein. Insbesondere ergibt sich die Erwartungsnutzentheorie aus dem Spezialfall ω i (p) = p i. Die Entscheidungsgewichte sind ebenso wie die Nutzengewichte u(x i ) Parameter der Präferenzrelation sie können sich also von Individuum zu Individuum unterscheiden. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 6 / 21
2.2 Einfache Entscheidungsgewichte Der einfachste Ansatz zur Modellierung der Entscheidungsgewichte ist zu unterstellen, dass sie nur von der Wahrscheinlichkeit des betrachteten Ergebnisses abhängen: ω i (p) hängt nur von p i ab. Die Wahrscheinlichkeitsgewichtung unabhängig davon ist, welches Ergebnis betrachtet wird: ω i (p) = ω j (p) falls p i = p j. In diesem Fall können die Entscheidungsgewichte durch eine Funktion π : [0,1] R dargestellt werden, so dass ω i (p) = π(p i ) für alle p und i gilt. Man spricht in diesem Fall von einfachen Entscheidungsgewichten und nimmt an: π(0) = 0 und π(1) = 1. π ist streng steigend. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 7 / 21
2.2 Einfache Entscheidungsgewichte Ausser im dem Fall, dass π linear ist was den Fall der Erwartungsnutzentheorie darstellt verlaufen die entsprechenden Indifferenzkurven im Machina-Dreieck nicht linear. Was bedeutet, dass für ein solches Individuum die Mischung von zwei indifferenten Lotterien nicht indifferent zu den Ausgangslotterien ist. Für geeignete Spezifikationen von π sind solche Präferenzrelationen mit den Beobachtungen zu dem Common Consequence- und dem Common Ratio-Effekt vereinbar, da sich die Indifferenzkurven im Machina-Dreieck auffächern. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 8 / 21
2.2 Einfache Entscheidungsgewichte Abbildung: Ein Beispiel für eine Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion. Die Entscheidungsgewichte sind durch ω i (p) = π(p i ) = p γ i /(pγ i + (1 p i) γ ) 1/γ mit γ = 1/2 gegeben. Was motiviert einen solchen Verlauf der Gewichtungsfunktion? Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 9 / 21
2.2 Einfache Entscheidungsgewichte Abbildung: Einige Indifferenzkurven zu der Nutzenfunktion U(p) = n i=1 π(p i)x i im Machina-Dreieck für (x 1,x 2,x 3 ) = (0,3,5). Die Entscheidungsgewichte sind durch ω i (p) = π(p i ) = p γ i /(pγ i + (1 p i) γ ) 1/γ mit γ = 0.8 gegeben. Bessere Lotterien liegen links-oben. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 10 / 21
2.2 Einfache Entscheidungsgewichte Problem: Ist die durch π gegebene Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion nicht-linear, so führen einfache Entscheidungsgewichte zur Verletzung der Monotonie. Beispiel: Angenommen, es gilt π(0.5) < 0.5. Ist die Bernoulli-Nutzenfunktion an der Stelle x 1 stetig, dann gilt u(x 1 ) > π(0.5)u(x 2 ) + π(0.5)u(x 3 ) für alle x 2 und x 3 nahe genug bei x 1. Dies heisst, dass das Individuum die degenerierte Lotterie L 1 = (x 1,1) der Lotterie L 2 = (x 2,1/2;x 3,1/2) vorzieht. Dieses gilt auch für den Fall x 3 > x 2 > x 1, in dem L 2 > 1 L 1 gilt. Schlussfolgerung: Einfache Entscheidungsgewichte sind nicht geeignet, um monotone Präferenzrelationen zu modellieren. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 11 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Das Monotonie-Problem bei einfachen Entscheidungsgewichten lässt sich vermeiden, wenn eine Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion nicht auf den Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ergebnisse, sondern auf kumulierten Wahrscheinlichkeiten so wie sie durch die Verteilungsfunktion beschrieben sind definiert wird. Definiere die Wahrscheinlichkeit, ein Ergebnis kleiner gleich x i in einer Lotterie zu erhalten als F i = F(x i ) = i p j j=1 und setze F 0 = 0. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 12 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Dann gilt p i = F i F i 1 für i = 1,,n, so dass eine Erwartungsnutzendarstellung wie folgt geschrieben werden kann: n [F i F i 1 ]u(x i ). i=1 Die Idee ist nun, diese Darstellung dadurch zu verallgemeinern, dass eine Gewichtung der kumulierten Wahrscheinlichkeiten F i vorgenommen wird. Betrachte dazu eine streng steigende Funktion φ : [0,1] R mit φ(0) = 0 und φ(1) = 1. Rangabhängige Entscheidungsgewichte werden nun durch ω i (p) = φ(f i ) φ(f i 1 ) definiert, so dass die Nutzenfunktion wie folgt gegeben ist: U(L) = n [φ(f i ) φ(f i 1 )]u(x i ). i=1 Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 13 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Bemerke: Solche Entscheidungsgewichte heissen rangabhängig, da das Entscheidungsgewicht für einen gegebenen Geldbetrag nicht nur von der Wahrscheinlichkeit abhängt, den Geldbetrag zu erhalten, sondern auch davon, wie dieser Geldbetrag in der Rangordnung der Ergebnisse eingereiht ist. Gilt z.b. φ(0.5) < 0.5, so erhält in einer Lotterie (x 1,1/2;x 2,1/2) das Ergebnis x 2 das grössere Entscheidungsgewicht, da: ω 2 (1/2,1/2) = 1 φ(0.5) > 0.5 > φ(0.5) = ω 1 (p 1, p 2 ). Die Annahme, dass φ und u streng steigend sind, sichert die Monotonie einer durch U(L) = n [φ(f i ) φ(f i 1 )]u(x i ). i=1 dargestellten Präferenzrelation über Lotterien. Problem: Stetigkeit! Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 14 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Tversky und Kahnemann 1 haben auf Grund psychologischer Erwägungen und experimenteller Evidenz die funktionale Form φ(f) = F γ (F γ + (1 F) γ mit 0 < γ 1 ) 1/γ zur Modellierung der rangabhängigen Entscheidungsgewichte vorgeschlagen. Der Fall γ = 1 liefert eine Erwartungsnutzendarstellung. Ansonsten verläuft diese Funktion umgekehrt S-förmig. Wobei γ > γ 0.279 gelten muss, damit φ streng steigend verläuft. Versuche den Parameter γ zu schätzen, haben zu recht unterschiedlichen Ergebnissen geführt. 1 Advances in Prospect Theory: Cumulative Representation of Uncertainty, Journal of Risk and Uncertainty 1992. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 15 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Abbildung: Einige Beispiele für den Verlauf der Funktion φ(f) = F γ /(F γ + (1 F) γ ) 1/γ in Abhängigkeit von γ. Je kleiner γ, desto mehr entfernt sich die Funktion von der Winkelhalbierenden. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 16 / 21
2.3 Rangabhängige Entscheidungsgewichte Abbildung: Einige Indifferenzkurven zu der Nutzenfunktion U(p) = n i=1 ω i(p)x i im Machina-Dreieck für (x 1,x 2,x 3 ) = (0,3,5). Die Entscheidungsgewichte sind durch ω i (p) = [φ(f i ) φ(f i 1 )] mit φ(f) = F γ /(F γ + (1 F) γ ) 1/γ und γ = 0.8 gegeben. Bessere Lotterien liegen links-oben. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 17 / 21
3. Bewertung von Gewinnen und Verlusten 3.1 Modellrahmen und Zielsetzung Lotterien sind relativ zu einem Referenzpunkt definiert. Negative Ergebnisse stellen Verluste dar. Positive Ergebnisse stellen Gewinne dar. Unterstelle, dass die Präferenzrelation über Lotterien eine Erwartungsnutzendarstellung besitzt. Dies dient nur der Vereinfachung der Darstellung. Entsprechende Überlegungen lassen sich anstellen, wenn stattdessen Entscheidungsgewichte der soeben besprochenen Form berücksichtigt werden. Wobei es üblich ist, die Entscheidungsgewichte für Verluste und Gewinne separat zu definieren. Frage: Welche Annahmen an die Bernoulli-Nutzenfunktion u in der Erwartungsnutzendarstellung U(L) = n i=1 p iu(x i ) sind im Lichte der experimentellen Evidenz plausibel? Beachte: Die Bernoulli-Nutzenfunktion wird in diesem Kontext meist als Wertfunktion bezeichnet. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 18 / 21
3. Bewertung von Gewinnen und Verlusten 3.2 Annahmen an die Wertfunktion Ohne Verlust der Allgemeinheit kann man u(0) = 0 setzen. u streng steigend: Sichert Monotonie. u (x) 0 für x > 0: Sichert Risikoaversion im Gewinnbereich. u (x) 0 für x < 0: Sichert Risikofreude im Verlustbereich. u( x) < u(x) für x > 0: Sichert Verlustaversion. Da für Lotterien der Form L = ( x,1/2;x,1/2) mit x > 0 dann gilt. U(L) = 0.5u( x) + 0.5u(x) = 0.5[u( x) + u(x)] < 0 = u(0) Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 19 / 21
3. Bewertung von Gewinnen und Verlusten 3.3 Beispiele für Wertfunktionen Eine einfache Klasse von Wertfunktionen ist durch zwei Parameter α und λ beschrieben: x α für x > 0 u(x) = 0 für x = 0, λ( x) α für x < 0 Frage: Welche Parameterrestriktionen sichern, dass die Annahmen erfüllt sind? Antwort: Notwendig und hinreichend sind die Annahmen 0 < α 1 und λ > 1. Beachte: Wertfunktionen dieser Art sind in x = 0 nicht differenzierbar. Dies hat eine ökonomische Interpretation: Differenzierbarkeit an der Stelle x = 0 würde lokale Risikoneutralität implizieren. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 20 / 21
3. Bewertung von Gewinnen und Verlusten 3.3 Beispiele für Wertfunktionen Abbildung: Die rot dargestellte Funktion ist die Wertfunktion mit den Parametern α = 0.8 und λ = 2. Zum Vergleich ist die Wertfunktion u(x) = x pink eingezeichnet. Tversky und Kahnemann haben eine solche Wertfunktion mit α 0.88 und λ 2.25 als einfaches Modell vorgeschlagen. Entscheidung VL 6 (FS 11) Alternativen zur Erwartungsnutzentheorie 21 / 21