3 Lineare DGlen mit konstanten Koeffizienten In diesem wichtigen Fall linearer DGlen, dem wir ein eigenes Kapitel widmen wollen, sind die Koeffizientenfunktionen a k (t) a k Konstanten, n 1 x (n) (t)+ a k x (k) (t) = b(t). (200) [Wir wollen hier die unabhängige Variable mit t (statt mit x) und die abhängige Variable mit x (statt mit y) bezeichnen.] Obwohl die Variable t, alle Koeffizienten a k sowie die Funktion b(t) reelle Größen sind, können wir für die Lösungsfunktion x(t) eine komplexwertige Funktion z(t) einsetzen, z(t) = x(t)+ iy(t), (201) mit zwei reellen Funktionen x(t) und y(t). Die Ableitung von z(t) ist definiert durch [x(t+ t)+ iy(t+ t)] [x(t)+ iy(t)] ż(t) := lim = ẋ(t)+ iẏ(t), (202) t 0 t mit den Ableitungen ẋ(t) und ẏ(t) von x(t) und y(t). ż(t) ist also ihrerseits eine komplexwertige Funktion der reellen Variable t. Entsprechend ergeben sich die höheren Ableitungen zu z (k) (t) = x (k) (t)+ iy (k) (t) (k = 0,1,2,...). (203) Die Vorteile eines solchen komplexen Ansatzes werden schnell klar werden. 3.1 Homogene Gleichungen Im homogenen Fall b(t) 0 liefert der komplexe Ansatz die DGl n 1 z (n) (t)+ a k z (k) (t) [ x (n) (t)+ iy (n) (t) ] n 1 [ + a k x (k) (t)+ iy (k) (t) ] = 0. (204) Wegen a k R ergibt Trennung von Real- und Imaginärteil die Gleichung [ n 1 x (n) (t)+ ] [ n 1 a k x (k) (t) + i y (n) (t)+ ] a k y (k) (t) = 0. (205) Da die Terme in eckigen Klammern reell sind, müssen sie beide einzeln verschwinden. Der komplexe Ansatz liefert also zwei reelle Lösungen x(t) und y(t) der homogenen DGl. 36
3.1.1 Einführendes Beispiel Für die DGl ẍ(t) 6ẋ(t)+34x(t) = 0. (206) machen wir den komplexen Ansatz (mit µ = λ+ iω und λ,ω R, s. Anhang A.5) ] { x(t) = e z(t) = e µt e [cos(ωt)+ λt i sin(ωt) λt cos(ωt), y(t) = e λt sin(ωt). (207) Wie man leicht nachrechnet, gilt für die Ableitung [ ] ż(t) ẋ(t)+ iẏ(t) =... = (λ+ iω) x(t)+ iy(t) µz(t). (208) Es gilt also allgemein die aus dem Reellen bekannte Ableitungsregel d dt eµt = µe µt dk dt keµt = µ k e µt. (209) Einsetzen in die DGl führt wegen e µt 0 auf eine algebraische Gleichung für µ Mit deren beiden Lösungen (µ 2 6µ+34)e µt = 0 µ 2 6µ+34 = 0. (210) µ 1,2 = 6± 36 136 2 erhalten wir zwei verschiedene komplexe Lösungen der DGl, z 1 (t) = e µ 1t = e 3t[ cos(5t)+ i sin(5t) ], = 3±5i = λ+ iω 1,2 (211) z 2 (t) = e µ 1t = e 3t[ cos( 5t)+ i sin( 5t) ] e 3t[ cos(5t) i sin(5t) ], (212) also drei verschiedene reelle Lösungen, x 1 (t) = e 3t cos(5t), x 2 (t) = e 3t sin(5t), x 3 (t) = e 3t sin(5t). (213) Wie es sein muß, können maximal zwei davon linear unabhängig sein, etwa {x 1 (t),x 2 (t)}. Daher ist die allgemeine reelle Lösung gegeben durch x(t) = c 1 x 1 (t)+c 2 x 2 (t) e 3t[ c 1 cos(5t)+c 2 sin(5t) ] (c 1,c 2 R). (214) 37
3.1.2 Der allgemeine Fall Dieses Beispiel läßt sich leicht verallgemeinern: Der komplexe Ansatz z(t) = e µt (µ = λ+ iω; λ,ω R) (215) führt durch Einsetzen in die homogene DGl n-ter Ordnung auf die algebraische Gleichung µ n +a n 1 µ n 1 +...+a 1 µ+a 0 = 0 (216) für die Unbekannte µ. Nach dem Fundamentalsatz der Algebra hat diese Gleichung n (nicht notwendigerweise verschiedene) Lösungen µ k = λ k + iω k (λ k,ω k R; k = 1,...,n). (217) Durch Lösen einer algebraischen Gleichung finden wir also n (nicht notwendigerweise verschiedene) komplexe Lösungen z k (t) = e µ kt = u k (t)+ iv k (t) (k = 1,...,n), (218) und damit 2n (nicht notwendigerweise verschiedene) reelle Lösungen der homogenen DGl, u k (t) = e λ kt cos(ω k t), v k (t) = e λ kt sin(ω k t) (k = 1,...,n). (219) Bilden n dieser 2n reellen Lösungen einen linear unabhängigen Satz {x 1 (t),...,x n (t)}, so ist die allgemeine Lösung der DGl gegeben durch x(t) = c 1 x 1 (t)+...+c n x n (t) (c 1,..,c n R). (220) Bsp. 1: In der DGl z(t) 7 z(t)+41ż(t) 87z(t) = 0 (221) führt der Ansatz z(t) = e µt auf eine algebraische Gleichung dritten Grades, µ 3 7µ 2 +41µ 87 = 0 µ 1 = 3, µ 2,3 = 2±5i, (222) und damit auf drei linear unabhängige komplexe Lösungen, ] z 1 (t) = e 3t, z 2,3 (t) = e [cos(5t)± 2t i sin(5t). (223) Aus deren Real- und Imaginärteilen erhalten wir drei linear unabhängige reelle Lösungen, x 1 (t) = e 3t, x 2 (t) = e 2t cos(5t), x 3 (t) = e 2t sin(5t). (224) Nicht immer liefert der genannte Ansatz n linear unabhängige reelle Lösungen: 38
Bsp. 2: In der DGl führt der Ansatz z(t) = e µt auf die algebraische Gleichung z(t) 4ż(t)+4z(t) = 0 (225) µ 2 4µ+4 (µ 2) 2 = 0 µ 1 = µ 2 = 2 (226) und liefert somit nur eine komplexe Lösung, die außerdem nur reell ist, z 1 (t) = e 2t = x 1 (t). (227) Es muß also eine zweite reelle Lösung geben, die nicht von der Form e λt ist. Durch Raten findet man und die allgemeine reelle Lösung ist x 2 (t) = te 2t, (228) x(t) = c 1 x 1 (t)+c 2 x 2 (t) = (c 1 +c 2 t)e 2t (c 1,c 2 R). (229) 3.1.3 Der gedämpfte harmonische Oszillator Wir betrachten die DGl (SKIZZE) mẍ(t)+γẋ(t)+kx(t) = 0, (230) mit der Zeit t und den dimensionsbehafteten Koeffizienten m = 0.5 kg, γ = 0.1 kg s 1, k = 0.25 kg s 2. (231) Entsprechend haben jetzt x, ẋ und ẍ die Dimensionen m, m s 1 bzw. m s 2. Der Ansatz z(t) = z 0 e µt führt auf die Gleichung mµ 2 +γµ+k = 0, mit den Lösungen µ 1,2 = γ ± γ 2 4km 2m = γ ( γ ) 2 2m ± k 2m m = λ± iω { λ = 0.1s 1, ω = 0.7s 1. (232) Real-undImaginärteilderkomplexenLösungenz(t) = z 0 e µ 1,2t sindjeweilsreellelösungen. Als allgemeine reelle Lösung wählen wir (mit a,b R bzw. A,φ R) x(t) = [ acos(ωt)+bsin(ωt) ] e λt = Acos(ωt φ)e λt. (233) Dies ist eine gedämpfte, exponentiell abklingende Schwingung. In der folgenden Abbildung ist φ = 0 und ω = 7λ. 39
x(t) A Acos(ωt)e λt (ω = 7λ) π ωt Für beliebige Werte der Koeffizienten m, γ und k sind drei Fälle zu unterscheiden: 1. Fall: γ 2 < 4km (Schwingfall), mit der allgemeinen reellen Lösung x(t) = [ acos(ωt)+bsin(ωt) ] e λt = Acos(ωt φ)e λt (A,φ R). (234) Abklingkonstante λ und (Kreis-) Frequenz ω sind gegeben durch λ = γ 2m, ω = k ( γ ) 2. m (235) 2m 2. Fall: γ 2 = 4km (aperiodischer Grenzfall, ω = 0), mit x(t) = [ a+bt ] e λt (a,b R) (236) und der Abklingkonstante λ = γ 2m. (237) 3. Fall: γ 2 > 4km (Kriechfall), mit x(t) = ae λ 1t +be λ 2t (a,b R) (238) und den beiden verschiedenen Abklingkonstanten λ 1 = γ 2m ± ( γ ) 2 k 2m m. (239) Bem.: Die Werte der beiden frei wählbaren Parameter a und b (bzw. A und φ) werden in der Regel durch Anfangsbedingungen festgelegt, mit vorgegebenen Werten x 0 und v 0. x(0) = x 0, ẋ(0) = v 0, (240) 40
3.2 Inhomogene Gleichungen Um die allgemeine Lösung der inhomogenen DGl n 1 x (n) (t)+ a k x (k) (t) = b(t) (241) zu bestimmen, genügt es, eine einzige Lösung zu finden. Alle übrigen ergeben sich dann durch Addition der aus Abschnitt 3.1 bekannten allgemeinen Lösung der zugehörigen homogenen DGl mit b(t) = 0. Wir beschränken uns auf eine Inhomogenität der Form b(t) = F cos(ωt) (F,Ω R), (242) deren reelle Amplitude F und Frequenz Ω beliebig vorgegeben sind. 3.2.1 Der angetriebene Oszillator Eine physikalische DGl dieser Art ist die BGl des gedämpften harmonischen Oszillators mit periodischer äußerer Antriebskraft F cos(ω t), mẍ(t)+γẋ(t)+kx(t) = F cos(ωt) (F,Ω R, F > 0). (243) Um einen solchen Antrieb zu realisieren, stellen wir uns vor, die schwingende Punktmasse m trage eine elektrische Ladung q und werde einem elektrischen Wechselfeld in Schwingungsrichtung ausgesetzt. E(t) = E 0 cos(ωt) (E 0 = F/q) (244) Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der beliebig vorgebbaren ( äußeren ) Frequenz Ω des Antriebs und der ( inneren ) Frequenz ω, auch Eigenfrequenz genannt, mit der der Oszillator ohne äußeren Antrieb gemäß Abschnitt 3.1 schwingen würde. Jede reelle Lösung x(t) der reellen DGl (243) ist der Realteil einer komplexen Lösung w(t) = x(t)+ iy(t) der modifizierten komplexen DGl mẅ(t)+γẇ(t)+kw(t) = Fe iωt [ ] [ ] mẍ(t)+γẋ(t)+kx(t) + i mÿ(t)+γẏ(t)+ky(t) = F cos(ωt)+ if sin(ωt). (245) [ Den Imaginärteil y(t) von w(t) verwerfen wir, denn er ist eine reelle Lösung von mÿ(t)+γẏ(t)+ky(t) = F sin(ωt).] (246) 41
3.2.2 Komplexe Amplitude Wir machen nun für die komplexe DGl (mit Ω R) den komplexen Lösungsansatz w(t) = Ce iωt (C C), (247) mit der vorgegebenen Antriebsfrequenz Ω. Gesucht ist jetzt nicht die Frequenz, sondern die komplexe Amplitude C (die sich bei einer homogenen DGl herauskürzen würde), C = A+ ib = C e iφ w(t) = C e i(ωt Φ). (248) Die physikalische Lösung, also der Realteil von w(t), x(t) = Rew(t) = C cos(ωt Φ), (249) beschreibt eine Schwingung mit Amplitude C > 0, die dem Antrieb um die Phase Φ hinterherhinkt. Wir wollen die Größen C und Φ als Funktionen der Antriebsfrequenz Ω bestimmen. Mit dem Ansatz w(t) = Ce iωt ergibt sich nach Division durch e iωt [ mω 2 + iγω +k ] C = F. (250) (C kürzt sich nicht heraus!) Die gesuchte komplexe Amplitude ist also gegeben durch C = F (k mω 2 )+ iγω F a+ ib = F(a ib) a 2 +b 2 = C e iφ. (251) Für die reelle Amplitude C und die Phase Φ der erzwungenen Schwingung folgt C = F a2 +b 2 = tanφ tan( Φ) = b a = b a = F (252) (k mω2 ) 2 +(γω) 2, γω k mω2. (253) 3.2.3 Resonanz Um das universelle Verhalten dieser Größen als Funktionen der Antriebsfrequenz Ω zu diskutieren, schreiben wir k Ω =: m ξ, γ =: kmγ, (254) mit dimensionsloser Frequenzvariable ξ und dimensionslosem Dämpfungsparameter Γ, C(ξ) = F k 1 (1 ξ2 ) 2 +(Γξ) 2, 42 Γξ tanφ(ξ) = 1 ξ2. (255)
Im statischen Fall ξ = 0 ergibt sich statt einer Schwingung die konstante Auslenkung C(0) = F k. (256) Im ungedämpften Fall Γ = 0 haben wir C(ξ) = F k 1 1 ξ 2. (257) Jetzt ergibt sich also bei der Eigenfrequenz ξ = 1 (Ω = k/m) eine Resonanzkatastrophe, Γ = 0 : lim C(ξ) =. (258) ξ 1 In der Praxis wird diese Katastrophe durch eine endliche Dämpfung Γ > 0 verhindert. Das Resonanzmaximum ξ Res liegt dann etwas unterhalb der Eigenfrequenz ξ 0, ξ Res = 1 Γ2 2 < 1 Γ2 4 = ξ 0 (Γ 2). (259) (Für Γ = 2 und Γ > 2 liegt das Maximum der Funktion C(ξ) bei ξ Res = 0). Außerdem wächst bei endlichem Γ > 0 die nachhinkende Phase Φ, ( Γξ ) Φ(ξ) = arctan +πθ(ξ 1), Θ(x) = 1 ξ 2 { 0 (x 0), 1 (x > 0) (260) von Φ = 0 bei ξ = 0 stetig nach Φ = π bei ξ = 1 (wobei das Argument des arctan 2 divergiert und sein Vorzeichen wechselt), und dann stetig weiter nach Φ = π bei ξ. Dieses Verhalten geht im ungedämpften Grenzfall Γ 0 in eine Stufenfunktion über, Γ = 0 : Φ(ξ) = πθ(ξ 1) = { 0 (ξ < 1), π (ξ > 1). (261) 43
C(ξ) Γ = 0.1 Γ = 0.5 Γ = 1.0 Γ = 2.0 ξ tan Φ(ξ) ξ Φ(ξ) ξ 44