Molekulare Thermodynamik und Kinetik Teil 1 Chemische Reaktionskinetik

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1 Molekulare Thermodynamik und Kinetik Teil 1 Chemische Reaktionskinetik Kapitel 1 5 nach einer Vorlesung von Martin Quack 2008 Prof. Martin Quack ETH Zürich Laboratorium für Physikalische Chemie Wolfgang-Pauli-Strasse 10 CH-8093 Zürich Martin@Quack.ch Abgabe nur zum persönlichen Gebrauch der Studierenden für Lehrzwecke

2 Inhalt 1 Phänomenologische Kinetik Zeitskalen Die stöchiometrische Gleichung Thermodynamik und Kinetik Die Reaktionsgeschwindigkeit Einführung Messung und Definition von Reaktionsgeschwindigkeiten Beispiele Zerfall von Chlorethan Belousov-Zhabotinsky-Reaktion: Oszillierende Reaktionen Reaktionsordnung Elementarreaktionen Elementarreaktion, Molekularität und Reaktionsordnung Unimolekulare Reaktionen Unimolekulare Reaktion mit Rückreaktion Bimolekulare Reaktionen A+A Produkte A + B Produkte Bimolekulare Reaktion von scheinbar erster Ordnung: A + B Produkte Bimolekulare Reaktion mit Rückreaktion Rekombinations-Dissoziationskinetik Bimolekulare Hin- und Rückreaktion Trimolekulare Reaktionen Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit trimolekularer Reaktionen

3 ii Inhalt Universelles Beispiel für trimolekulare Reaktionen: Atomrekombination Zeitgesetz für die Atomrekombinationen Zeitgesetz für die Atomrekombination Komplexmechanismus der Rekombination Problematik und Unsicherheit bei trimolekularen Reaktionen Reaktionen höherer Molekularität Vergleichende Übersicht Zusammengesetzte Reaktionen und Elementarreaktionen Reaktion 0. Ordnung Zeitbereich verschiedener Geschwindigkeitsgesetze Prinzipielle Fragen zum Begriff der Molekularität und das Beispiel des bimolekularen radioaktiven Zerfalls Praktische Formulierung von Geschwindigkeitsgesetzen für Elementarreaktionen Zur Nomenklatur der Differentialgleichungen der Reaktionskinetik Berücksichtigung der endlichen Teilchenzahl in der Kinetik ( Stochastische Kinetik ) Abschließende Bemerkungen und Ausblick Experimentelle Methoden Zeit, Temperatur und Konzentration Zeitmessung Temperaturmessung Konzentrationsmessungen Beispiel einer absorptionsspektroskopischen Untersuchung in der Reaktionskinetik Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes Integrationsmethode Zur Verwerfung von Beobachtungsergebnissen Halbwertszeitmethode Isolationsmethode Methode der Anfangsgeschwindigkeiten Differenzenquotient statt Differentialquotient Einfache Verfahren: Abschließende Bemerkungen und Ausblick auf fortgeschrittene Verfahren Strömungssysteme Rührkesselreaktor

4 Inhalt iii Strömungsrohr Angehaltene Strömung, stopped flow Relaxationsmethoden Temperatursprung-Methode Feldsprungmethode Drucksprung-Methode Schallabsorption und periodische Relaxation Stoßwellentechnik Blitzlichtphotolyse und Pulsradiolyse Blitzlampenmethode Pulsradiolyse Laserblitzlichtphotolyse Laserprinzip und Erzeugung von kurzen Pulsen durch Modenkopplung mit sättigbaren Absorbern Meßprinzip der Laserblitzlichtphotolyse Meßprinzip mit kontinuierlicher Detektion und hoher, unbestimmheitsbegrenzter Zeit- und Frequenzauflösung Vielphotonenanregung Mechanismen der Vielphotonenanregung Infrarotvielphotonenanregung und -laserchemie Mehrphotonenionisation Laserisotopentrennung und modenselektive Reaktionen Konkurrenz-Methoden Fluoreszenzumwandlung (nach Weller und Förster) Konkurrenzreaktionen bei Radikalen Chemische Aktivierung und Konkurrenz-Methoden Linienform-Methoden Linienbreite und exponentieller Zerfall Andere Ursachen der Linienverbreiterung Magnetische Resonanz und chemischer Austausch Anmerkung zu den Linienformmethoden Molekülstrahlkinetik Absorptionsexperiment, Streukammer und Wirkungsquerschnitt σ Spezifische bimolekulare Geschwindigkeitskonstante Aufteilung in reaktive und nicht reaktive Stöße (einfachstes Experiment) Potentialfunktionen und Energieabhängigkeit des Wirkungsquerschnittes

5 iv Inhalt Winkelabhängigkeit und molekularer Mechanismus Quantenkinetik und Spektroskopie Intramolekulare kinetische Prozesse Molekülspektren und Moleküldynamik Zweizustandsdynamik: Tunnelprozesse in der Wasserstoffbrückendynamik und bei der Stereomutation chiraler Moleküle Intramolekulare Schwingungsenergieumverteilung in HCR 1 R 2 R Zur Funktionsweise von Atom- und Moleküluhren Zeitskalen der spektroskopisch-kinetischen Messungen Theorie der Elementarreaktionen Boltzmann-Verteilung Quasikontinuierliche Verteilung Arrheniusgleichung und Stoßtheorie Stoßhäufigkeit Einfache Modelle für den Reaktionsquerschnitt Arrheniusgleichung Temperaturabhängige Arrheniusparameter Differentielle Form der Arrheniusgleichung Beispiel für ein realistisches Modell des Reaktionsquerschnittes bimolekularer Reaktionen Analogie zur van t Hoff-Gleichung Andere Gleichungen für die Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten Die Theorie des Übergangszustandes Die physikalische Grundidee der Theorie des Übergangszustandes: Eine Analogie zur Effusion oder Ausströmung aus einem Behälter Reaktionskoordinaten, Flaschenhälse, Sattelpunkte und Energiebarrieren auf molekularen Potentialhyperflächen Faktorisierung molekularer Zustandssummen Statistisch thermodynamische Formulierung der Theorie des Übergangszustandes Theorie des Übergangszustandes und Stoßtheorie 222 bimolekularer Reaktionen Verallgemeinerte Theorien des Übergangszustandes Thermodynamische Schreibweise

6 Inhalt v Interpretation von Arrheniuskonstanten von Elementarreaktionen mit Hilfe der Theorie des Übergangszustandes Allgemeine Theorie chemischer Elementarreaktionen: Überblick Thermodynamische Randbedingungen Detailliertes Gleichgewicht für Elementarreaktionen in idealen Gasen Zusammengesetzte Reaktionen Reaktionen in realen Gasen und Lösungen Kinetik geladener Teilchen Brönstedgleichung Zum Debye Hückel Gesetz für Aktivitätskoeffizienten Zusammengesetzte Reaktionen, Mechanismen Verallgemeinerte Kinetik erster Ordnung Allgemeine Behandlung und Matrixschreibweise Sonderfall des geschlossenen Reaktionssystems Beispiele Lindemann Mechanismus Vollständige Lösung Quasistationarität (I), mathematisch saubere Herleitung Quasistationarität (II), vereinfachte Herleitung nach Bodenstein-Chapman Druckabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten unimolekularer Reaktionen Temperaturabhängigkeit der unimolekularen Geschwindigkeitskonstanten Zur Geschichte des Lindemann Mechanismus Relaxationskinetik Zusammengesetzte Reaktionen höherer Ordnung Nukleophile Substitutionsreaktionen (S N -Mechanismus) Nukleophile Substitution (S N 1), Dissoziations- Assoziationsmechanismus: Quasistationarität Schnelles Vorgleichgewicht Nukleophile bimolekulare Substitution (S N 2) Assoziations-Substitutionsmechanismus (S N 2) Elektrophile Substitution (E 2 ) S N i Mechanismus

7 vi Inhalt Harnstoffsynthese Kettenreaktionen HBr-Bildung aus den Elementen Rice-Herzfeld-Mechanismus für den Acetaldehydzerfall Alkanpyrolyse, einfach und kompliziert, ein Vergleich Kettenverzweigung, Explosion, Deflagration und Detonation Stabilitätsanalyse Beispiel: H 2 /O 2 -System (Knallgasreaktion) Explosion, Deflagration, Detonation Vorgehen zur Beschreibung zusammengesetzter Reaktionen.. 292

8 1 Einführung: Phänomenologische Kinetik Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung. Jacob Burckhardt In der phänomenologischen Kinetik beschreibt man den Ablauf chemischer Reaktionen durch die Zeitabhängigkeit globaler chemischer Parameter wie Konzentration, Druck, Temperatur oder Entropie. Es werden hierfür zwar auch geeignete Differentialgleichungen und ihre zeitabhängigen Lösungen angegeben, eine grundlegende, molekulare Begründung für diese Gleichungen wird jedoch zunächst nicht angestrebt. Ziel dieses Kapitels ist eine Einführung und ein kurzer Überblick über die Grundlagen der phänomenologischen Kinetik. 1.1 Zeitskalen Chemische Prozesse finden auf fast allen Zeitskalen in unserem Universum statt. Die folgende Übersicht gibt einige Beispiele. Die schnellsten Prozesse für Zeiten unterhalb von Attosekunden (10 18 s) werden in der Regel der Physik und besonders der Hochenergiephysik und schließlich der Urknallalchimie zugeordnet.

9 2 1 Phänomenologische Kinetik t/s (Es) Alter des Universums a ( s) Sonnensystem a Evolution des Lebens (Ps) langsamer radioaktiver Zerfall natürlicher Isotope Entstehung des Menschen langsame chemische Reaktio (Ts) nen; L-D Asparaginsäurerazemisierung τ = s 10 9 (Gs) τ Mensch s eine Menschengeneration ca s ( 32 a) s 1 a (annus, Jahr) 10 6 (Ms) s = 1 d (dies, Tag) langsame DNS-Synthese (Mitose) Zellzyklus s = 1 h (hora, Stunde) 10 3 (ks) Generationsdauer von Bakterien Minuten (37 0 C) Halbwertszeit des 1 Minute (1 min) = 60 s Neutrons (10 min) 10 0 (s) Herzschlagperiode Paritätsverletzende Prozesse Zeitauflösung des in vielatomigen Molekülen menschlichen Auges spontane Infrarotemission 10 3 (ms) Zeitauflösung des von Schwingungsübermenschlichen Gehörs gängen

10 1.1 Zeitskalen (µs) schnellste enzymkatalysierte Reaktionen s ist die typische Lebensdauer elek (ns) Periode des Hyperfein- tronisch angeregter Atome überganges in 133 Cs und Moleküle (Zeitstandard) Licht braucht für 1 mm Bruch von H-Brückenbindungen (ps) s = schnelle intramolekulare (1s/ ) Schwingungsenergieumverteilung (Definition des Meters) Periode hochfrequenter Molekülschwingungen kurze Laserpulse (fs) (ca. 10 fs, sichtbares Licht) atomare Zeiteinheit t ae = h/(2πe h ) schnellste chemische t ae = s Prozesse (e -Transfer) (as) Heutige Grenze der zeitaufgelösten Meßtechnik ( Attosekundenmikroskop ) (zs) Licht oder Neutrinos brauchen schnellste Kernreaktionen für die Durchquerung eines Neutrondurchmessers ca s (ys) Lebensdauer des Z-Teilchens (Feldteilchen der schwachen Wechselwirkung) t P = Ghc 5 /(2π) τ Z s = 0.26 ys t P = s Diese kurzen Zeiten entsprechen Planck-Zeit, gilt als kürzeste so hohen Energien, daß die bis Elementarzeit im Urknall bei heute bekannten physikalischen der Entstehung des Universums Gesetze nicht in der Lage sind, solche Kurzzeitphänomene zu beschreiben

11 4 1 Phänomenologische Kinetik In dieser Übersicht sind Zeitschritte von jeweils drei Zehnerpotenzen (mit den Abkürzungen für die jeweiligen Zeiteinheiten in Klammern) mit Grössenordnungen für allgemeine Prozesse und Zeiten (Mitte) und physikalischchemische Primärprozesse (rechts) wiedergegeben. Wir werden im Laufe dieser Vorlesung auf diese Prozesse an verschiedenen Stellen im Detail eingehen. Der Zeitrahmen wird durch das ungefähre Alter des uns bekannten Universums (ca. 15 Milliarden Jahre) und die kürzeste diskutierte Elementarzeit im Urknall (Planck-Zeit) abgesteckt. Für den Chemiker wichtige Prozesse finden auf allen Zeitskalen bis äußerstenfalls etwa s (Yoctosekunden) statt. Für die Planck-Zeit gibt es zwei Definitionen, die sich um den Faktor 2π unterscheiden (Verwendung der Konstanten h oder h/(2π)). Der Überblick über die Größenordnungen läßt sich noch veranschaulichen, wenn wir ihn in Schritte von jeweils 10 9 einteilen. Im mittleren Lebensalter hat ein Mensch etwa eine Milliarde (10 9 ) Sekunden hinter sich gebracht, also ungefähr eine Milliarde Herzschläge erlebt. Dies ist unserer Erfahrung intuitiv gut zugänglich. Setzen wir etwa eine Milliarde Menschenleben in einer Reihe hintereinander, so erreichen wir etwa das Alter des Universums. Auf der anderen Seite sind in einer Sekunde gerade eine Milliarde Nanosekunden also in etwa 10 9 typische Lebensdauern elektronisch angeregter Atome enthalten. Schließlich passen in eine Nanosekunde gerade wieder etwa eine Milliarde elektronische Umlaufzeiten oder Perioden für die inneren Schalen in einem typischen leichten Atom, was den schnellsten typischerweise noch als chemisch betrachteten Prozessen entspricht. Prinzipiell stellt sich hier auch schon die Frage nach dem grundlegenden Parameter der Kinetik: Was ist Zeit? Wir wollen uns hier zunächst mit Einsteins Antwort auf diese Frage begnügen: Zeit ist das, was man auf der Uhr abliest! Diese Antwort ist durchaus ernst zu nehmen und wir kommen in Kapitel 3 auf diese Frage zurück. 1.2 Die stöchiometrische Gleichung Zur quantitativen Beschreibung chemischer Reaktionen verwenden wir die stöchiometrische Gleichung (1.1). 0 = i ν i B i (1.1) oder konventionell geschrieben ν 1 B 1 ν 2 B 2... = ν m B m + ν m+1 B m (1.2)

12 1.2 Die stöchiometrische Gleichung 5 ν i ist ein stöchiometrischer Koeffizient und B i ist ein chemischer Stoff. Die Vorzeichen der Koeffizienten der stöchiometrischen Gleichung sind zwar prinzipiell willkürlich, es gibt aber im Zusammenhang mit Gl. (1.1) folgende Konvention: ν i < 0 für Reaktanden (1.3) ν i > 0 für Produkte (1.4) In Gleichung (1.2) schreibt man konventionell auf die linke Gleichungsseite die Reaktanden und auf die rechte Seite die Produkte. ( ν 1, ), ( ν 2 ) sind dann positive Zahlen, ebenso wie ν m, ν m+1, etc. Man kann auch schreiben: Beispiele: oder oder auch ν 1 B 1 + ν 2 B = ν m B m + ν m+1 B m (1.5) F + CHF 3 = HF + CF 3 (1.6) 0 = HF + CF 3 F CHF 3 (1.7a) HF CF 3 + F + CHF 3 = 0 (1.7b) 2CH 3 = C 2 H 6 (1.8) Die stöchiometrische Gleichung ist eine symbolische, keine algebraische Gleichung. Man kann die stöchiometrische Gleichung chemischer Reaktionen als Erhaltungsgleichung für Atomkerne und Elektronen auffassen (das gilt aber nicht für Kernreaktionen). Anmerkungen : (i) Hier wird die schlechte, neuere Wortbildung Edukt vermieden. Edukt von lateinisch educere bedeutet im wesentlichen dasselbe wie Produkt von producere, nämlich das, was aus der Reaktion herausgeführt wird. Auch gibt es keine analogen Wortbildungen in anderen Sprachen (Englisch: Reactant). (ii) In einem tatsächlichen Reaktionsverlauf braucht es nicht immer eine einfache Stöchiometrie zu geben.

13 6 1 Phänomenologische Kinetik 1.3 Unterschiede und Beziehungen zwischen der Thermodynamik und der Kinetik Die Thermodynamik beschreibt Gleichgewichtseigenschaften, insbesondere die chemische Zusammensetzung eines Systems im Gleichgewicht, unabhängig von der Zeit, nach der sich das Gleichgewicht einstellt. Die Zeit kommt nicht als Parameter vor. Die Gleichgewichtskonstanten der Thermodynamik sind definiert durch Gleichungen (1.9) und (1.10), mit dem Standarddruck p K p = i (p i /p ) ν i (ideales Gas) (1.9) Allgemeiner führt man die Aktivitäten a i ein und erhält damit den allgemeinen Ausdruck für die Gleichgewichtskonstanten K a K a = i (a i ) ν i (allgemein) (1.10) Die Kinetik untersucht, auf welchem Weg ein System in sein Gleichgewicht findet und wie schnell es dies tut. Zentrale Untersuchungsobjekte der Kinetik sind also: 1. der Reaktionsmechanismus - Frage nach dem Reaktionsweg - (qualitativ) 2. die Reaktionsgeschwindigkeit - Frage nach der Reaktionszeit - (quantitativ) Das Wort Kinetik stammt aus dem Griechischen, κιν ǫω, ich bewege, τ o κίνηµα, die Bewegung - Begriffe, die auch in Fremdwörtern des täglichen Lebens auftauchen, wie etwa Kino oder cinéma. Sehr allgemein beschäftigt sich die Kinetik mit zeitabhängigen Prozessen. Man unterscheidet hier gelegentlich noch die physikalische Kinetik für Prozesse ohne chemische Reaktionen und die chemische Reaktionskinetik, mit der wir uns hier hauptsächlich befassen wollen. Eine scharfe Trennung ist jedoch nicht möglich.

14 1.4 Die Reaktionsgeschwindigkeit Die Reaktionsgeschwindigkeit Einführung Wir betrachten in Bild 1.1 als Beispiel die Beobachtung einer zeitabhängigen Größe, der Lichtintensität I t (ν) mittels eines Spektrometers: Die Meßgröße ist: ( ) It (ν) t I 0,ν=const (1.11) Unter geeigneten Voraussetzungen kann man von dieser Messung auf zeitabhängige Konzentrationen c(t) schließen. Andere Methoden führen zu anderen Meßgrößen: Gaschromatograph und Massenspektrometer bestimmen zeitabhängige Stoffmengen n i (t) oder ( n i / t), Thermometer bestimmen zeitabhängige Temperaturen T(t) oder ( T/ t) und Manometer bestimmen zeitabhängige Drücke p(t) oder ( p/ t) V =const. Lichtquelle I 0 ( ν) = const Monochromator A + B C + D I t ( ν) = f( t) c( t) Bild 1.1 Spektroskopische Messung einer zeitabhängigen Intensität I t (ν), aus der Konzentrationen c(t) bestimmt werden. Detektor

15 8 1 Phänomenologische Kinetik Messung und Definition von Reaktionsgeschwindigkeiten Es sind viele Messungen denkbar, die als Resultat eine Reaktionsgeschwindigkeit liefern. Je nach Wahl der Methode oder Meßgröße erhält man eine andere Definition dieser Reaktionsgeschwindigkeit (Tab. 1.1). Wir können die folgenden Fälle unterscheiden: (i) Die Beschränkung auf bestimmte, globale Zustandsfunktionen führt zu einer Kinetik im sehr allgemeinen Sinn: Für ein abgeschlossenes System (U, V konstant, weder Energie- noch Materialaustausch mit der Umgebung) können wir eine Wandlungsgeschwindigkeit definieren ( ) S v S (t) = 0 (1.12) t Der Name lehnt sich an das ursprünglich deutsche Wort Verwandlungsinhalt für die Entropie S an. 1 Für ein System mit konstanter Temperatur (Thermostat) und konstantem Volumen (und als maßgebliche Funktion die Helmholtzenergie A = U TS) definieren wir ( ) A v A (t) = 0 (1.13) t T,V Das Gleichheitszeichen gilt im Gleichgewichtszustand. Diese Beschreibung ist in der Kinetik nicht gebräuchlich, kann aber sinnvoll sein für gewisse, sehr allgemeine kinetische Phänomene. Sie wird auch in der sogenannten Thermodynamik irreversibler Prozesse verwendet. (ii) Die Beschränkung auf Reaktionen mit fester Stöchiometrie führt zur Reaktionskinetik im engeren Sinn. Die stöchiometrische Gleichung (1.1) erlaubt uns, eine Reaktionslaufzahl ξ, (sprich xi, griechisches, kleines x) zu definieren U,V dξ = ν 1 i dn i (1.14) n i = n i0 + ν i ξ (1.15) ξ = n i n i0 ν i (1.16) n i bezeichnet die Stoffmenge des Stoffes i (Angabe in mol, n i0 = Anfangsstoffmenge), N A dn i = N A ν i dξ ist die Änderung der Zahl der Moleküle i, wenn die Reaktion um dξ fortschreitet. Nach dieser Definition hat man dasselbe dξ, 1 Das Wort Entropie wurde als griechischer terminus technicus (ǫν-τρoπη) nach dem deutschen Wort Verwandlungsinhalt von R. Clausius in seiner berühmten Zürcher Arbeit 1865 gebildet [Clausius 1865].

16 1.4 Die Reaktionsgeschwindigkeit 9 Randbedingungen extensive Größe intensive Größe Reaktionsgeschwindigkeit U, V = const Entropie S lokale Entropie vs = ds dt 0; auch v = ds V SV dt adiabatisch (Thermodynamik irrever- SV = δs δv sibler Prozesse) 0 Einheit: J K 1 s 1 ;bzw. J K 1 s 1 cm 3 T, V = const Helmholtz-Energie lokale Helmholtz- va = da dt 0; auch v = da V AV dt Energie isotherm A = U TS AV = δa Einheit: J s 1 ; bzw. J s 1 cm 3 δv V = const Menge der Substanz i Konzentration der Substanz i dni dt Einheit: mol s 1 oder isotherm oder Stoffmenge ni ci = ni/v dci dt Einheit: mol cm 3 s 1 adiabatisch Teilchenzahl Ni(= NAni) Ci = Ni/V feste Stöchiometrie 0 = i ν ibi Reaktionslaufzahl ξ dci dt Einheit: cm 3 s 1 dξ dt Einheit: mol s 1 oder dξ = ν 1 i dni δξ δv ξ V 1 V dξi dt = 1 νi dci dt Einheit: mol cm 3 s 1 Zahl Moleküle cm 3 s 1 = cm 3 s 1 Tab. 1.1 Die Reaktionsgeschwindigkeit bei verschiedenen Randbedingungen.

17 10 1 Phänomenologische Kinetik unabhängig davon, welche Art von Molekülen i man im Reaktionsablauf betrachtet. Die konventionelle Definition der Umsatzgeschwindigkeit v ξ ist durch die folgende Gleichung gegeben (Englisch: rate of conversion): v ξ (t) = dξ dt = dn i ν 1 i dt (1.17) n i ist die Stoffmenge des Stoffes i in einem wohldefinierten, geschlossenen System. In diesem System brauchen aber Temperatur, Druck, Konzentration c i etc. nicht notwendigerweise wohldefinierte Größen zu sein. Insbesondere eignet sich die Definition von v ξ auch für heterogene Reaktionen. v ξ ist eine extensive Größe. Sie ist additiv für zwei unabhängige Teilsysteme I, II: v ξ (I + II) = v ξ (I) + v ξ (II) (1.18) (iii) Die Beschränkung auf homogene Reaktionen führt zur Reaktionsgeschwindigkeit im engeren Sinn. In einem Raumbereich mit dem Volumen V seien die Konzentrationen c i definiert: c i = 1 V n i (1.19a) Die konventionelle Definition einer Reaktionsgeschwindigkeit v c ist durch folgende Gleichung gegeben (Englisch: reaction rate oder rate of reaction): v c (t) = 1 V v ξ(t) = 1 ν i dc i dt (1.19b) Diese Definition erweist sich als besonders nützlich in der Kinetik homogener Reaktionen. Die Nomenklatur ist nicht einheitlich. In der älteren Literatur wird oft auch v ξ als Reaktionsgeschwindigkeit bezeichnet. Man soll sich deshalb stets vergewissern, welche Konvention gewählt wurde. Wir werden in der Vorlesung stets v c und v ξ sorgfältig unterscheiden. Unsere Nomenklatur entspricht der seit 1993 von der IUPAC akzeptierten Version (englisch: v ξ = rate of conversion, v c = rate of reaction oder reaction rate). Tabelle 1.1 gibt einen Überblick über Reaktionsgeschwindigkeiten. Völlig analog kann man auch eine Reaktionsgeschwindigkeit v C mit der Teilchenzahldichtekonzentration C i definieren, die sich durch Multiplikation mit der Avogadrokonstante berechnen lassen C i = N A c i (1.19c) v C = 1 ν i dc i dt (1.19d) v c und v C sind intensive Größen und (falls definierbar) für jeden Ort ( Punkt ) des Reaktionssystems definiert.

18 1.5 Beispiele Beispiele Zerfall von Chlorethan Ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung der verschieden definierten Reaktionsgeschwindigkeiten ergibt sich für die homogene Gasreaktion: C 2 H 5 Cl = C 2 H 4 + HCl (1.20) c(t) c 0 S(t) S m c 0 2 [C 2 H 4 ] t = [HCl] t (S m + S 0 ) [C 2 H 5 Cl] t t/s S 0 Bild 1.2 Relative Konzentration und Entropie als Funktion der Zeit für Reaktion (1.20). S m ist der Maximalwert der Entropie und S 0 der Anfangswert. Man findet einen einfachen Verlauf dieser Reaktion bei 800 K in einem Überschuss von N 2 (1 mol). p N2 = 1 atm x C2 H 5 Cl(t = 0) = c 0 = c C2 H 5 Cl(t = 0) = mol cm 3 S = J K 1 V = const, U = const T = K ( isotherm) Die Funktion S(t) in Bild 1.2 und die Ableitung S/ t sind quantitativ, aber nicht qualitativ verschieden von entsprechenden Konzentrationsfunktionen c i (t). Dies ist aber nur bei solch einfachen Reaktionen der Fall (einfache Kinetik). Ein komplizierter zeitlicher Verlauf ist jedoch ebenso möglich, wie das zweite Beispiel zeigt.

19 12 1 Phänomenologische Kinetik Belousov-Zhabotinsky-Reaktion: Oszillierende Reaktionen Es ist keine genaue Stöchiometrie bekannt. Man stellt eine wässerige Lösung folgender Zusammensetzung her: CH 2 (COOH) 2 KBrO 3 KBr Ce(NH 4 ) 2 (NO 3 ) 5 H 2 SO mol dm mol dm mol dm mol dm mol dm 3 [Br ]/M " # $ % log 10 [Ce 4+ ] [Ce 3+ ] log 10 [Br ]! $ ' # t/s log 10 [Ce 4+ ] [Ce 3+ ] Bild 1.3 Konzentrationen in logarithmischer Auftragung als Funktion der Zeit für die Belousov-Zhabotinsky Reaktion (nach [Field et al. 1972]). Bild 1.3 zeigt die Konzentration von [ Br ] und das Konzentrationsverhältnis [ Ce 4+] / [ Ce 3+] in logarithmischer Auftragung als Funktionen der Zeit. Man erkennt das charakteristische oszillierende Verhalten dieser Größen. Dies kann durch einen Farbumschlag der Lösung von blau nach rot und zurück in einem Schauversuch sichtbar gemacht werden. Die Periodizität ist allerdings nur scheinbar. Allgemein kann man den Konzentrationsverlauf einer oszillierenden Reaktion durch gedämpfte Schwingungen charakterisieren, wie in Bild 1.4 gezeigt ist. Die Geschichte oszillierender Reaktionen kann in einem Artikel von Zhabotinsky [Zhabotinsky 1991] nachgelesen werden. Für die Konzentration gilt: dc dt > 0 vorwärts = 0 < 0 rückwärts (1.21)

20 1.5 Beispiele 13 c( t) Bild 1.4 Konzentration als Funktion der Zeit für eine oszillierende Reaktion (schematisch). t Die Vorstellung einer rückwärts laufenden Reaktion ist aber irreführend. Gl. (1.21) ist kein gutes Maß für das Fortschreiten der Reaktion. Aber für die globale Zustandsfunktion Entropie gilt stets: ds dt 0 (U,V = const) (1.22) Im abgeschlossenen System, U, V = const, ist also nur die Richtung vorwärts möglich, offenbar ist dies sinnvoller (Bild 1.5). S( t) S eq t Bild 1.5 Entropie als Funktion der Zeit (schematisch). Für einfache kinetische Systeme haben jedoch die Definitionen von v c und v ξ große Vorteile, wie zum Beispiel die häufig einfache Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationen der beteiligten Stoffe.

21 14 1 Phänomenologische Kinetik 1.6 Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit homogener Reaktionen: Reaktionsordnung Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit spielt in der Reaktionskinetik eine große Rolle. Auf die theoretische Begründung für gewisse einfache Fälle werden wir in Kap. 2 eingehen. Zunächst wollen wir aber nur einige rein empirische Befunde zusammenfassen. Es gilt manchmal 2 in praktisch wichtigen Sonderfällen v c (t) = 1 ν i dc i dt = kcm 1 1 c m 2 2 c m = k i c m i i (1.23) wobei c i für die Konzentrationen der Stoffe i steht. Diese c i müssen nicht unbedingt alle in der stöchiometrischen Gleichung erscheinen. So wird ein Katalysator (oder Inhibitor, siehe Kap. 6) in der Stöchiometrie nicht vorkommen. Trotzdem beeinflußt er die Reaktionsgeschwindigkeit. Der Exponent m i heißt Reaktionsordnung bezüglich des Stoffes B i. Die Reaktionsordnungen sind häufig einfache Zahlen, ganz oder halbganz (allgemein aber beliebig reell). Die Summe über alle m i heißt Reaktionsordnung (total) oder Gesamtordnung der Reaktion (mit m i = 0 erscheint c i nicht explizit in der Gleichung): m i = m ˆ= Reaktionsordnung (1.24) i k nennt man Geschwindigkeitskonstante. Sie ist keine Funktion der Konzentrationen, k f(c i ). k wird normalerweise als zeitunabhängig angenommen, kann aber auch von der Zeit abhängen. Von Parametern wie der Temperatur hängt k in der Regel sehr stark ab. k wird auch Geschwindigkeitskoeffizient genannt. Tabelle 1.2 enthält einige Beispiele für Geschwindigkeitsgesetze vom Typ (1.23). Diese gelten jeweils unter speziellen experimentellen Bedingungen (nicht allgemein!). Die Dimension von k ist allgemein durch die Dimensionsgleichung (1.25) gegeben [k] = [ (cm 3 mol 1 ) m 1 s 1] (1.25) Wählt man als Konzentrationsmaß C i (also v C ), so fällt mol 1 in Gl. (1.25) weg. Eine Reaktionsordnung kann nur bei Gültigkeit des Ansatzes (1.23) definiert werden. Die Differentialgleichung (1.23) ist das Zeitgesetz für die Zeitabhängigkeit der Konzentrationen c i. Sie wird gelegentlich auch als Geschwindigkeitsgesetz (rate law) oder Bewegungsgleichung bezeichnet. 2 d.h. für gewisse Klassen von Reaktionen - allgemein ist es eher die Ausnahme (siehe Kap. 2 und 3).

22 1.6 Reaktionsordnung 15 Es stellen sich hier zwei Fragen: 1. Frage: Was macht man, wenn das einfache Zeitgesetz (1.23) nicht gilt? Das ist eher die Regel als die Ausnahme. In den Kapiteln 2, 4 und 5 wird gezeigt, daß meist ein Zeitgesetz aus mehreren Termen der Struktur (1.23) zusammengesetzt werden kann. Ein einfaches Beispiel ist die Isomerisierung, wenn die Rückreaktion wichtig ist. cis(c 2 H 2 Cl 2 ) = trans(c 2 H 2 Cl 2 ) (1.26) d [cis] dt = k a [cis] k b [trans] (1.27) insgesamt ist dies nicht von der Form (1.23), obwohl es sich offensichtlich aus zwei Summanden dieser Form ergibt. Kompliziertere Fälle werden wir noch kennenlernen. Ein Beispiel ist die Bromwasserstoffbildung aus den Elementen (Kap. 5) mit der stöchiometrischen Gleichung der Bildungsreaktion 1 2 H Br 2 = HBr (1.28) Die Reaktionsgeschwindigkeit wird durch die Differentialgleichung (1.29) gegeben: ( ) 1 d[hbr] = k a [H 2 ][Br 2 ] 1/2 [HBr] 1 + k b (1.29) dt [Br 2 ] Das ist offenbar nicht von der Form der Gl. (1.23). 2. Frage: Warum sind die m i manchmal einfache Zahlen? Das liegt daran, daß manche einfache Mechanismen und insbesondere Elementarreaktionen streng auf solche Geschwindigkeitsgesetze führen (siehe Kapitel 2 und 5). Anmerkungen: Gleichung (1.23) gilt mit konzentrationsunabhängigem k, wenn überhaupt, meist nur in einem Konzentrationsmaß, welches zur Teilchenzahldichte proportional ist. Hierfür verwendet man auch das Symbol [A] c A (chemische Spezies A, Einheiten z.b. mol/m 3, mol/dm 3 oder Moleküle /cm 3, eigentlich Molekülzahl /cm 3 oder einfach cm 3 etc.). Gleichung (1.23) gilt nicht, wenn man als Konzentrationsmaß z.b. kg-molalität oder gar die Stoffmenge n i einsetzt (ausser in Sonderfällen). Man überlege sich das an dem einfachen Beispiel der Reaktion F + CHF 3 in einem großen Überschuß von N 2 bei fester kg-molalität aber zwei Volumina V 1 und V 2 (dementsprechend c A1 und c A2 ).

23 16 1 Phänomenologische Kinetik Reaktion Geschwindigkeitsgesetz Ordnung Dimension von k Isomerisierung: CH3NC = CH3CN d[ch 3NC] = k [CH3NC] 1. Ordnung in CH3NC [k] = [ s 1] dt Überschuß 1. Ordnung total eines Inertgases Atomtransferreaktion F + CHF3 = HF + CF3 d [F] dt = k [F] [CHF3] 1. Ordnung in F [k] = [ cm 3 mol 1 s 1] 1. Ordnung in CHF3 oder 2. Ordnung total [k] = [ cm 3 s 1] Radikalrekombination: 2CH3 = C2H6 1 d [CH3] = k [CH3] 2 2. Ordnung in CH3 [k] = [ cm 3 mol 1 s 1] 2 dt bei Überschuß eines und total oder Inertgases [k] = [ cm 3 s 1] Zerfall: CH3CHO = CH4 + CO d [CH 3CHO] dt = k [CH3CHO] 3/2 Ordnung = 3/2 [k] = [ (cm 3 mol 1 ) 1/2 s 1] für CH3CHO und total Tab. 1.2 Beispiele zu Geschwindigkeitsgesetz, Ordnung und Geschwindigkeitskonstante. Die Dimension und Einheit der Geschwindigkeitskonstante hängt vom verwendeten Kozentrationsmaß ci oder Ci ab.

24 1.6 Reaktionsordnung 17 Reaktion Geschwindigkeitsgesetz Ordnung Dimension von k Oxidation von NO: 2NO + O2 = 2NO2 d [O 2] dt = 1 2 d [NO] dt = k [NO] 2 [O2] 2. Ordnung in NO [k] = [ cm 6 mol 2 s 1] 1. Ordnung in O2 oder [ cm 6 s 1] 3. Ordnung total Ozonzerfall: 2O3 = 3O2 1 2 d [O3] dt = 1 3 d [O2] dt = k [O3] 2 [O2] 1 2. Ordnung in O3 [k] = [ s 1] 1. Ordnung in O2 1. Ordnung total Isotopenaustauschreaktion: H2 + D2 + Ar = 2HD + Ar 1 2 d [HD] dt = k [H2] 0.38 [D2] 0.66 [Ar] 0.98 Die Ordnung ist ] 0.38 in H2 [k] = [(cm 3 mol 1 ) 1.02 s in D2 oder [ (cm 3 ) 1.02 s 1] 0.98 in Ar 2.02 total Tab. 1.2 (Fortsetzung) Beispiele zu Geschwindigkeitsgesetz, Ordnung und Geschwindigkeitskonstante. Die Dimension und Einheit der Geschwindigkeitskonstante hängt vom verwendeten Kozentrationsmaß ci oder Ci ab.

25 18 1 Phänomenologische Kinetik Wenn k konzentrationsunabhängig ist, kann man die Differentialgleichung (1.23) in einfacher Weise integrieren. Das ist nicht möglich, wenn man ein Konzentrationsmaß verwendet, das zu einem konzentrationsabhängigen k führt. Gleichung (1.23) berücksichtigt nur die Konzentrationsänderung durch Reaktion. Hinzu kommen in realen Systemen noch Konzentrationsänderungen durch Transport. Man kann also schreiben (für ein Volumenelement V) ( dci dt ) total = ( dci dt ) Reaktion + ( dci dt ) Transport (1.30) Der Transportanteil läßt sich noch weiter aufgliedern in Diffusion, Konvektion, etc. Eine kurze Besprechung der Diffusion findet man im Kapitel über diffusionsgehemmte Reaktionen. Ansonsten wird hier der Reaktionsanteil isoliert betrachtet, was auch experimentell meist in hinreichend guter Näherung erreicht werden kann (andernfalls kann man für den Transportanteil in einfacher Weise korrigieren). Neben den zeitabhängigen Konzentrationen enthält Gl. (1.23) drei Typen von Konstanten, deren Definition sorgfältig beachtet werden muß: Die ν i werden durch die stöchiometrische Gleichung der Reaktion definiert, die m i ergeben sich experimentell oder theoretisch aus der Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit und k ist eine für die Reaktionsgeschwindigkeit charakteristische Konstante. Insbesondere darf man die Rolle der m i und der ν i nicht verwechseln. Das ist zwar trivial, führt aber gelegentlich zu Mißverständnissen. Die Reaktionsordnungen m i sind empirisch (oder theoretisch) bestimmt und können nicht konventionell festgelegt werden. Dagegen ergeben sich die ν i aus der Konvention, die für die stöchiometrische Gleichung gewählt wird. Dementsprechend sind auch die Geschwindigkeitskonstanten k Gegenstand dieser Konvention. Unter gegebenen experimentellen Bedingungen ist ja die Ableitung einer Konzentration dc i /dt bestimmt. Aus Gl. (1.23) folgt dann, daß das Produkt (k ν i ) bestimmt ist. Der Wert von k hängt also von dem experimentell (oder theoretisch) festgelegten Produkt (k ν i ) ab und von der Konvention für die stöchiometrische Gleichung, welche den Wert von ν i festlegt. Ein einfaches Beispiel mag dies erläutern. Wir haben schon die Methylradikalrekombination angeführt mit der möglichen stöchiometrischen Gleichung 2CH 3 = C 2 H 6 (1.31) Das empirische Geschwindigkeitsgesetz für die Reaktionsgeschwindigkeit ist in Gl. (1.32) angegeben, wobei der Faktor 1/2 aus der stöchiometrischen Gleichung (1.31) folgt. 1 d[ch 3 ] = k[ch 3 ] 2 (1.32) 2 dt

26 1.6 Reaktionsordnung 19 Wir hätten aber auch eine andere stöchiometrische Gleichung zugrunde legen können, z. B. CH 3 = 1 2 C 2H 6 (1.33) Die Reaktionsgeschwindigkeit ist dann definiert durch Gl. (1.34) d[ch 3] dt = k [CH 3 ] 2 (1.34) Da die beobachtbare Änderung der Konzentrationen offenbar von den Konventionen unabhängig ist, muß gelten 2k = k (1.35) Genau wie Reaktionsenthalpien oder Reaktionsentropien in der Thermodynamik ist auch die Reaktionsgeschwindigkeit Gegenstand einer Konvention, die durch die stöchiometrische Gleichung festgelegt ist. Die angegebenen Werte hängen demnach von der stöchiometrischen Gleichung ab. Selbstverständlich sind die physikalisch-chemisch beobachtbaren Phänomene unabhängig von der Konvention. Diese Anmerkung mag völlig trivial erscheinen (sie ist es auch). In diesem Zusammenhang entstehen aber nicht nur bei Studierenden sondern auch in der publizierten Literatur Mißverständnisse (die Methylradikalrekombination ist ein historisches Beispiel unter vielen). Die Angabe eines Wertes der Geschwindigkeitskonstanten ist nur bei gleichzeitiger Angabe der stöchiometrischen Gleichung oder der Geschwindigkeitsgleichung (1.23) mit den ν i eindeutig. Prinzipiell kann man allgemeine empirische Ausdrücke für die Zeitabhängigkeit der Konzentrationen in beliebigen Reaktionssystemen zulassen, mit N Konzentrationen und M Konstanten: Wir kommen hierauf in Kapitel 5 zurück. dc i dt = f i(c 1,,c N ;k 1,,k M ) (1.36) Ein weiteres Detail in der Nomenklatur der Mathematik bei der Einteilung der Differentialgleichungen sollte hier erwähnt werden. Als Ordnung n einer Differentialgleichung bezeichnet man die höchste in der Gleichung vorkommende Ableitung, d n y/dx n. Gl. (1.23) entspricht also einer Differentialgleichung erster Ordnung. Das hat offensichtlich nichts mit der Reaktionsordnung m in Gl. (1.24) zu tun.

27 2 Elementarreaktionen und einfache Geschwindigkeitsgesetze Le troisième (précepte), de conduire par ordre mes pensées en commençant par les objets les plus simples et les plus aisés à connaître. René Descartes Ziel dieses Kapitels ist das Verständnis und die genaue begriffliche Formulierung der einfachsten chemischen Reaktionen auf molekularer Ebene. 2.0 Elementarreaktion, Molekularität und Reaktionsordnung Wenn eine chemische Reaktion in der durch die Reaktionsgleichung X+Y Z+... (2.1) beschriebenen Weise durch direkte Wechselwirkung der entsprechenden Moleküle stattfindet, so nennt man dies eine Elementarreaktion. Elementarreaktionen sind stets gerichtet, einseitig. Möchte man die Rückreaktion mitberücksichtigen, so schreibt man oder abgekürzt A + B C (2.2) C A + B (2.3) A + B C (2.4) Anmerkung: In dieser Vorlesung wird das Symbol ausschließlich für Elementarreaktionen verwendet. Dies ist aber keine allgemeine Konvention. Alle anderen Reaktionen heißen zusammengesetzte Reaktionen, weil sie sich aus verschiedenen Elementarreaktionen aufbauen lassen. Elementarreaktionen werden durch ihre Molekularität charakterisiert.

28 2.0 Elementarreaktion, Molekularität und Reaktionsordnung Unimolekulare (monomolekulare) Reaktion: Ein Teilchen ist am wesentlichen Reaktionsschritt beteiligt. Die Molekularität ist eins. 2. Bimolekulare Reaktion: Zwei Teilchen sind am wesentlichen Reaktionsschritt beteiligt. Die Molekularität ist zwei. 3. Trimolekulare Reaktion: Drei Teilchen sind am wesentlichen Reaktionsschritt beteiligt. Die Molekularität ist drei. Praktisch sind nur diese drei Typen von Elementarreaktionen von Bedeutung. Statt trimolekular wird bisweilen auch termolekular verwendet, dies ist sprachlich aber weniger gut. Im Lateinischen ist nämlich die Gruppe der entsprechenden Präfixe uni-, bi-, tri-, während das Wort ter = dreimal in die Reihe semel = einmal, bis = zweimal gehört. Man sagt aber nie Semelmolekular! Das griechische Präfix mono- wird in diesem Zusammenhang meist synonym mit uni- verwendet. Bisweilen wird jedoch die Menge der streng monomolekularen Reaktionen als Untermenge der unimolekularen Reaktionen aufgefaßt. Das wird später erläutert. Der Begriff der Elementarreaktion kann sinngemäß auf physikalisch-chemische Primärprozesse und Kernreaktionen erweitert werden. Molekularität und Reaktionsordnung: Während die Molekularität ein mechanistischer Begriff ist und den Weg, über den die Reaktion läuft, bezeichnet, sagt die Reaktionsordnung nach Kapitel 1.6 etwas über die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit aus und ist ein rein phänomenologischer Parameter. Es gibt jedoch einen Zusammenhang, der durch den folgenden Satz wiedergegeben wird: Elementarreaktionen verlaufen unter gewissen Voraussetzungen stets nach einem einfachen Geschwindigkeitsgesetz gemäß Gleichung (1.23). Die Reaktionsordnung ist dann für jede Elementarreaktion definiert (siehe Kapitel 2.7.1). Der Kehrsatz gilt nicht. Findet man für eine Reaktion ein einfaches Geschwindigkeitsgesetz mit der Reaktionsordnung 1, 2 oder 3, so darf man nicht daraus folgern, daß es sich um eine Elementarreaktion handelt. Häufig ergibt sich nämlich auch für eine zusammengesetzte Reaktion ein einfaches Geschwindigkeitsgesetz. Das Geschwindigkeitsgesetz liefert höchstens Hinweise auf denkbare Reaktionsmechanismen, beweist aber nie einen bestimmten Mechanismus der Reaktion. Wir werden noch zahlreiche Beispiele hierfür kennen lernen.

29 22 2 Elementarreaktionen 2.1 Unimolekulare Reaktionen Wir betrachten Reaktionen vom Typ A Produkte (2.5) Es gibt Beispiele von streng unimolekularen, auch als monomolekular bezeichneten Prozessen, die man als physikalische Primärprozesse auffassen kann: 1. Spontane Lichtemission angeregter Atome und Moleküle (oder Atomkerne) A A + hν (oder γ) (2.6) 2. Spontaner, radioaktiver Zerfall von Atomkernen (hier α-zerfall) U 92+ α( 4 2He 2+ ) Th 90+ t 1/2 = a (s. unten) (2.7) 3. Prädissoziation in photochemischen Reaktionen Anregung : NH 3 hν NH 3 (2.8) monomolekularer Prozess : NH 3 NH 2 + H (2.9) Die Reaktionen (2.10) und (2.11) sind für die Sauerstoffatombildung in der oberen Erdatmosphäre wichtig. O 2 λ < 200 nm O 2 (2.10) O 2 2O (2.11) Während die Prozesse in Gl. (2.8) und (2.10) als bipartikular aufgefaßt werden können, mit dem Photon hν als Teilchen, sind die sogenannten Prädissoziationsreaktionen (2.9) und (2.11) monomolekular. Der einfache Mechanismus für eine thermisch ablaufende chemische Reaktion (Stoßpartner M im Überschuß) wird auch gesamthaft als unimolekulare Reaktion bezeichnet. Man betrachtet zum Beispiel folgende Reaktionsschritte in der Isomerisierung von Methylisonitril (CH 3 NC) zu Methylcyanid (CH 3 CN): 1. Aktivierungsschritt, bimolekular: CH 3 NC + M CH 3 NC + M (2.12a) Umkehrung CH 3 NC + M CH 3 NC + M (2.12b) 2. Streng monomolekularer Schritt: CH 3 NC CH 3 CN (2.13a) Umkehrung CH 3 CN CH 3 NC (2.13b)

30 2.1 Unimolekulare Reaktionen Desaktivierungsschritt (Aktivierung), bimolekular: CH 3 CN + M CH 3 CN + M (2.14a) Umkehrung CH 3 CN + M CH 3 CN + M (2.14b) Für die Konzentration von M gilt hier voraussetzungsgemäß: [M] [CH 3 NC] [M] = const Dieser Mechanismus ( Lindemann Mechanismus vergl. Kapitel 5 sowie Kapitel 2.7) wird gesamthaft als unimolekular bezeichnet, weil an der Reaktion im wesentlichen Schritt nur ein Molekül, nämlich CH 3 CN, beteiligt ist. Der Kürze halber werden Elementarreaktionen wie (2.12a) und (2.12b), (2.13a) und (2.13b), (2.14a) und (2.14b) in einer einzigen Gleichung aufgeschrieben, analog zu Gl. (2.3) und (2.4). CH 3 NC [M] CH 3 CN CH 3 CN [M] CH 3 NC (2.15a) (2.15b) Die Rolle des Stoßpartners mit der Konzentration [M] wird quasi als Gedächtnisstütze über den Pfeil geschrieben. Sie führt dazu, daß die Reaktionsordnung m M in [M] allgemein verschiedene Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann. Die genauen Zusammenhänge werden in Kapitel 5 diskutiert. Da [M] jedoch zeitunabhängig ist, kann man die Abhängigkeit von [M] in die Konstante k einbeziehen. Für unimolekulare Reaktionen findet man experimentell ein Zeitgesetz erster Ordnung in der Konzentration c des Reaktanden (differentiell) dc = k c dt (2.16) Mit Hilfe eines Wahrscheinlichkeitsargumentes läßt sich dieses Gesetz leicht verstehen: Die Zahl (N A V dc dc) der in der Zeit dt reagierenden Teilchen ist proportional zu eben diesem Zeitintervall dt und der Zahl der momentan vorhandenen Teilchen (N A V c c). Aber diese Wahrscheinlichkeitsbetrachtung muß nicht immer gelten, wie das folgende, anschauliche Beispiel verdeutlicht: Modell: In einem ringförmigen Rohr seien Teilchen eingesperrt. Diese rotieren in dem Ring, sie führen eine periodische Bewegung aus. Am Ring befindet sich eine Öffnung, durch welche die Teilchen hinausfliegen können. Man kann folgende Situationen unterscheiden:

31 24 2 Elementarreaktionen Fall 1: Die Teilchen sind statistisch im Ring verteilt. Das Zeitgesetz 1. Ordnung gilt, die Zahl der herausfliegenden Teilchen ist proportional zum Zeitintervall (Öffnungszeit) dt und der im Rohr vorhandenen Teilchenzahl. Fall 1 Fall 2 Bild 2.1 Erläuterung dynamischer Grenzfälle: Fall 1 statistisch, Fall 2 kohärent. Fall 2: Die Teilchen rotieren in Päckchen, gewissermaßen kohärent oder in Phase. Offensichtlich gilt nun das Zeitgesetz 1. Ordnung nicht mehr. Wir werden in Kapitel 3 sehen, daß diese einfache Betrachtung in neuesten kinetischen Untersuchungen eine tiefere Bedeutung gewonnen hat. Gleichung (2.16) ist eine Differentialgleichung 1. Ordnung. Die Integration erfolgt in den Schritten: 1. Trennung der Variablen: dc = k dt (2.17) c 2. Bestimmte Integration (k sei konstant) c(t) c(t 0 ) dc c t = k t 0 dt (2.18) 3. Lösung der Integralgleichung { } c(t) ln = k(t t 0 ) (2.19a) c(t 0 ) also c(t) = c(t 0 ) exp { k(t t 0 )} (2.19b)

32 2.1 Unimolekulare Reaktionen 25 ln c ---- c 0 t Steigung: c d ---- c dt = - k Bild 2.2 Logarithmus der Konzentration als Funktion der Zeit (lineare Darstellung, t 0 = 0, c 0 = c(t 0 )). Die Zeitabhängigkeit der Konzentration ist in Bild 2.2. und 2.3. dargestellt. Die Steigung der linearen graphischen Darstellung des Zeitgesetzes 1. Ordnung liefert die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k. Oft findet man in der Literatur die Angabe der Halbwertszeit t 1/2, also der Zeit, nach der noch 50% der Konzentration des Reaktanden bezogen auf die Anfangskonzentration vorhanden ist. In manchen Fällen wird auch die Lebensdauer τ angegeben, also die Zeit, die das System benötigt, bis die Konzentration des Reaktanden auf 1/e ( 37%) seiner Anfangskonzentration abgesunken ist. τ ist auch die mittlere Lebensdauer t, die in Gl. (2.22a) explizit berechnet wird. Man muß sich die folgenden charakteristischen Größen für die unimolekulare Reaktion einprägen: Reaktionsgeschwindigkeitskonstante: k = 1/τ (2.20) Halbwertszeit: t 1/2 = k 1 ln 2 (2.21a) Lebensdauer: c(t 1/2 ) = 1 2 c 0 τ = 1/k = t = k t e kt dt c(τ) = 1 e c 0 0 (2.21b) (2.22a) (2.22b) Gl. (2.22a) ist ein Beispiel für die Berechnung des Mittelwertes A einer Größe

33 26 2 Elementarreaktionen c( t) c 0 Exponentialfunktion c c 1 0 ē - t 1 2 τ t Bild 2.3 Konzentration als Funktion der Zeit, c 0 c(t 0 ), t 0 = 0. A nach dem allgemeinen Verfahren (siehe Ende von Kapitel 2.4) A = P(A)AdA (2.22c) Hier ist P(A) die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion für A mit P(A)dA = 1. Offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeitsdichte, daß ein Teilchen zur Zeit t zerfällt ke kt. Als Beispiel wollen wir die entsprechenden Größen für den Tritiumzerfall angeben: oder als Reaktion von Atomkernen geschrieben: 3 H β 3 He (2.23a) 3 1H He 2+ + e + ν e k = s 1 t 1/2 = s = a τ = s (2.23b) (2.24a) (2.24b) (2.24c) Beim β-zerfall wird allgemein ein Neutron (n) unter Emission eines Elektrons (e ) in ein Proton (p) verwandelt. Dieser Prozess beruht auf der paritätsverletzenden schwachen Kernkraft. Für das freie Neutron gilt: n p + e + ν e τ = 889 s (2.25)

34 2.1 Unimolekulare Reaktionen 27 Es wird zusätzlich noch ein Elektron-Antineutrino ν e emittiert. Der Prozess ist offensichtlich stark abhängig davon, in welcher Umgebung im Atomkern sich das Neutron befindet. Im Tritiumkern lebt das Neutron viel länger, als im Fall des freien Neutrons und in stabilen Atomkernen zerfällt das Neutron gar nicht. Der Tritiumzerfall spielt im Wasserkreislauf der Erde eine gewisse Rolle. Tritium entsteht durch Kernreaktionen in der oberen Atmosphäre und wird mit dem Regen an die Erdoberfläche gebracht. Frisches Regenwasser ist also durch den Tritiumgehalt leicht radioaktiv. Gealtertes Wasser, das etwa Jahrtausende unter der Erde gelagert war, enthält keine wesentlichen Tritiummengen. Die Radioaktivität des Tritiums kann zur Datierung von Wasser und Wein benutzt werden. Ein guter Bordeaux hat nach 12 Jahren nur noch etwa die halbe Tritiumradioaktivität im Vergleich zum frischen Traubensaft. Radioaktive Zerfallsprozesse werden heute quantitativ durch die Größe der radioaktiven Aktivität in Becquerel (Bq) charakterisiert. 1 Bq = 1 s 1 entspricht einem Zerfall pro Sekunde. Eine ältere Einheit ist das Curie (Ci) mit 1 Ci = Bq. Die radioaktive Aktivität ist eine extensive Größe: Die Gesamtradioaktivität zweier Proben ist gleich der Summe der Aktivitäten der einzelnen Proben. Künstlich in Stoffe eingeführtes Tritium dient auch häufig als Spurenelement oder Tracer zum Nachweis der Lebensgeschichte eines Stoffes in physikalisch-chemischen Prozessen. Durch seine große Radioaktivität ist es leicht mit hoher Empfindlichkeit nachweisbar. Demgegenüber ist Uran nur schwach radioaktiv. Seine Halbwertszeit (siehe Gl. (2.7)) entspricht etwa dem Alter der Erde (vergl. Kap. 1.1). Nachdem wir schon Beispiele für den unimolekularen α und β Zerfall kennen gelernt haben, wollen wir hier noch ein Beispiel für den β + Zerfall (Emission eines Positrons e + und eines Elektron-Neutrinos ν e ) angeben: 22 11Na Ne e + + ν e t 1/2 = a (2.26) sowie für den γ Zerfall, der einer spontanen Strahlungsemission des Atomkerns nach Gl. (2.6) entspricht: 57 26Fe m 57 26Fe + γ t 1/2 = ns (2.27) wobei 57 26Fe m für ein metastabiles Kernisomer steht, das durch Emission eines Lichtquantes in das stabile 57 26Fe übergeht.

35 28 2 Elementarreaktionen 2.2 Unimolekulare Reaktion mit Rückreaktion Wir betrachten die beiden Elementarreaktionen (siehe auch Gl. (2.15)): A k a B (2.28a) B k b A (2.28b) Stöchiometrische Gleichung A = B (2.28c) Die Rückreaktion ist immer vorhanden. ( Thermodynamik, detailliertes Gleichgewicht). Wenn die Gleichgewichtskonstante zugunsten einer Reaktionsrichtung sehr groß ist, kann die entsprechende Rückreaktion vernachlässigt werden. Es sind aber zahlreiche Reaktionen bekannt, bei denen diese Approximation zu schlechten Resultaten führt und deshalb nicht verwendet werden darf. Als Beispiel kann die cis trans Isomerisierung von Dichlorethen dienen. cis {C 2 H 2 Cl 2 } k a k b trans {C 2 H 2 Cl 2 } (2.29) A B (2.30) Das Zeitgesetz lautet: dc A dt = k bc B k a c A (2.31) Für die Integration dieser Differentialgleichung wird c B durch c A ausgedrückt. Mit den Anfangskonzentrationen c 0 A und c0 B zur Zeit t 0 erhält man Gl. (2.32) c B = c 0 A + c0 B c A (2.32) Mit der Annahme idealen Verhaltens gilt für das Gleichgewicht (= equilibrium auf lateinisch, Exponent eq für t ) Auflösen nach c eq A ergibt dc A dt = 0; c eq A c eq B = k b k a (2.33) c eq A = k b k a c eq B = k b k a (c 0 A + c 0 B c eq A ) (2.34) c eq A = k b k a (c 0 A + c0 B ) (1 + k b /k a ) = k b(c 0 A + c0 B ) k a + k b (2.35)

36 2.2 Unimolekulare Reaktion mit Rückreaktion 29 Einsetzen von (2.32) in (2.31) ergibt Gl. (2.36) dc A dt = k b(c 0 A + c 0 B) (k a + k b )c A (2.36) Einsetzen von (2.35) in (2.36) ergibt mit k b (c 0 A + c0 B ) = (k a + k b )c eq A dc A dt = (k a + k b ) (c eq A c A) (2.37) Zur Integration des Zeitgesetzes geht man wie folgt vor: 1. Trennung der Variablen führt zu Gl. (2.38) dc A c A c eq A = (k a + k b )dt = d(c A c eq A ) c A c eq A (2.38) Das Gleichheitszeichen ganz rechts gilt, weil dc eq A /dt = Nach der bestimmten Integration analog zu Gl. (2.17) und (2.18) erhält man Gl. (2.39): ( ca c eq ) A ln c 0 A = (k a + k b ) (t t 0 ) (2.39) ceq A also gilt Gl. (2.40) c A c eq A = (c0 A ceq A ) exp { (k a + k b ) (t t 0 )} (2.40) Diese Lösung der Differentialgleichung (2.37) informiert über das Abklingen der Auslenkung c A aus der Gleichgewichtslage. c A = c A c eq A (2.41) c A = c 0 A exp { (k a + k b ) (t t 0 )} (2.42) Die Zeit, in der die Auslenkung der Konzentration aus der Gleichgewichtslage ( c A ) auf (1/e) des Anfangswertes c 0 A abklingt, heißt Relaxationszeit τ R: τ R = 1 k a + k b (2.43) Als Beispiel betrachten wir wieder die cis-trans Isomerisierung von Dichlorethen in Gl. (2.29). Diese Reaktion wurde in Stoßwellenexperimenten bei 1200 K untersucht (vergl. Kapitel 3). Die Resultate lauten: k a = 421 s 1 (2.44a) k b = 459 s 1 (2.44b) τ = s (2.44c) k a k b = K c = 0.92 (2.44d)

37 30 2 Elementarreaktionen Aus thermodynamisch-spektroskopischen Messungen erhält man die Gleichgewichtskonstante K c = 0.75 (2.45) Diese Abweichung ist typisch für Resultate aus kinetischen Experimenten. Sie rührt von der meist bescheidenen Genauigkeit kinetischer Messungen her. 2.3 Bimolekulare Reaktionen A+A Produkte Die Stöchiometrie der Gleichung ist 2A = Produkte (2.46) Die Reaktionsgleichung der Elementarreaktion ist A + A Produkte (2.47) Das Zeitgesetz mit [A] c lautet: 1 dc 2 dt = kc2 (2.48) Man findet empirisch ein Zeitgesetz 2. Ordnung. Wiederum kann man mittels Wahrscheinlichkeitsüberlegungen diese Differentialgleichung begründen:

38 2.3 Bimolekulare Reaktionen 31 1 c Steigung: 2 k Bild 2.4 Linearisierte Darstellung für das Zeitgesetz 2. Ordnung nach Gl. (2.53a), 1/c = f(t) und t 0 = 0. Die graphische Darstellung c(t) nach Gl. (2.53b) entspricht einer Hyperbel. 1 c 0 t Die Anzahl der reagierenden Teilchen N A V dc dc ist proportional zur Begegnungshäufigkeit zweier Teilchen und zum Zeitintervall dt. Da nicht jede Begegnung auch zur Reaktion führt, muß ein weiterer Proportionalitätsfaktor, nämlich die Wahrscheinlichkeit P R der Reaktion bei einer Begegnung berücksichtigt werden. Für die Begegnungshäufigkeit gilt folgende einfache Überlegung: Bei statistischer Verteilung der Teilchen ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich das erste Teilchen im Volumenelement δv befindet, proportional zur Konzentration c. Wenn die Teilchen voneinander unabhängig sind (Annahme der Idealität), gilt dies selbstverständlich auch für das zweite Teilchen. Die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Teilchen im selben Volumenelement zusammentreffen (eine Begegnung ), wird also proportional zu c 2. Für die Zahl der im Zeitintervall dt reagierenden Teilchen folgt: N A V dc P R c 2 dt (2.49) Ganz analog zur Diskussion bei den unimolekularen Reaktionen braucht jedoch in Wirklichkeit die Situation nicht immer diesem einfachen Wahrscheinlichkeitsargument zu entsprechen. Allerdings findet man in der Regel tatsächlich ein Verhalten, das Gl. (2.48) entspricht. Die Integration des Zeitgesetzes 2. Ordnung erfolgt in den Schritten 1. Trennung der Variablen: 2. Bestimmte Integration: c c 0 dc = 2kdt (2.50) c2 dc t c = 2k 2 t 0 dt (2.51)

39 À ½»½¼ ½ Ñ ÈË Ö Ö ÔÐ Ñ ÒØ 32 2 Elementarreaktionen 3. Lösung der Integralgleichung: ( 1 c 1 ) = 2k(t t 0 ) (2.52) c 0 oder oder auch 1 c = 2k(t t 0) + 1 c 0 c(t) = 1 2k(t t 0 ) + 1/c 0 Bild 2.4 zeigt eine graphische Darstellung der linearen Form, Gl. (2.53a). Beispiel: Radikalrekombination (2.53a) (2.53b) CH 3 + CH 3 C 2 H 6 : bimolekular (2.54a) (C 2 H 6 + Ar C 2 H 6 + Ar) : Folgereaktion (2.54b) Die graphische Darstellung in Bild 2.5 veranschaulicht die Messergebnisse. 1.0 Exp. 0.9 Fit Bild 2.5 Methylradikalrekombination als Reaktion 2. Ordnung (nach [Bergh et al. 1969]). Die aus den experimentellen Daten bestimmte Geschwindigkeitskonstante beträgt [Bergh et al. 1969]: Ø k = cm 3 Molekül 1 s 1 ( oder cm 3 s 1 ) (2.55) = cm 3 mol 1 s 1 Dies ist ein typischer Wert für schnelle bimolekulare Gasreaktionen.

40 2.3 Bimolekulare Reaktionen A + B Produkte Die stöchiometrische Gleichung lautet (i) Wir wählen die Anfangsbedingungen A + B = Produkte (2.56) c 0 A = [A] 0 = [B] 0 = c 0 B (2.57a) c = [A] = [B] (2.57b) Das Zeitgesetz lautet damit dc dt = kc2 (2.58a) Das ist mit der in Kapitel behandelten Gleichung identisch, abgesehen von dem Faktor zwei aus der Stöchiometrie, also erhält man nach Integration: (ii) Für die Anfangsbedingungen gelte 1 c = 1 c 0 + k(t t 0 ) c 0 A c0 B (2.58b) Um das Zeitgesetz für diesen Fall zu integrieren, müssen wir eine geeignete, einheitliche Variable definieren (vergl. auch Kapitel 2.2). Man wählt hier die Abweichung von der Anfangskonzentration als Umsatzvariable x Das Zeitgesetz lautet hiermit: x = c 0 A c A = c 0 B c B = (c i c 0 i )/ν i (2.59) dc A dt = dc B dt = dx dt = kc Ac B = k(c 0 A x)(c 0 B x) (2.60) Hinweis: Die Anfangskonzentrationen hängen nicht von der Zeit ab, also dc 0 A /dt = 0 = dc0 B /dt, weswegen (2.60) aus (2.59) folgt. Die Integration des Zeitgesetzes 2. Ordnung erfolgt in den Schritten 1. Trennung der zwei verbleibenden Variablen x und t 2. Bestimmte Integration x 0 dx (c 0 A = kdt (2.61) x)(c0 B x) dx t (c 0 A x )(c 0 B x ) = k t 0 dt (2.62)

41 34 2 Elementarreaktionen Man findet in der Integraltafel das unbestimmte Integral dx (a x)(b x) = + 1 ( ) b x b a ln a x (2.63) 3. Lösung der Integralgleichung ( ) ( ) c 0 ln B x c 0 c 0 A x ln B = ( c 0 B ca) 0 k (t t0 ) (2.64) oder ln ( cb c A c 0 A ) ( ) c 0 ln B = ( c 0 B ca) 0 k(t t0 ) (2.65) c 0 A Eine geeignete, linearisierte graphische Darstellung ist in Bild 2.6 gezeigt: c B ln c A cb 0 ln ca 0 Steigung: 0 k ( c B - c 0 A ) t - t 0 Bild 2.6 Linearisierte Darstellung für A+B Produkte nach Gl. (2.65) Bimolekulare Reaktion von scheinbar erster Ordnung: A + B Produkte Bimolekulare Reaktionen verlaufen immer nach einem Zeitgesetz 2. Ordnung. Der Experimentator kann aber für Reaktionen vom Typ A + B Produkte ein Zeitgesetz scheinbar 1. Ordnung (Englisch: Pseudo first order) erzwingen, indem er als experimentelle Anfangsbedingungen vorgibt: c 0 B c0 A

42 2.3 Bimolekulare Reaktionen 35 Dann wird sich c B /c 0 B während der Reaktion nur unwesentlich ändern, c B c 0 B darf also als konstant betrachtet werden. Hiermit ergibt sich das folgende Zeitgesetz: mit dc A dt = v c = k c 0 B c A (t) = k eff c A (t) (2.66) k eff = k c 0 B und c B c 0 B = const (2.67) Die Integration des Zeitgesetzes ergibt: ( ) c 0 ln A = k c 0 B (t t 0) = k eff (t t 0 ) (2.68a) c A c A = c 0 A exp { k eff (t t 0 )} (2.68b) Prinzipiell ist dieses Vorgehen mit einer Approximation in der Differentialgleichung (2.66) und anschließender Integration problematisch. Ein besseres Vorgehen ist die exakte Integration der ursprünglichen Differentialgleichung (2.60) und Approximation nach Erhalten der exakten Lösung, Gl. (2.65). Im vorliegenden Fall ist die Approximation in Gl. (2.68) gerechtfertigt. Gl. (2.68) erhält man nämlich auch durch Umformen aus Gl. (2.65), wenn c A c B c 0 B gesetzt wird. Diese experimentelle Randbedingung vereinfacht oft die Analyse der Resultate. Nur die Konzentration c 0 B muß absolut bekannt sein. Dann genügt die Kenntnis des Verhältnisses c 0 A /c A zur Auswertung der gemessenen Daten. Die Absolutwerte von c A sind für die Bestimmung von k unwesentlich, während im Allgemeinen für die Bestimmung der Geschwindigkeitskonstanten einer bimolekularen Reaktion die Konzentrationen beider Reaktionspartner absolut bekannt sein müssen (siehe auch Kap. 3). Beispiele: 1. Metathesis-Reaktion (Atomtransferreaktion) F + CHF 3 HF + CF 3 (2.69a) Fluoratome werden durch Mikrowellenentladung produziert und liegen in großem Überschuß vor. CHF 3 wird in kleinen Mengen dazu gegeben. Absolutmessung von [F] Relativmessung von [CHF 3 ]/[CHF 3 ] 0 : durch Resonanzabsorption oder Titrationsreaktion : massenspektrometrisch

43 36 2 Elementarreaktionen Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k eff = k [F] ) k = kj mol 1 exp ( cm 3 s 1 RT (2.69b) Die Absolutmessung von Konzentrationen durch Massenspektrometrie ist schwierig und wird durch diese Auswertung umgangen. 2. Solvolysen in einem Lösungsmittel H + Y ( H + Y ) + RX bimolekular YR + X + H + (2.70) Da aber das Lösungsmittel meist in einem großen Überschuß gegenüber dem Gelösten vorliegt, [HY] [RX], verlaufen Solvolysen nach einer Kinetik scheinbar erster Ordnung. Die Konzentration des Lösungsmittels darf auch während der Reaktion als konstant behandelt werden. 3. Katalysierte Reaktionen (siehe auch das Kapitel über homogene Katalyse) Die Konzentration des Katalysators bleibt konstant, er geht ja unverändert aus der Reaktion hervor. Da er aber die Reaktionsgeschwindigkeit erhöht, muß ihm im Zeitgesetz Rechnung getragen werden. Dies sei anhand einer Razemisierung in Azeton illustriert, die durch Iodidionen katalysiert wird. Die Indices R und S geben das vorliegende Enantiomer an, C markiert das asymmetrische C-Atom. Die Reaktion lautet: abgekürzt: k a I + [(CH 3 )(C 3 H 7 )C HI] R [(CH 3 )(C 3 H 7 )C IH] S + I (2.71a) k b I + R k a k b S + I (2.71b) Im Gleichgewicht liegen beide Enantiomere mit nahezu gleichen Konzentrationen vor. In diesem Fall muß die Rückreaktion unbedingt mitberücksichtigt werden. Das Zeitgesetz ist für Hin- und Rückreaktion jeweils scheinbar erster Ordnung, und die Integration folgt dem Vorgehen in Kapitel 2.2. Man erhält: ( cr c eq ) R ln c 0 R = (k a + k b ) [ I ] (t t 0 ) (2.72) ceq R Da die Iodidionenkonzentration konstant bleibt, kann man schreiben: k a,eff = k a [ I ] (2.73a) k b,eff = k b [ I ] (2.73b)

44 2.4 Bimolekulare Reaktion mit Rückreaktion 37 Durch Variation der Iodidionenkonzentration kann die Proportionalität experimentell geprüft werden. Die effektive Relaxationszeit ist τ R,eff = 1 (k a + k b ) [I ] (2.73c) Anmerkung: Mittels Iodisotopenmarkierung konnte gezeigt werden, daß die Umwandlung der einen enantiomeren Form in die andere ( Stereomutation ) durch Austausch von Iodidionen ermöglicht wird. 2.4 Bimolekulare Reaktion mit Rückreaktion Rekombinations-Dissoziationskinetik Rekombination A + A k a A 2 (2.74) Dissoziation k b A 2 A + A (2.75) Stöchiometrie 2A = A 2 (2.76) k a und k b können noch von der Konzentration [M] eines Stoßpartners abhängen (siehe unten). Die Integration des Zeitgesetzes gelingt wiederum durch Einführung einer geeigneten Umsatzvariablen x. Aus der stöchiometrischen Gleichung folgt: c 0 A c0 A = c A c A (2.77) x = 1 ( ) c 0 2 A c A = ca2 c 0 A 2 = (c i c 0 i)/ν i (2.78) Die Differentialgleichung für diesen Typ der bimolekularen Reaktion lautet: 1 dc A 2 dt = dc A 2 dt = k a (c A ) 2 k b c A2 (2.79) Mit Hilfe der oben eingeführten Umsatzvariablen x erhält man: Hinweis: dx dt = k a(c 0 A 2x) 2 k b (c 0 A 2 + x) (2.80) dc 0 A 2 dt = 0 = dc0 A dt (2.81)

45 38 2 Elementarreaktionen ln x + x - c 0 K e A x - x e ln c 0 K A - x e x e Steigung: k 4c 0 a A + K - 8x e t Bild 2.7 Linearisierte Darstellung für die Rekombinations-Dissoziationskinetik gemäß Gl. (2.82) mit t 0 = 0. Einsetzen der Gleichgewichtsbedingung (vergl. Kapitel 2.2.), Separation der Variablen und die anschließende Integration führen zum Resultat: ( ) x ye ln ln x x e ( ye x e ) ( ) = k a 4c 0 A + K 8x e (t t0 ) (2.82) mit K = k b /k a (2.83a) und y e = c 0 A + K 4 x e (2.83b) x e = c0 A 2 + K K ( c 0 A c 0 A /2) + K 2 (2.84) Sind die Anfangskonzentrationen c 0 A und c0 A 2, und die Gleichgewichtskonstante K = K 1 bekannt, so können die Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten k a und k b bestimmt werden, z.b. durch Auftragung des Ausdrucks auf der linken Seite von Gleichung (2.82) als Funktion von t t 0 nach Einsetzen aller bekannten Größen. Diese graphische Darstellung ist in Bild 2.7 gezeigt. Beispiel: Methylradikalrekombination - Dissoziation von Ethan CH 3 + CH 3 [M] C 2 H 6 (2.85)

46 2.4 Bimolekulare Reaktion mit Rückreaktion 39 [M] deutet die prinzipielle Beteiligung eines Stoßpartners M an. Das Experiment zeigt eine stark temperaturabhängigen Verlauf der Radikalkonzentration. Unterhalb von 1400 K ist die Methylradikalkonzentration im Gleichgewicht mit C 2 H 6 vernachlässigbar, bei Temperaturen über 1500 K findet man jedoch bereits eine beträchtliche Radikalkonzentration. Die Gleichgewichtskonstanten K und K lassen sich aus den bekannten Anfangskonzentrationen und der Gleichgewichtskonzentration von CH 3 für lange Zeiten, die auch die Gleichgewichtskonzentration von C 2 H 6 über die Stöchiometrie festlegt, berechnen. Das Gleichgewicht hat natürlich nur kurzzeitig Bestand, da CH 3 und C 2 H 6 weiter reagieren. Die Situation ist schematisch in Bild 2.8 gezeigt. [ CH ] 3 T > 1500 K T < 1400 K Bild 2.8 Konzentration als Funktion der Zeit (schematisch für typische Bedingungen) für die Methylradikalrekombination-Ethandissoziation (siehe auch Kap. 3). t Es sei hier vorausgeschickt, daß die bimolekulare Rekombinationsreaktion Gl. (2.74) als Umkehrung der unimolekularen Dissoziation (2.75) in Wahrheit aus mehreren Teilschritten unter Beteiligung eines Stoßpartners M analog zur Situation, Gl. (2.15a), in Kapitel 2.1 erfolgt. Die Geschwindigkeitskonstante k a kann dementsprechend noch von der Konzentration des Stoßpartners [M] abhängen. Hierauf werden wir verschiedentlich zurückkommen (Kapitel 2.7, 4 und 5).

47 40 2 Elementarreaktionen Bimolekulare Hin- und Rückreaktion Hinreaktion A + B k a C + D (2.86) Rückreaktion C + D k b A + B (2.87) Das Zeitgesetz ist: Stöchiometrie A + B = C + D (2.88) dc A dt = k ac A c B k b c C c D (2.89) Auch hier definiert man eine Umsatzvariable x = (c i c 0 i)/ν i x c 0 A c A = c 0 B c B = c C c 0 C = c D c 0 D = (c i c 0 i)/ν i (2.90) dx dt = d(c0 A x) = +k a (c 0 A dt x)(c0 B x) k b(c 0 C + x)(c0 D + x) (2.91) Hinweis: dc 0 A dt = 0 Schließlich erhält man, wiederum über die Gleichgewichtsbeziehung, Trennung der Variablen und nachfolgende Integration den Ausdruck für den Zusammenhang zwischen der Umsatzvariablen x und der Zeit t: 1 x (a + b) ln 1 x (a b) mit K = k b /k a (Gleichgewichtskonstante K = K 1 ) = 2k a (1 K)b(t t 0 ) (2.92) a = c0 A + c0 B + K(c0 C + c0 D ) 2(1 K) (2.93) [ b = a 2 c0 A c0 B ] 1/2 Kc0 C c0 D 1 K (2.94) Die Größen a und b sind keine Funktionen der Zeit! Beispiel: Isotopenaustausch (I ist ein radioaktives Iodisotop) CH 3 I + (I ) k a k b CH 3 I + I (2.95)

48 2.4 Bimolekulare Reaktion mit Rückreaktion 41 Die Gleichgewichtskonstante ist hier näherungsweise K c 1 da k a k b gilt. Der Isotopeneffekt auf k a und k b (und K) ist wegen des geringen relativen Massenunterschiedes zwischen I und I klein. Die aus den Messungen stammenden Resultate können mit der oben erläuterten Formel ausgewertet werden. Eine andere Möglichkeit, die der Experimentator stets im Auge behalten sollte, ist das Arbeiten mit einem Überschuß eines Reaktanden. Die Auswertung erfolgt dann nach dem Zeitgesetz scheinbar 1. Ordnung und ist dementsprechend einfacher (vergl. auch Kapitel , Beispiel Razemisierung). Anmerkung: Überlegen Sie sich, was zu tun ist, wenn exakt gilt: K = 1. Führen Sie zur Übung auch im Detail die Schritte der Rechnung durch, die von Gl. (2.91) auf Gl. (2.92) führt (siehe Übungsanhang). Anmerkung zur Berechnung von Mittelwerten: Der Mittelwert einer Grösse A ist allgemein definiert durch N A = P i A i = 1 N Z i A i (2.96a) N Dabei ist i=1 P i = Z i /N i=1 (2.96b) die Wahrscheinlichkeit oder relative Häufigkeit des Wertes A i der Grösse A und Z i die Häufigkeit des Wertes A i in einer Probe (z.b. die Zahl der Messergebnisse mit dem Wert A i ). N ist die Gesamtzahl der Werte in der Probe (z.b. die Zahl der Messwerte). Für eine kontinuierliche Verteilung von Messwerten der Grösse A hat man analog A = + P(A) A da Hier ist P(A) die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Grösse A mit + P(A) da = 1 (2.96c) (2.96d) Die Wahrscheinlichkeit, die Grösse A im Intervall zwischen A und A + da zu finden, ist dw(a) = P(A) da (2.96e) Anmerkung: Berechnen Sie mit Hilfe dieser Definition die mittleren Lebensdauern der Reaktanden bei unimolekularen und bimolekularen (A + A Produkte) Reaktionen und machen Sie sich Gedanken über Ihre Ergebnisse (siehe auch Übungsanhang).

49 42 2 Elementarreaktionen 2.5 Trimolekulare Reaktionen Bei einer trimolekularen Reaktion müssen drei Teilchen zusammentreffen. Da ein solches Ereignis bei geringen Teilchendichten relativ selten ist, sind derartige Reaktionen dann ziemlich unwahrscheinlich. Meist findet das System einen anderen, effizienteren Reaktionsweg. Dennoch gibt es einige Beispiele trimolekularer Reaktionen Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit trimolekularer Reaktionen Mit demselben Wahrscheinlichkeitsargument wie für bimolekulare Reaktionen in Kapitel 2.3. erwähnt können wir auch die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit trimolekularer Reaktionen verstehen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen A in einem Volumenelement δv zu finden, ist proportional zur Konzentration C A. Die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen B oder C ebenfalls dort zu finden, ist analog proportional zu C B und C C. Die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung aller drei Teilchen im selben Volumenelement ist für den Fall unabhängiger Wahrscheinlichkeiten gleich dem Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten. Wenn die Reaktionsgeschwindigkeit v c proportional zur Begegnungswahrscheinlichkeit ist, gilt also v C (trimolekular) C A C B C C (2.97) Es ist vielleicht nützlich, dieses einfache Argument noch einen Schritt weiter zu führen, um einen Vergleich zwischen der Wahrscheinlichkeit von Zweierbegegnungen und Dreierbegegnungen, also bimolekularer und trimolekularer Prozesse, zu erhalten. Wir nehmen an, daß N Teilchen in einem Gesamtvolumen V sich statistisch auf M = (V/δV ) N Zellen der Größe δv verteilen. Man kann nach der Wahrscheinlichkeitstheorie von Jakob Bernoulli (Basel ) diese Verteilung als Ergebnis von N Bernoulli Versuchen auffassen, in welchen die Teilchen statistisch in das Volumen V geworfen werden und ihren Platz jeweils in einer Zelle mit dem Volumen δv finden. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Versuch eine bestimmte Zelle x zu treffen ist p x = δv V (2.98a) Die Wahrscheinlichkeit, diese Zelle nicht zu treffen ist q x = 1 p x (2.98b)

50 2.5 Trimolekulare Reaktionen 43 Die Wahrscheinlichkeit, diese Zelle k mal zu treffen, ist durch die Binomialverteilung gegeben (p p x, q q x ) ( ) N b(k,n,p) = p k q N k (2.99a) k = N! k!(n k)! ( δv V ) k ( 1 δv V ) N k (2.99b) Physikalisch-chemisch ist das hier die Wahrscheinlichkeit einer k fach Begegnung im Volumen δv. Für den Grenzfall, daß N sehr groß und p sehr klein ist, erhält man hieraus eine Poisson Verteilung mit N p = λ P(k,λ) = λk exp( λ) (2.100) k! Mit N/V = C erhält man λ = C δv P(k,C δv ) = (C δv ) k 1. exp( C δv ) (2.101) k! Wenn wir weiterhin C δv 1 annehmen können, erhalten wir schließlich P(k,C δv ) = (C δv ) k 1 (1 CδV ) k! (2.102a) (C δv ) k /k! (2.102b) Hiermit erhält man das Verhältnis zwischen den Wahrscheinlichkeiten einer Dreier- und einer Zweierbegegnung. P(3,CδV ) P(2,CδV ) = (C δv )/3 1 (2.103) Außerdem ergibt sich die Konzentrationsabhängigkeit der k-fachen Begegnung oder der Geschwindigkeit einer Reaktion der Molekularität k zu v C (k) C k (2.104) Man kann dieselben Beziehungen mit Hilfe der Methoden der statistischen Mechanik herleiten, wobei dann der Faktor k! interessanterweise aus einem Symmetrieargument folgt. Ohnehin sollte man solche einfachen Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen nicht überbewerten, da andere, molekulare Eigenschaften einen sehr wesentlichen Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit P R einer Reaktion während einer Begegnung haben. Es kann also sehr wohl sein, daß eine bestimmte bimolekulare Reaktion sehr viel langsamer verläuft als eine bestimmte trimolekulare Reaktion, wenn wir berücksichtigen, daß allgemein gilt v C P B P R (2.105) wobei P B die Begegnungswahrscheinlichkeit für eine k Teilchen Begegnung ( C k ) ist, die als Faktor in Gl. (2.105) nicht wichtiger ist als P R. Auf die Berechnung von P R wird in Kapitel 4 (Theorie) noch eingegangen.

51 44 2 Elementarreaktionen Universelles Beispiel für trimolekulare Reaktionen: Atomrekombination Atomrekombinationen verlaufen bevorzugt trimolekular: A + A + M A 2 + M (2.106) Mit M bezeichnet man den Stoßpartner. Dieser kann ein Teilchen sein, das auch an der Reaktion teilnimmt, oder ein Zuschauer, z.b. ein Inertgasmolekül. Dementsprechend kann man gewisse Grundschemata der Reaktion unterscheiden. Beispiele. Schema 2+1 I + I + M I 2 + M (2.107a) I + I + He I 2 + He (2.107b) H + H + H 2 2H 2 (2.107c) Schema F + Cl + M FCl + M (2.107d) F + Cl + N 2 FCl + N 2 (2.107e) Schema 3 H + H + H H 2 + H (2.108) M ist ein beliebiger Stoßpartner, welcher die Energie der hochangeregten, zweiatomigen Moleküle effizient abführt. Ohne diese Reaktionspartner wären solche energiereiche, zweiatomige Moleküle äußerst kurzlebig. Ihre durchschnittliche Lebensdauer würde etwa eine Schwingungsperiode, also s, betragen. Bei vielatomigen Molekülen oder Radikalen verläuft die Rekombination meist effektiv über bimolekulare Reaktionsschritte. R + R R 2 (2.109) R 2 + M R 2 + M (2.110) R 2, das angeregte Produkt des Zweierstoßes, ist langlebig, seine Lebensdauer reicht aus, um eine bimolekulare Reaktion mit dem dritten Stoßpartner auszuführen. Der Unterschied ist nicht prinzipiell sondern zeitlich graduell. Hier ist auch der Prozeß der Strahlungsrekombination möglich: R 2 R 2 + hν. Für Strahlungsübergänge im sichtbaren Spektralbereich muß die Lebensdauer des angeregten R 2 für eine effiziente Strahlungsrekombination Nanosekunden betragen, für Schwingungsübergänge im Infraroten Millisekunden und mehr. Das wird zwar von angeregten Molekülen, die durch Rekombination großer Radikale entstehen, leicht erreicht, dann ist aber die Stoßdesaktivierung selbst bei geringen Drücken im Labor in der Regel viel effizienter. Eine Ausnahme bilden Reaktionen von Molekülen im Weltraum. Im Laboratorium lassen sich ähnliche Bedingungen im Hochvakuum erzeugen. Neuere Experimente zu Reaktionen von Ionen in der Ionencyclotronresonanzspektroskopie beruhen auf

52 2.5 Trimolekulare Reaktionen 45 V( r) * ( A - A) + M r A A hν Stösse r A - A + M Bild 2.9 Dreierstoßrekombination und Strahlungsrekombination. Es ist die potentielle Energie V (r) als Funktion des Atomkernabstandes r gezeigt. Ohne Stoßpartner würden die beiden Atome A + A bei einer Zweierbegegnung sich innerhalb einer Schwingung wieder trennen. Bei einer Dreierbegegnung (mit M) in diesem Zeitraum kann Energie durch den Stoß mit M abgeführt werden, so daß das Molekül A 2 nicht mehr genügend Energie zur Redissoziation hat (Pfeil mit Schlangenlinie). Prinzipiell kann auch ohne Stoß Energie durch Emission eines Lichtquantes hν abgeführt werden (Strahlungsrekombination mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit). solchen Prozessen. Prinzipiell können mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit auch Atomrekombinationen durch Strahlungsemission erfolgen. Das ist in Bild 2.9 schematisch erläutert. Strahlungsrekombination durch Emission von γ- Strahlung spielt eine bedeutende Rolle in Kernreaktionen, zum Beispiel der Bildung des Deuterons. H + + n D + + hν (γ) (2.111) oder beim Neutroneneinfang durch schwerere Elemente U + n U U + hν (γ) (2.112) U β Np (t 1/2 = 23.5 min) (2.113)

53 46 2 Elementarreaktionen Zeitgesetz für die Atomrekombinationen 2+1 Das Zeitgesetz lautet A + A + M A 2 + M (2.114) Stöchiometrie 2A = A 2 (2.115) 1 d [A] = k [M] [A] 2 = k eff [A] 2 (2.116) 2 dt Falls die Konzentration des Stoßpartners M näherungsweise als konstant angenommen werden darf, nimmt das Zeitgesetz die scheinbare Ordnung zwei an. Die Auswertung erfolgt dann wie in Kapitel diskutiert. Es kann sein, daß verschiedenartige Teilchen als Stoßpartner M wirken. So kann in einer Reaktion Argon als Stoßpartner zugeführt werden. Dieses Argon könnte aber verunreinigt sein, die Fremdpartikel dienen dann möglicherweise ebenfalls als Stoßpartner. Auch sind Gefäßwände aller Art stets sehr effiziente Stoßpartner. Für diesen allgemeinen Fall wird das Zeitgesetz entsprechend modifiziert 1 d [A] 2 dt ( ) = k i [M i ] [A] 2 (2.117) i Jeder Stoßpartner hat seine individuelle Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k i,allerdings sind diese meist von ähnlicher Größe. Experimentell findet man oft k 1 [M 1 ] k i [M i ] i 1 (2.118) Im oben aufgeführten Beispiel würde also das Argon über seine Verunreinigungen dominieren. Es gibt molekulare Besonderheiten, die am Beispiel der Bildung von Sauerstoff O 2 aus Sauerstoffatomen erläutert werden können Für die Reaktionsgeschwindigkeit gilt vermutlich: O + O + O k O O 2 + O (2.119) k O2 O + O + O 2 O2 + O 2 (2.120) k O k O2 (2.121) weil eine besonders effiziente Möglichkeit zur Desaktivierung von O 2 (siehe Bild 2.9) existiert, nämlich O 2 + O O 3 O 2 + O (2.122) In dem relativ stark gebundenen, hochangeregten Molekülkomplex Ozon (O 3 ) wird die Schwingungsenergie sehr effizient umverteilt, so daß O 2 seine Energie relativ leicht verliert (vergl. [Quack, Troe 1975, 1977a, 1977c]). Bei einem inerten Stoßpartner wie He könnte es sein, daß ein Stoß nicht genügend Energie aus O 2 entfernt, um die schnelle Redissoziation zu verhindern.

54 2.5 Trimolekulare Reaktionen Zeitgesetz für die Atomrekombination 3 A + A + A A 2 + A (2.123) Stöchiometrie 2A = A 2 (2.124) Das Zeitgesetz lautet 1 d [A] = k [A] [A] 2 = k [A] 3 (2.125) 2 dt Man beachte, daß der Faktor ν 1 A = 1/2 ist, gemäß Gl. (2.124), und nicht etwa 1/3. Nach der Separation der Variablen und bestimmter Integration 1 c 2 Steigung: 4k 1 c 2 0 t t 0 Bild 2.10 Linearisierte Darstellung 1/c 2 = f(t) (c [A] für die trimolekulare Atomrekombination 3 ) nach Gl. (2.127). resultiert ( ) [A] 2 1 [A] 2 0 = 2k(t t 0 ) (2.126) oder mit c [A] 1 c 2 = 4k(t t 0) + 1 c 2 0 (2.127) Eine graphische Darstellung der Konzentration als Funktion der Zeit ist in Bild 2.10 gezeigt.

55 48 2 Elementarreaktionen Komplexmechanismus der Rekombination Atomrekombinationen können auch über einen Komplexmechanismus verlaufen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der vielatomige Stoßpartner M ein guter Komplexbildner ist. Man hat zunächst die bimolekularen Reaktionen A + M AM (2.128) AM + M AM 2 (2.129) Die Komplexe AM können dann bimolekular mit A reagieren AM + A A 2 + M (2.130) Man hat dann also effektiv eine Folge von zwei bimolekularen Schritten für die Atomrekombination. Die Komplexbildung mit dem Stoßpartner M kann auf einer chemischen Bindung beruhen, z. B. wenn Cl-Atome mit dem Stoßpartner NO 2 zum relativ stark gebundenen Komplex ClNO 2 reagieren und dann Cl wiederum mit ClNO 2 zu Cl 2 abreagiert. Oder es kann auch ein schwach physikalisch gebundener Komplex beteiligt sein, z. B. wenn Cl mit C 2 F 6 eine schwache van der Waals-Bindung eingeht. Ein weiteres Beispiel für eine mögliche Art von Komplexmechanismus findet sich in der Literatur, wo oft zyklische, konzertierte Reaktionsmechanismen für trimolekulare Reaktionen angegeben werden, welche aber meist unbewiesen und oft eher unwahrscheinlich sind. Beispiele für solche Mechanismen sind die Isotopenaustauschrekationen am Cl 2, wie in Schema 2.1 gezeigt. 35 Cl 35 Cl 37 Cl 3 35 Cl 37 Cl 35 Cl Cl Cl 37 Cl 37 Cl 35 Cl 37 Cl Schema 2.1 Isotopenaustauschreaktion im Chlorsystem. Diese Reaktion könnte aber auch mehrstufig mit bimolekularen Reaktionen über Zwischenkomplexe verlaufen 2 35 Cl 37 Cl ( 35 Cl 37 Cl ) 2 (2.131) ( 35 Cl 37 Cl ) Cl 37 Cl 35 Cl Cl Cl 37 Cl (2.132) Stabile zyklische Zwischenkomplexe in der Gasphase sind für HF bekannt 2HF (HF) 2 R H kj mol 1 (2.133)

56 2.5 Trimolekulare Reaktionen 49 (HF) 2 + HF (HF) 3 R H kj mol 1 (2.134) Im zyklischen gebundenen Zwischenkomplex kann ein Protonensprung erfolgen. H H F F F F H H H H F F Schema 2.2 Protonensprung im Trimeren des Fluorwasserstoffs, (HF) 3. Die Abweichung der F H F Wasserstoffbrücken von einer linearen Struktur ist stark übertrieben gezeichnet (siehe [Klopper et al. 1998], [Quack et al. 2001]) Ein solcher Protonensprung könnte durch doppelte Isotopenmarkierung mit Deuterium und radioaktivem Fluor nachgewiesen werden. Es wird jedoch eine relativ hohe Energiebarriere für diesen Prozess vorhergesagt (ca. 85 kj mol 1 ). Eine weitere Reaktion, für die ein solcher zyklischer Verlauf diskutiert wird, ist die trimolekulare (?) Oxidation von NO: O N O 2 NO + O 2 2 NO 2 O O N Schema 2.3 Hypothetischer trimolekularer Mechanismus der NO Oxidation. Auch hier werden verschiedene andere Prozesse diskutiert, die wir gleich im folgenden Unterkapitel noch näher beschreiben wollen.

57 50 2 Elementarreaktionen Problematik und Unsicherheit bei trimolekularen Reaktionen Wir betrachten als typisches Beispiel für die problematische Interpretation möglicher trimolekularer Reaktionen die Oxidation von NO durch O 2 mit der Stöchiometrie 2NO + O 2 = 2NO 2 (2.135) Man findet empirisch eine Reaktion 3. Ordnung mit der Reaktionsgeschwindigkeit: d [O 2] = v c = k [NO] 2 [O 2 ] (2.136) dt Aber man kennt mindestens drei verschiedene Reaktionswege, die ein solches Zeitgesetz ergeben. 1. Möglichkeit: trimolekular 2. Möglichkeit: bimolekular I NO + NO + O 2 2NO 2 (2.137) NO + NO (NO) 2 (2.138) (NO) 2 + O 2 2NO 2 (2.139) 3. Möglichkeit: bimolekular II NO + O 2 NO 3 (2.140) NO 3 + NO 2NO 2 (2.141) Diese drei Mechanismen sind alle möglich, aber mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, die von den unbekannten Reaktiongeschwindigkeiten abhängen. Meistens sind die trimolekularen Mechanismen zu langsam; bimolekulare Mechanismen sind oft viel schneller und damit wichtiger. Alle drei Mechanismen haben dieselbe Stöchiometrie der Bruttoreaktion und qualitativ dasselbe Zeitgesetz, Gl. (2.136). Wir werden dies in Kapitel 5 zeigen. Ein Beweis des Mechanismus nur aus der Reaktionsordnung ist deshalb offensichtlich nicht möglich. Vielmehr müßten alle betrachteten Elementarreaktionen separat untersucht werden und geprüft werden, welcher Mechanismus am meisten zur beobachteten Gesamtreaktion beiträgt. Wir kommen auf diese Frage in Kapitel 5 wieder zurück.

58 2.6 Reaktionen höherer Molekularität Reaktionen höherer Molekularität Höhere als trimolekulare Reaktionen sind in der Gasphase praktisch nicht bekannt. In der kondensierten Phase, bei näherer Betrachtungsweise, ist dies natürlich immer der Fall. Die Lösungsmittelmoleküle sind ja stets auch an der Reaktion mitbeteiligt. Allerdings brauchen sie nicht unter die Definition der wesentlich beteiligten Moleküle genommen zu werden. Anmerkung: Reaktionen, deren Stöchiometrie kompliziert ist, brauchen nicht unbedingt nach einem komplizierten Geschwindigkeitsgesetz zu verlaufen (vergl. Kap. 2.0). So verläuft die Reaktion mit der stöchiometrischen Gleichung (CH 3 ) 2 CO + 3Br 2 + H 2 O = CH 3 COOH + CHBr 3 + 3HBr (2.142) mit Sicherheit nicht in dieser Form als Elementarreaktion, obwohl man doch auf dem Papier eine solche Elementarreaktion formulieren könnte. Es ist doch extrem unwahrscheinlich, daß fünf Teilchen zusammenstossen, um dann in drei Produkte (wiederum 5 Moleküle) zu zerfallen. Das Geschwindigkeitsgestz dieser Reaktion ist allerdings überraschend einfach: v c = k [ OH ] [(CH 3 ) 2 CO] (2.143) Es tauchen hier im Geschwindigkeitsgesetz gar nicht alle Reaktanden auf, stattdessen aber [OH ], das selbst nicht in der stöchiometrischen Gleichung vorkommt. Das gibt einen Hinweis auf einen katalytischen Mehrschrittmechanismus für diese Reaktion (siehe auch Kapitel 5). 2.7 Vergleichende Übersicht über einfache Geschwindigkeitsgesetze und ergänzende Bemerkungen Zusammengesetzte Reaktionen und Elementarreaktionen Die Natur beschert uns eine große Mannigfaltigkeit von komplizierten, zusammengesetzten Reaktionen. Bei solchen Reaktionen findet man experimentell komplizierte oder einfache Geschwindigkeitsgesetze. Es gibt dagegen nur wenige Typen von Elementarreaktionen. Ihr zeitlicher Verlauf läßt sich im Rahmen bescheidener Einschränkungen zumindest in sehr guter Näherung stets durch ein einfaches Zeitgesetz beschreiben, und zwar:

59 52 2 Elementarreaktionen streng monomolekular praktisch immer 1. Ordnung unimolekular 1. Ordnung oder Übergang zur 2. Ordnung bimolekular 2. Ordnung ev. scheinbar 1. Ordnung bimolekulare Rekombinations- 2. Ordnung oder Übergang reaktion (Umkehr einer uni- zur 3. Ordnung molekularen Dissoziation) trimolekular 3. Ordnung ev. scheinbar 2. Ordnung oder sogar scheinbar 1. Ordnung Offensichtliche, nicht sehr wesentliche Einschränkungen bestehen hier bei Gesetzen vom Typ in Gl. (2.117), die streng genommen wegen der Summe nicht von der Form in Gl. (1.23) sind. Effektiv hat man aber auch hier in der Regel wenigstens scheinbar 2. Ordnung. Weitere Einschränkungen haben wir in Kap. 2.1 diskutiert. Der Schluß von der Molekularität auf die Reaktionsordnung ist im Rahmen der obigen Tabelle immer eindeutig. Der Kehrsatz gilt nicht, von der Reaktionsordnung darf nicht auf die Molekularität geschlossen werden. Ein experimentell gefundenes, einfaches Zeitgesetz beweist noch lange nicht, daß es sich um eine Elementarreaktion handelt Reaktion 0. Ordnung Sieht man einmal von der hypothetischen, spontanen Erzeugung von Materie aus Nichts ab, so existiert offensichtlich keine Elementarreaktion mit der Molekularität Null. Die Stöchiometrie der Reaktionen, welche nach einem Zeitgesetz nullter Ordnung verlaufen, kann unterschiedliche Formen haben. Ein solches Zeitgesetz findet man experimentell vor allem bei heterogenen Reaktionen, die an Oberflächen stattfinden (gemessen wird aber die Konzentration c in der homogenen Gasphase). Zeitgesetz: dc dt = k; also dc dt f(t) (2.144) Integration: c(t) = c 0 k(t t 0 ) (2.145)

60 2.7 Vergleichende Übersicht 53 c c 0 einfaches Zeitgesetz kompliziertes Zeitgesetz t Bild 2.11 Konzentration als Funktion der Zeit, für eine Reaktion 0. Ordnung. Die durchgezogene Gerade zeigt das formale Zeitgesetz, während die Kreuze den tatsächlichen Konzentrationsverlauf angeben. Bild 2.11 zeigt den Konzentrationsverlauf als Funktion von der Zeit. Für sehr lange Zeiten kann Gl. (2.145) offensichtlich nicht gelten (c kann nicht negativ werden). Dort gilt das Zeitgesetz nullter Ordnung nicht mehr sondern ein komplizierteres Gesetz. Dieses Verhalten lässt sich beim heterogen katalysierten Zerfall durch das in Bild 2.12 gezeigte Adsorptionsverhalten als Funktion der Konzentration im Gas verstehen. Das wollen wir am Beispiel des durch festes Wolfram katalysierten Zerfalls von NH 3 bei erhöhter Temperatur ( 856 C) erläutern: 2NH 3 (g) W(s) = N 2 (g) + 3H 2 (g) (2.146) Folgender Mechanismus liefert eine Begründung des Zeitgesetzes, wobei der sequentielle Doppelpfeil ( ) für eine Folge von mehreren Prozessen steht: NH 3 (g) + W(s) {NH 3 (ads)} auf W (2.147) 2NH 3 (ads) N 2 (g) + 3H 2 (g) (2.148) Bei hohen Drücken ist die adsorbierte Menge NH 3 keine Funktion der Konzentration oder des Druckes von NH 3, die Sättigung ist erreicht. In diesem Sättigungsbereich gilt das Zeitgesetz 0. Ordnung, da die pro Zeiteinheit zerfallende Stoffmenge proportional zur adsorbierten Stoffmenge n ads ist, die in die-

61 54 2 Elementarreaktionen sem Bereich konstant ist (Bild 2.12). Dagegen gilt dieses Gesetz nicht bei sehr geringen Drücken, wenn der größte Teil des Reaktanden zerfallen ist (große Zeiten in Bild 2.11). Wie in Bild 2.12 gezeigt ist, variiert hier n ads mit der Konzentration c im Gas, die durch den Zerfall zeitabhängig ist. n ads Sättigungsbereich n NH = f( [ NH ]) = f( t) 3( ads) 3 n NH = const 3( ads) c( g) Bild 2.12 Adsorptionsverhalten nach der Langmuirschen Adsorptionsisotherme. n ads ist die adsorbierte Stoffmenge als Funktion der Konzentration c(g) im Gas. Für kleine Konzentrationen variiert n ads mit c(g), während bei hohen Konzentrationen der Sättigungsbereich auf der Oberfläche mit konstantem n ads erreicht wird. Der Detailmechanismus, der in den Gleichungen (2.147) und (2.148) zusammengefaßt ist, besteht aus einer komplexen Folge von Reaktionen des NH 3 auf der Oberfläche. Die Adsorption ist hierbei nur der erste Schritt, der aber im Bereich der Reaktion nullter Ordnung die Geschwindigkeit begrenzt. Man erkennt weiterhin, daß der katalytische Ammoniakzerfall die Umkehrung der technisch wichtigen Ammoniaksynthese aus den Elementen ist. Hierbei wird ein spezieller Eisenkatalysator eingesetzt (siehe Kapitel über heterogene Katalyse [Ertl 2002],[Ertl 2003],[Spencer et al. 1982],[Schlögl 2003]). Die Jahresproduktion von Ammoniak nach diesem Verfahren beträgt ca kg und trägt merklich zum Energiebedarf der Menschheit bei. Man schätzt eine biologische Stickstofffixierung auf fast kg [Hennecke 1994].

62 2.7 Vergleichende Übersicht Zeitbereich verschiedener Geschwindigkeitsgesetze Den anschaulichen Vergleich der Zeitgesetze liefert die graphische Darstellung, deren Zeitachse mit der jeweiligen Halbwertszeit reduziert wird. Dies ist in Bild 2.13 gezeigt. ÈË Ö Ö ÔÐ Ñ ÒØ ¼ & $ "! " $ & " ½ ¾ ½ ½ Ø Ø ½ ¾ Bild 2.13 Zeitbereich der verschiedenen Geschwindigkeitsgesetze. Man betrachte die Verhältnisse t 1/4 /t 1/2 und t 1/8 /t 1/2 : Für 0. Ordnung sind diese 1.5 und 1.75, für 1. Ordnung 2 und 3, für 2. Ordnung 3 und 7 und für 3. Ordnung 5 und 21. Mit dieser reduzierten Zeitskala verlaufen Reaktionen höherer Molekularität für lange Zeiten langsamer in Richtung auf die Gleichgewichtseinstellung als Reaktionen niederer Molekularität (siehe aber Kap. 3.4 für den Fall, daß die Nähe des Gleichgewichtes erreicht ist). Für Reaktionen der Ordnung 1 ist die Halbwertszeit unabhängig von der Anfangskonzentration und damit eine charakteristische Größe für die Reaktion, ebenso wie die Geschwindigkeitskonstante. Für Reaktionen, die nach einem Zeitgesetz 0, 2 oder 3 verlaufen, ist die Halbwertszeit eine Funktion der Anfangskonzentration und damit keine für die Reaktion typische Konstante. Tabelle 2.1 faßt die Formeln für die Halbwertszeiten von Reaktionen unterschiedlicher Reaktionsordnung zusammen. Man muß bei dieser Tabelle beachten, daß bei der Definition der Geschwindigkeitskonstanten in den Differentialgleichungen die stöchiometrischen Koeffizienten korrekt nach der Konvention in Gleichung (1.23) berücksichtigt werden. Für eine allgemeine Reaktion A + B + C +... = Produkte, mit der Anfangsbedingung c 0 A = c0 B = c0 C =... c 0,

63 56 2 Elementarreaktionen Ordnung und Differential- integriertes Halbwertszeit Stöchiometrie gleichung Zeitgesetz t 1/2 0. Ordnung A = Produkte dc dt = k c = c 0 kt c 0 2k 1. Ordnung A = Produkte dc dt = kc c = c 0 exp( kt) ln 2 k 2. Ordnung A+B = Produkte c A = c B = c dc dt = kc2 1 c = 1 c 0 + kt 1 kc 0 3. Ordnung A+B+C = Produkte c A = c B = c C = c dc dt = 1 kc3 c = 1 + 2kt 2 c 2 0 Tab. 2.1 Einfache Zeitgesetze und Halbwertszeiten 3 2kc 2 0 leite man die folgende Gleichung für die Halbwertszeit her: t 1/2 = 2m 1 1 c m 1 0 k(m 1) (2.149) Anmerkung: Die Gleichung gilt für m 1. Im Fall m = 1 ergibt sich der unbestimmte Ausdruck 0/0, der allerdings durch die korrekte Grenzwertbetrachtung für m 1 in den richtigen Ausdruck übergeht Prinzipielle Fragen zum Begriff der Molekularität und das Beispiel des bimolekularen radioaktiven Zerfalls Wir haben den Begriff der Molekularität einer Elementarreaktion am Anfang von Kapitel 2 eingeführt über die Zahl der Teilchen, die am wesentlichen Reaktionsschritt beteiligt sind. In der Regel stößt man mit dieser Begriffsbildung nicht auf Schwierigkeiten. Es gibt jedoch einige exotische Fälle und prinzipielle Besonderheiten, die wir hier erwähnen wollen. Der radioaktive Zerfall ist

64 2.7 Vergleichende Übersicht 57 das Paradebeispiel einer unimolekularen oder gar streng monomolekularen Reaktion. Zweifellos ist auch die Reaktionsordnung 1 bestens erfüllt. Dennoch gibt es radioaktive Zerfallsreaktionen, die wir als bimolekular betrachten können. Das erste Beispiel ist der Elektroneneinfang, der mit dem Symbol ǫ bezeichnet wird K zerfällt in zwei konkurrierenden Reaktionen (β-zerfall und Elektroneneinfang) K β 40 20Ca 89% β Zerfall (2.150) 40 19K ǫ 40 18Ar 11% Elektroneneinfang ǫ (2.151) Beim β -Zerfall erhöht sich die Kernladungszahl, beim Elektroneneinfang erniedrigt sie sich. Die Halbwertszeit ist t 1/2 = a. Wenn wir diese Reaktionen als Reaktionen des neutralen Kaliumatoms mit seiner Elektronenhülle auffassen, so handelt es sich zweifellos um unimolekulare Prozesse. Schreiben wir sie jedoch mechanistisch detailliert als Reaktionen der Atomkerne, ergibt sich ein anderes Bild 40 19K Ca e + ν e (2.152a) 40 19K e 40 18Ar ν e (2.152b) Die Bildung von Argon beim Kaliumzerfall erscheint nun als bimolekularer Prozess. In der Tat muß man erwarten, daß dieser Prozess im nackten Kaliumion K 19+ unterdrückt ist (und die Halbwertszeit dementsprechend verlängert wird). Auch im gewöhnlichen Kaliumatom kann man erwarten, daß die Halbwertszeit wegen des bimolekularen Beitrages geringfügig von der Elektronendichte am Ort des Atomkerns abhängt, die nicht für alle Verbindungen des Kaliums genau gleich ist. Die Elektronendichte entspricht ja im Wesentlichen der Elektronenkonzentration. Wenn wir allerdings den radioaktiven Zerfall von 40 19K in einer beliebigen chemischen Form (z.b. KCl) als Zerfall dieser Verbindung (und nicht nur des Atomkerns) auffassen, dann ist auch in diesem Beispiel der Zerfall streng monomolekular, denn die Elektronen gehören zum zerfallenden Teilchen. Der radioaktive Zerfall von 40 19K ist ein gutes Beispiel für die Möglichkeit der chemischen Verschiebung von Halbwertszeiten für radioaktive Zerfälle. Diese Verschiebungen sind meist so gering, daß sie vernachlässigt werden. Prinzipiell kann Kalium auch unter Emission eines Positrons unimolekular in Argon zerfallen (Anteil nur 0.001%). Der Kaliumzerfall ist praktisch von Bedeutung als Quelle der natürlichen Strahlenbelastung des Menschen und als Quelle des Edelgases Argon in der Atmosphäre. Mit einem Anteil von ca. 1% in der Erdatmosphäre ist Argon relativ häufig, was durch die Bildung aus 40 K erklärt wird. Der heute verbleibende Anteil von 40 K in natürlichem Kalium entspricht % (oder mmol/mol) [Green Book 3rd ed. 2007].

65 58 2 Elementarreaktionen Genaue Messergebnisse für die chemische Verschiebung existieren erst seit neuerer Zeit für den Zerfall von 7 4Be: 7 4 Be4+ + e 7 3 Li3+ + ν e t 1/2 = d (2.153) Hier werden je nach Substanz Werte von t 1/2 gefunden, die systematisch um ±0.3 d hiervon abweichen [Huh 1999]. Bei der Diskussion der geringfügigen chemischen Verschiebung von radioaktiven Zerfallszeiten ist es nützlich, auf die große kernchemische Verschiebung der Zerfallszeit des Neutrons hinzuweisen. Wir hatten in Kap. 2.1 bemerkt, daß der β-zerfall von Atomkernen grundsätzlich auf dem Zerfall des Neutrons gemäß Gl. (2.27) beruht, das eine Lebensdauer von τ = 889 s hat. Demgegenüber ist die Lebensdauer des Tritons ( 3 1H + ) oder eben die Lebensdauer des Neutrons im Tritiumatomkern nach Gl. (2.26) τ s. Es ist klar, daß das Neutron im Atomkern sehr stark von den anderen Kernteilchen beeinflußt wird, mit denen es ja über die starke Kernkraft sehr eng verbunden ist. Im Deuteron ( 2 1H + ) ist die Lebensdauer des Neutrons unendlich (im Rahmen der heutigen Meßgenauigkeit). Die Verhältnisse sind also quantitativ sehr verschieden von den sehr kleinen Einflüssen auf den radioaktiven Zerfall, die durch die chemische Bindung in Molekülverbänden auftreten. Allerdings gibt es einen zweiten radioaktiven Zerfall, den wir strikt als bimolekular betrachten müssen. Ein Beispiel hierfür ist der Zerfall von Gallium unter dem Einfluß der natürlichen Neutrinodichte (hauptsächlich Sonnenneutrinos): 71 31Ga ν e 71 32Ge e (2.154a) Diese Reaktion ist extrem selten, aber von praktischer Bedeutung zum Nachweis der Sonnenneutrinos. Die Reaktion ist erster Ordnung in Ga und erster Ordnung in [ν e ], wobei die Reaktionsgeschwindigkeit erheblich von der Energie der Neutrinos abhängt. Es ist bemerkenswert, daß zur Zeit der Entdeckung des radioaktiven Zerfalls vor etwa hundert Jahren über einen möglichen bimolekularen Ursprung aufgrund einer unbekannten Hintergrundstrahlung der Sonne (oder des Weltraumes) spekuliert wurde. Dies trifft also zu, wenn auch nur als extrem seltene Ausnahme. Ein weiteres Experiment, das sogenannte Chlorexperiment von R. Davis zum Nachweis der Sonnenneutrinos benutzt die Reaktion 37 17Cl ν e 37 18Ar e (2.154b) Hier werden diese Reaktionen in einem Tank mit kg C 2 Cl 4 nach Ausgasen und Abtrennen des entstandenen radioaktiven 37 18Ar durch dessen Zerfall (Elektroneneinfang, Umkehrung von Gl. (2.154b) praktisch als Einzelprozesse

66 2.7 Vergleichende Übersicht 59 sehr empfindlich nachgewiesen). Davis hat für seine Arbeiten hierzu den Nobelpreis für Physik 2002 erhalten (geteilt mit Koshiba und Giacconi). Die Definition der Molekularität wirft jedoch auch in anderen Zusammenhängen eine prinzipielle Frage auf. So können wir grundsätzlich jede Reaktion als unimolekular auffassen, wenn wir die Reaktionspartner als ein Supramolekül auffassen, z.b. für eine bimolekulare Reaktion {A + B} {C + D} (2.155) Noch allgemeiner können wir das gesamte Reaktionssystem als ein einziges Supramolekül auffassen, in welchem eine einzige, sehr komplizierte unimolekulare Reaktion stattfindet. In der Tat ist dies ein Ausgangspunkt für eine verallgemeinerte Theorie chemischer Reaktionen, die wir in Kapitel 5 kurz diskutieren werden. Hierdurch gehen aber die einfachen mechanistischen Zusammenhänge bei der Formulierung von uni-, bi- und trimolekularen Reaktionen verloren, obwohl selbstverständlich beobachtbare Meßgrößen nicht von der theoretischen Betrachtungsweise abhängen Praktische Formulierung von Geschwindigkeitsgesetzen für Elementarreaktionen Für die Praxis des Kinetikers sollte man nach Lektüre des vorliegenden Kapitels mindestens zwei Dinge ohne Schwierigkeit beherrschen: (i) Die Formulierung der kinetischen Differentialgleichung für eine gegebene Elementarreaktion (mit oder ohne Rückreaktion), (ii) Die allgemeine Vorgehensweise zur Integration einer solchen Differentialgleichung und die praktische Integration in allen einfachen Fällen, auch in solchen, die hier nicht behandelt wurden. Wir wollen den ersten Punkt hier nochmals am Beispiel einer thermischen unimolekularen Reaktion in einem Inertgas M erläutern, um einige gelegentlich auftretende Probleme zu klären: A [M] 2B (2.156a) Man kann ebenso gut schreiben, A + M 2B + M (2.156b) Die physikalisch-chemische Bedeutung ändert sich hierdurch nicht. Es handelt sich in beiden Fällen um dieselbe unimolekulare Reaktion. Wir wählen als stöchiometrische Gleichung A = 2B (2.157)

67 60 2 Elementarreaktionen Dann ergibt sich der folgende allgemeine Ausdruck für die Reaktionsgeschwindigkeit für den einfachen Fall, daß [M] [ A] gilt: v c = d [A] dt = 1 d [B] 2 dt = k 1 [A] [M] m M (2.158) M könnte zum Beispiel ein Edelgas sein. Wie schon erwähnt gilt 0 m M 1 (2.159) wobei die genaue Begründung hierfür in Kapitel 5 diskutiert wird. Die Reaktionsordnung m = m A + m M für die unimolekulare Reaktion liegt also zwischen 1 und 2, z.b. m = 1.45 wäre ein möglicher Wert, ebenso wie 1 oder 2. Die Ordnung ist nicht zwingend gleich der Molekularität und auch nicht eine einfache ganze Zahl.Die scheinbare Reaktionsordnung ist aber unter diesen Bedingungen eins, da [M] = const. Dieses wäre nicht der Fall, wenn die unimolekulare Dissoziation von reinem A untersucht würde. Ein anderer Grenzfall ist die Reaktion in einem schon zu Anfang bestehenden Überschuß an Produkt [B]. Dann hat man v c = d [A] = 1 d [B] = k 2 [A] [B] m B (2.160) dt 2 dt Wiederum gilt 0 m B 1, wobei z.b. m = m A +m B = 1, 1.28 oder 2 mögliche Werte für die Reaktionsordnung sind. Insbesondere hat m B absolut nichts mit dem stöchiometrischen Koeffizienten ν B = 2 zu tun. Ganz allgemein hängt der stöchiometrische Koeffizient zwar mit der Definition der Reaktionsgeschwindigkeit und deshalb auch der Geschwindigkeitskonstanten zusammen, aber nicht mit der Reaktionsordnung. Es ist legitim, die Elementarreaktion (2.156) mit einer anderen stöchiometrischen Gleichung als (2.157) zu verknüpfen, z.b. könnte man die Stöchiometrie der Reaktion wählen. Dann wird ν A = 1/2, ν B = 1 und v c = 2 d [A] dt 1 2 A = B (2.161) = d [B] dt Selbstverständlich kann man auch wählen = k 1 [A] [M] m M (2.162) 3A = 6B (2.163) Dann ist v c = 1 d [A] 3 dt = 1 d [B] 6 dt = k 1 [A] [M]m M (2.164)

68 2.7 Vergleichende Übersicht 61 Die beobachtbaren Reaktionsordnungen bleiben von diesen Manipulationen unberührt, ebenso wie die beobachtbaren Konzentrationsänderungen d [B]/dt. Geändert wird die konventionell definierte Reaktionsgeschwindigkeit und die Geschwindigkeitskonstante. Es gilt offenbar 1 [A] [M] m M d [B] dt = k 1 = 6k 1 = 2k 1 (2.165) Auf der linken Seite von Gl. (2.165) stehen nur experimentell beobachtbare Größen, die im Gegensatz zu k 1,k 1,k 1 etc. offenbar nicht von irgendwelchen Konventionen abhängen. Eine weitere Bemerkung betrifft die Reaktionsordnung Null. Wenn für einen beliebigen Stoff M k die Reaktionsordnung m k = 0 ist, so taucht seine Konzentration c Mk im Geschwindigkeitsgesetz Gl. (1.23) wegen c 0 M k = 1 offenbar nicht explizit auf (und umgekehrt). Dier hier angestellten Überlegungen sind eigentlich trivial, man muß sie jedoch bei der Angabe von Zahlenwerten beachten. Analoges gilt für bimolekulare und trimolekulare Reaktionen. Wir haben auf diese Frage schon in Kapitel 1 allgemein hingewiesen und dies hier bewußt noch einmal mit Bezug auf Elementarreaktionen wiederholt Zur Nomenklatur der Differentialgleichungen der Reaktionskinetik Bei der Einführung der Begriffe Reaktionsordnung und Molekularität einer chemischen Reaktion haben wir sorgfältig auf die Unterscheidung geachtet. Weiterhin muß man auf die unterschiedliche Nomenklatur der mathematischen Klassifizierung von Differentialgleichungen hinweisen. Solange nur die Zeitabhängigkeit der Konzentrationen betrachtet wird, haben wir es mit den gewöhnlichen Differentialgleichungen der Mathematik zu tun. Das trifft für alle bis jetzt behandelten Fälle zu. Wenn noch andere unabhängige Variablen eine Rolle spielen (z. B. die Ortsabhängigkeit), so erhalten wir partielle Differentialgleichungen. Weiterhin bezeichnet man die höchste Ableitung, die in der Differentialgleichung auftritt, als ihre Ordnung. Im mathematischen Sinne sind also alle bis jetzt behandelten Beispiele gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung. Dies ist sehr sorgfältig von der chemischen Reaktionsordnung zu unterscheiden. In der mathematischen Nomenklatur heißt eine Gleichung der chemischen Reaktionsordnung 1 linear (die abhängige Variable Konzentration und ihre Ableitung nach der Zeit tauchen nur als lineare Funktion auf). Wenn die Reaktionsordnung von eins verschie-

69 62 2 Elementarreaktionen den ist, so hat man eine nichtlineare Differentialgleichung in der mathematischen Nomenklatur. Die Differentialgleichungen der chemischen Reaktionskinetik sind oft nichtlinear im mathematischen Sinne, was wichtige mathematische Konsequenzen hat. Besonders die gleichzeitige Verwendung der chemischen Reaktionsordnung (oft eben nur als Ordnung bezeichnet) und der mathematischen Ordnung könnte zu Verwirrung führen. Es ist deshalb auf eine sorgfältige Unterscheidung dieser beiden verschiedenen Begriffe zu achten Berücksichtigung der endlichen Teilchenzahl in der Kinetik ( Stochastische Kinetik ) Wir haben in den bisherigen Diskussionen angenommen, daß die Konzentrationen c i mathematisch als kontinuierliche Variablen betrachtet werden können. In Wahrheit finden aber natürlich die chemischen Reaktionen mit diskreten Teilchenzahlen statt, die allerdings in der Regel so groß sind, daß die diskrete Natur im Rahmen der Messgenauigkeit nicht feststellbar ist. Von dieser Regel gibt es Ausnahmen, wobei der radioaktive Zerfall ein leicht zugängliches und praktisch wichtiges Beispiel ist. Wir wollen das hier mit einem weiteren Beispiel des β-zerfalls von 14 C erläutern, der für die Datierung von organischem Material benutzt wird (siehe Übungsanhang) 14 6 C N 7+ + e + ν e t 1/2 = 5730 a (2.166) Das Geschwindigkeitsgesetz lautet formal d[14 6 C 6+ ] dt = d[14 7 N 7+ ] = d[e ] dt dt = k uni [ 14 6 C 6+ ] (2.167) Beim radioaktiven Zerfall kann man ohne Verlust der allgemeinen Gültigkeit durch Multiplikation der Konzentrationen auf beiden Gleichungsseiten mit dem betrachteten Volumen V und der Avogadrokonstanten N A auf die Teilchenzahlen N umrechnen. Betrachten wir die Zahl N e der produzierten Elektronen, so ergibt sich dn e dt = k uni N C = λ (2.168) Praktisch mißt man eine reduzierte Zählrate λ zum Beispiel mit einem Geigerzähler, der jedes Einzelereignis der Erzeugung eines Elektrons durch das charakteristische Knackgeräusch nachweist. Selbst wenn die Gesamtstoffmenge N C groß ist, werden wegen des geringen 14 C Anteils (ca pmol/mol) und der kleinen Zerfallskonstanten k uni nur geringe reduzierte Zählraten λ gefunden (für atmosphärischen Kohlenstoff in CO 2 z.b. ca. 180 min 1 mol 1

70 2.7 Vergleichende Übersicht 63 oder 3 s 1 mol 1 ). Die Bildung von einem Elektron aus einem Mol einer Probe natürlichen Kohlenstoffs ist ein zufälliges stochastisches Einzelereignis, das offensichtlich nicht der kontinuierlichen Gleichung (2.168) folgt. Die reduzierte Zählrate λ von 180 Elektronen pro Minute ist offensichtlich nur ein Mittelwert. Das Erscheinen von Elektronen entspricht einer Treppenkurve, wobei jede Stufe einem neu gebildeten Elektron entspricht (Bild 2.14). Die mittlere Steigung der Treppenkurve entspricht der mittleren Zählrate. Die Zeitintervalle, nach denen jeweils ein weiteres Elektron gebildet wird, sind nicht gleich. Untersucht man die statistischen Eigenschaften dieser Funktionen, so findet man, daß die tatsächlich gemessenen Zählraten einer Poissonverteilung entsprechen. N e 20 λ = N e = λ t t(a) t(b) k(a) = 7 k(b) = 5 Bild 2.14 Zahl N e der durch radioaktiven Zerfall gebildeten Elektronen (schematisch). Die wirkliche Teilchenzahl oder auch die Konzentrationsfunktion ist eine Treppenfunktion der Zeit, wobei die Stufen zufällig verteilt sind. Aus der mittleren Steigung λ der Treppenfunktion ergibt sich die mittlere Zählrate von Ereignissen in dem Zeitintervall t (also λ = N e ). Weiterhin sind zwei wirkliche Zählraten k(a) und k(b) beispielhaft angegeben. t Die Wahrscheinlichkeit P(k, λ), in einem bestimmten Experiment k Teilchen (z. B. Elektronen) in dem gewählten Zeitintervall t der Messung (z. B. eine Minute) zu zählen, ist gegeben durch (analog zu Gl. (2.100) aber mit einer

71 64 2 Elementarreaktionen neuen Bedeutung für λ und k): P(k,λ) = λk k! e λ = (λ t) k k! e λ t (2.169) Hierbei ist λ die mittlere Zählrate also der Mittelwert der Verteilung. Die Breite der Verteilung, die man als mittlere Schwankung oder Standardabweichung angeben kann, bedeutet, daß nur ein Bruchteil von 1/e 37% der Experimente eine größere Abweichung als k vom Mittelwert λ ergibt. Es gilt: k = λ (2.170) Die Schwankungsbreite (der tatsächlichen Messwerte der Zählrate) entspricht etwa der Wurzel aus dem Mittelwert. Die relative Schwankungsbreite ist demnach k λ = 1/ λ (2.171) Für den betrachteten Zerfall mit λ = 180 min 1 ergibt sich z.b. k/λ oder 7.5%; das bedeutet, daß ca. 37% aller gemessenen Zählraten eine größere Abweichung als 7.5% vom Mittelwert zeigen. Betrachtet man eine gewöhnliche chemische Reaktion mit einem Umsatz von λ = Teilchen in der Sekunde, was in einem solchen Zusammenhang nicht sehr viel ist, so findet man k λ 10 8 (2.172) was in der Regel unmessbar klein ist. Anmerkung: Betrachten Sie einige der Beispiele von Reaktionen aus dem vorliegenden Kapitel 2 mit typischen Stoffmengen der Reaktanden von der Größenordnung mmol bis mol, und überlegen Sie sich, wie groß die relativen Abweichungen k/λ vom Mittelwert sind, mit typischen Messzeitintervallen von 1s und 1 µs. Neben dem physikalischen Beispiel des radioaktiven Zerfalls sind die Reaktionen von Biomolekülen ein praktisch wichtiges Beispiel, wo die umgesetzten mittleren Teilchenzahlen λ klein und dementsprechend die relativen Schwankungen groß sein können. Weiterhin ist zu bemerken, daß man eine mathematische Formulierung der diskreten Ereignisse mit Ableitungen dn e /dt geben kann, wobei die Ableitungen überall definiert sind entweder als Null oder an den Sprungstellen durch die Diracsche δ-distribution. Hierauf kommen wir später in anderem Zusammenhang zurück. Die mathematisch korrekte Gleichung wäre dann nicht Gl. (2.168) sondern dn e dt = i δ(t t i ) (2.173)

72 2.7 Vergleichende Übersicht 65 wobei δ(x) die Deltadistribution ist und t i der Zeitpunkt des i-ten Zerfallsprozesses. Man kann das Zustandekommen einer Poissonverteilung durch eine ganz analoge Überlegung wie in Kapitel verstehen, wobei jetzt aber keine räumlichen Zellen sondern Zeitintervalle betrachtet werden. Überlegen Sie sich dieses. Wiederum wird die Poissonverteilung als Näherung für die Binominalverteilung benutzt. Wir geben in Tabelle 2.2 die Ergebnisse eines berühmten Experimentes zum α-zerfall von Rutherford und Geiger [Rutherford, Geiger 1910] an. Für jede Häufigkeit k von α-teilchen bei einem Messintervall ist die Zahl der Messungen angegeben, bei denen genau k α-teilchen gefunden wurden. Anzahl von Zeitintervallen (Länge 7.5 s) mit k Teilchen pro Zeitintervall k N k (Experiment) N k (Theorie) Tab. 2.2 Häufigkeiten N k von Experimenten in denen k α-teilchen in einem Zeitintervall von 7.5 s gefunden wurden. Weiterhin sind in der letzten Spalte die mit der Poissonverteilung berechneten Werte angegeben. Selbstverständlich weicht die experimentelle Realisierung der Verteilung etwas vom theoretischen Wert ab, einmal wegen der statistischen Schwankungen, zweitens wegen des Unterschiedes zwischen Binominalund Poissonverteilung und schliesslich auch wegen der Messfehler (siehe auch [Kreyszig 1998] und [Feller 1968] für eine weiterführende Diskussion).

73 66 2 Elementarreaktionen Die stochastische Natur der Kinetik des radioaktiven Zerfalls ist hier allerdings subtil. Sie ergibt sich aus unserer Beobachtungsanordnung mit Zählung von kleinen Zahlen von Teilchen in Zeitintervallen, die sehr kurz sind gegenüber der Zerfallszeit. Wir könnten hier auch sehr große Zeitintervalle wählen für die sich sehr große Werte von λ und beliebig kleine Werte für die relative Schwankung k/λ ergeben. Die Poissonverteilung strebt dann gegen eine Gaussverteilung. Das ist immer dann möglich, wenn die Stoffmenge des zerfallenden Isotops groß ist (von der Grössenordnung 1 mol, wie in der Chemie üblich). Die Situation ändert sich, wenn die Ausgangsstoffmenge klein ist. Solch eine Situation findet man bei der Synthese schwerer Elemente mit Ordnungszahlen grösser als 105 vor, bei dem Zerfall von Spuren radioaktiver Isotope in einer Mischung, wie für den Neutrinonachweis in Kapitel erwähnt oder ähnlich gelagerten Fällen. Dann ist die stochastische Beschreibung essentiell und die Schwankungen lassen sich nicht durch eine Änderung des Messverfahrens unterdrücken. In der physikalischen Chemie gibt es Experimente, wo nur wenige Teilchen beobachtet werden, etwa bei der spontanen Lichtemission nach vorheriger Anregung. Man darf aber auch hier nicht vergessen, die Gültigkeit der statistischen Grundannahmen zu überprüfen, die nicht immer gegeben ist. Anmerkung: In der Literatur zur Datierung mit Hilfe der 14 C-Methode [Libby 1955] wird ein Wert von (16.1±0.5) Zerfälle pro Minute und pro Gramm frischen natürlichen Kohlenstoffs angegeben. Berechnen Sie hieraus x( 14 C) Abschließende Bemerkungen und Ausblick Kapitel 2 hat eine einfache Vorstellung von chemischen Elementarreaktionen und ihren Zeitgesetzen vermittelt. Es stellen sich nun folgende Fragen, die wir in den späteren Kapiteln beantworten wollen: 1. Welche experimentellen Methoden stehen zur Verfügung, wenn man den Mechanismus einer Reaktion aufklären möchte, etwa ob sie elementar ist, und wie läßt sich die Geschwindigkeit messen ( Kap. 3)? 2. Welches ist der genaue molekulare Verlauf einer Elementarreaktion und welche Parameter beeinflussen ihre Geschwindigkeit? Wie kann man diese Geschwindigkeit theoretisch berechnen ( Kap. 4)? 3. Wie kann man die wenigen, einfachen Elementarreaktionen als Bausteine verwenden, um komplexe Reaktionssysteme zusammenzusetzen ( Kap. 5)?

74 3 Experimentelle Methoden der Reaktionskinetik Fuggi i precetti di quelli speculatori che le loro ragioni non sono confermate dalla isperienza Leonardo da Vinci Das Ziel dieses Kapitels ist das Verständnis der Prinzipien der experimentellen Methoden der Kinetik. Die experimentellen Details würden den Rahmen dieser Vorlesung sprengen. Wir wollen jedoch einen Überblick verschaffen, ausgehend von den einfachsten Methoden, die seit vielen Jahrzehnten praktiziert werden - auch im chemischen Praktikum - bis hin zu modernsten Verfahren, die tiefe Einblicke in die molekularen Mechanismen der Kinetik auf kürzesten Zeitskalen erlauben. Wir können die zu besprechenden Techniken grob in zwei Klassen einteilen: A: Einfache Verfahren (Kapitel 3.1 und 3.2); sie sind zum Studium von Gesamtreaktionen einfacher und komplexer Systeme geeignet und erfassen normalerweise den Zeitbereich t > 1 s. B: Fortgeschrittene Verfahren (Kapitel 3.3 und folgende); sie eignen sich für die Erforschung schneller Reaktionen, insbesondere für Elementarreaktionen und molekulare Primärprozesse und erfassen den Zeitbereich t < 1 s, bis hin zur Femtosekundenzeitskala und prinzipiell auch noch kürzere Zeiten. Die Übergänge zwischen den beiden Gruppen sind nicht genau festzulegen. Praktisch jede experimentelle Technik, die wir in den folgenden Kapiteln besprechen, hat eine einfache Grundidee. Besonders bei den fortgeschrittenen Verfahren lohnt es, sich diese einzuprägen und sich vielleicht zu neuen Ideen anregen zu lassen. Es geht hier in erster Linie um die Konzepte, weniger um experimentelle Apparaturen. Beides ist wichtig, aber das Verständnis der Apparaturen kann sinnvoll nur im praktischen Arbeiten im Labor erreicht werden, nicht durch Lektüre.

75 68 3 Experimentelle Methoden 3.1 Messung von Zeit, Temperatur und Konzentration Zeitmessung Zur Festlegung der Sekunde wird nach internationaler Konvention seit 1967 die Cäsium-133-Atomuhr benutzt. Es gilt 1 s τ( 133 Cs) (3.1) wobei τ( 133 Cs) s 0.11 ns die Periode des Hyperfeinstrukturüberganges (F = 3 F = 4) im Grundzustand ( 2 S 1/2 ) des Cs-Isotops 133 mit dem Kernspin I = 7/2 ist. Sehr genaue Zeitmessungen mit einer relativen Genauigkeit von sind mit dem Wasserstoffatommaser möglich, der einen analogen Hyperfeinstrukturübergang (F = 0 F = 1) benutzt. Anmerkung: Maser Microwave Amplification by Stimulated Emission of Radiation (s. auch Laser, Kap. 3.7). Die prinzipielle Funktionsweise der Atomuhr wird in Kap kurz erläutert. Weitergehende Grundlagen finden sich in Band 2. Im Zeitbereich der einfachen Verfahren, t > 1 s, arbeitet man mit mechanischen Stoppuhren oder Quarzuhren, die mit Hilfe von Atomuhren geeicht werden können. Die Periode von Quarzoszillatoren liegt im µs Bereich und man erreicht relative Genauigkeiten von Frühere Zeitmessungen verwendeten die Planetenbewegung als Zeitbasis, wobei bis zum Jahr 1967 die Sekunde als ein geeigneter Bruchteil des tropischen Jahres 1900 definiert war (konsistent mit der heutigen Sekunde, 1 a = s, aber viel weniger genau, das gewöhnliche Jahr nimmt um s pro Jahrhundert ab). Für Vergleichszwecke und zur Standardisierung bei extrem genauen Messungen muß man an der Zeitmessung durch die Atomuhr relativistische Korrekturen für das Gravitationsfeld und die Bewegung der Erde im Weltraum anbringen. Die Geschwindigkeit der Erde relativ zur kosmischen Hintergrundstrahlung von 2.7 K ist durch Messung des Dopplereffektes an dieser Strahlung zu etwa 400 km s 1 bekannt. Dementsprechend kann man heute prinzipiell eine kosmische Zeitskala bezogen auf den Schwerpunkt des Universums mit einer relativen Genauigkeit von etwa festlegen. In der chemischen Kinetik wird eine solche Genauigkeit für die Messung von Zeitintervallen in der Regel nicht benötigt. Es stellt sich weiterhin noch die Frage nach einer Festlegung der Richtung der Zeitskala. Im täglichen Leben erscheint diese Festlegung durch das Phänomen der Irreversibilität makroskopischer Vorgänge offensichtlich. Im mikroskopischen Bereich ist dies jedoch bis heute eine prinzipiell nicht restlos geklärte Frage. In der Praxis verwendet man den radioaktiven Zerfall instabiler Elemente als historisch gerichtete Uhr, die neben der genauen Messung eines

76 3.1 Zeit, Temperatur und Konzentration 69 Zeitintervalls durch die Atomuhr auch eine historische Zeitrichtung festlegt. Zum Beispiel kennt man auf diesem Wege recht genau das Alter des Sonnensystems zu 4.56 Milliarden Jahren vom Beginn der Kondensation aus dem ursprünglichen Gasnebel. Analog kann man irdische Materialien wie Gesteine oder historische Dokumente datieren. Das löst allerdings nicht die prinzipielle Frage der Zeitrichtung auf einer mikroskopischen Zeitskala. Diese Frage ist mit den fundamentalen Symmetrien der Physik verknüpft, worauf wir in Band 2 noch genauer eingehen werden Temperaturmessung Der Temperaturbegriff ist in der Kinetik von Bedeutung, da die Reaktionsgeschwindigkeit sehr stark von der Temperatur des Systems abhängen kann. Unter Vorwegnahme eines Ergebnisses der genaueren Behandlung in Kapitel 4 können wir hier die Arrheniusgleichung für die Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten k(t) angeben: k(t) = A exp ( E A /RT) (3.2) Der Arrheniusvorfaktor oder präexponentielle Faktor nach Arrhenius A und die Aktivierungsenergie nach Arrhenius E A sind in erster Näherung temperaturunabhängige Konstanten. Bei von Null verschiedenen, genügend großen Werten von E A (normalerweise positiv) findet man eine sehr ausgeprägte, exponentielle Temperaturabhängigkeit. Eine Messung und Angabe von k(t) ist also nur bei gleichzeitiger, genauer Angabe der Temperatur sinnvoll. Das Konzept der Temperatur, der nullte Hauptsatz und die Methoden der Temperaturmessung werden ausführlich im Rahmen der klassischen Thermodynamik behandelt (siehe [Denbigh 1981], Kap. 1.4). Man verwendet in der Kinetik wie auch in der Thermodynamik die üblichen Thermometer. Anmerkung: Die Temperatur ist in der Kinetik nicht immer wohldefiniert. Die Definition der Temperatur ist an Systeme gebunden, die im thermischen Gleichgewicht sind. Die Kinetik befasst sich aber gerade mit Systemen, die noch nicht im Gleichgewicht sind, sondern sich erst auf dem Weg dorthin befinden. Man wird gezwungen, zusätzliche Abmachungen zu treffen. So kann beispielsweise auf die Translationstemperatur zurückgegriffen werden, die mit der mittleren kinetischen Energie E kin verknüpft ist (k B ist die Boltzmannkonstante): E kin = 3 2 k BT (3.3a) T = 2 3k B E kin (3.3b)

77 70 3 Experimentelle Methoden Im Band 2 über statistische Thermodynamik und Kinetik wird ein Temperaturbegriff eingeführt, der auch für kinetische Systeme mit Nichtgleichgewichtsbedingungen sinnvoll ist. Zur Temperaturbestimmung in kinetischen Systemen wird gelegentlich auch die Geschwindigkeit einer Vergleichsreaktion gemessen, deren Temperaturabhängigkeit genau bekannt ist Konzentrationsmessungen (i) Probenentnahme und Abschrecken : Durch rasches Abkühlen einer Probe kann die Reaktion bei starker Temperaturabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit praktisch zum Stillstand gebracht werden. Anschließend können analytische Methoden, wie Gaschromatographie oder Massenspektroskopie und viele andere, zur Messung der Konzentration eingesetzt werden. (ii) In situ Messung: Mit Hilfe der folgenden, nach Frequenzbereichen geordneten spektroskopischen Methoden lässt sich die zeitabhängige Konzentration der Reaktionspartner in einem Reaktionsgemisch messen: Kernmagnetische Resonanz (NMR) Elektronenspin-Resonanz (ESR) Mikrowellenspektroskopie (MW) Infrarotspektroskopie (IR) Optische Spektroskopie (UV, VIS) Daneben gibt es noch spezielle Techniken, etwa durch Kombination mit Lasern, wie die lasermagnetische Resonanz (LMR) oder laserinduzierte Fluoreszenz (LIF) etc. Unter gewissen Voraussetzungen gilt in der Absorptionsspektroskopie das Lambert-Beersche Gesetz mit dem frequenzabhängigen Absorptionsquerschnitt σ(ν): ( ) I0 A = ln = σ(ν)cl (3.4) I A heißt Absorbanz, l ist die Länge des Absorptionsweges in der Probe, I 0 die einfallende, I die transmittierte Intensität. Aus den gemessenen Intensitäten läßt sich die Konzentration C(t) ermitteln (siehe aber Anmerkung am Ende von Kapitel 3.1.3). Da der Absorptionsquerschnitt σ(ν) bei Gasen oft konzentrationsabhängig ist, führt eine modifizierte Version des Lambert-Beerschen

78 3.1 Zeit, Temperatur und Konzentration 71 ln ( I) I 0 ν a ν b ν Bild 3.1 Schema der Integration über eine Absorptionsbande von ν a bis ν b. Gesetzes zu besseren Resultaten: ν b ν a ln ( ) I0 I ν b dν = Cl ν a σ(ν)dν (3.5a) Die Integration wird über eine Absorptionsbande im Spektrum ausgeführt, die einem Reaktionspartner eindeutig zugeordnet werden kann (siehe Bild 3.1). Es kann sinnvoll sein, ln ν als Integrationsvariable zu wählen, also ln(ν b ) ln(ν a ) ln(i 0 /I)d ln ν = ν b ν a ln(i 0 /I)ν 1 dν (3.5b) zu bestimmen. Die Verwendung von Gl. (3.5) beruht auf der Tatsache, daß die integrierte Linienstärke (oder Bandenstärke) S in der Regel wesentlich besser konstant (unabhängig von C und anderen experimentellen Parametern) ist als σ(ν) S = ν b ν a σ(ν)dν (3.5c) Eine für manche Zwecke noch bessere molekulare Konstante ist der sogenannte integrierte Absorptionsquerschnitt G, der dieselbe Dimension wie σ(ν) hat: G = ln(ν b ) ln(ν a ) σ(ν)d ln ν = ν b ν a σ(ν)ν 1 dν (3.5d)

79 72 3 Experimentelle Methoden Oft verwendet man in der praktischen Analytik statt des natürlichen Logarithmus (ln x log e x) den dekadischen Logarithmus (log 10 x lg x) und statt der molekularen Konzentration C die molare Konzentration c (dekadische Absorbanz A 10 ) def A 10 = lg(i 0 /I) = ε 10 c l (3.6) Der Index 10 am dekadischen Extinktionskoeffizienten wird meist weggelassen (aber Vorsicht: nicht mit Dielektrizitätskonstante ε verwechseln!). Weiterhin ist auch ein molarer Absorptionsquerschnitt gebräuchlich σ mol = 1 c l ln(i 0/I) (3.7) Auch andere Beobachtungsgrößen können hilfreich sein, wie (iii) der Brechungsindex die optische Rotation (Drehung der Polarisationsebene von linear polarisiertem Licht) die Lichtstreuung (Rayleigh oder Ramanstreuung) die Lumineszenz (Fluoreszenz oder Phosphoreszenz) Messung makroskopischer Größen Bei Gasreaktionen, bei denen sich die Gesamtstoffmenge n ändert, also Σν i = n 0, das Volumen aber konstant bleibt, kann der zeitabhängige Druck die Meßgröße für die Kinetik sein (barometrische Methode). Wird hingegen der Druck festgehalten, kann das Volumen zur Beobachtungsgröße werden, man spricht von dilatometrischen Methoden. Für kinetische Untersuchungen von Ionenreaktionen eignet sich die Messung der elektrischen Leitfähigkeit, bzw. des Widerstandes. Man spricht von konduktometrischen Methoden. Ferner kann auch die Dielektrizitätskonstante ε als Stoffkonstante für kinetische Messungen verwendet werden. Anmerkung zur Verwendung von Gl. (3.5) anstelle von Gl. (3.4): Bei Absorptionslinien in Gasen führt eine Erhöhung des Gasdruckes zu einer Linienverbreiterung, wobei in guter Näherung das Integral in Gl. (3.5d) nicht aber der Absorptionsquerschnitt σ max auf dem Linienmaximum unabhängig vom Gasdruck (p c) ist. (Stoßverbreiterung, siehe Diskussion in Kap )

80 3.1 Zeit, Temperatur und Konzentration Beispiel einer absorptionsspektroskopischen Untersuchung in der Reaktionskinetik Als Beispiel sollen hier die Probleme bei einer absorptionsspektroskopischen Untersuchung genauer diskutiert werden. Im seltenen, idealen Fall findet der Spektroskopiker die Spektren des Reaktanden und des Produktes aufgelöst, die Linien sind also getrennt, sie überlappen nicht (Bild 3.2). Hier kann man die in Kapitel diskutierte Auswertung vornehmen. ln ( I) I 0 t 0 t 1 t 2 t 3 Reaktand Bild 3.2 Spektrum einer Absorbanz A(ν) = ln(i 0 /I), ideal. Produkt ν Die Realität sieht allerdings meist anders aus, die Spektren des Reaktanden und des Produktes überlappen (Bild 3.3). ln ( I) I 0 t 0 t 1 t 2 t 3 ν Bild 3.3 Spektrum A(ν) = ln(i 0 /I), Teilspektren (schematisch).

81 74 3 Experimentelle Methoden ln ( I) I 0 isosbestischer Punkt t 1 t 2 t 3 ln ( I I ) 0 ν ν Bild 3.4 Spektrum A(ν) = ln(i 0 /I), real, Gesamtspektrum (schematisch). Im Experiment findet man in diesem Fall das Gesamtspektrum in Bild 3.4 als Überlagerung der Teilspektren. Bei einer Frequenz ν ist ln(i 0 /I ) von der Zeit t unabhängig, diese Stelle nennt man den isosbestischen Punkt. Faustregel: Die Existenz eines isosbestischen Punktes deutet auf eine einfache Stöchiometrie der untersuchten Reaktion hin. Beim isosbestischen Punkt gilt l i σ i C i = const (3.8) für zwei Stoffe B 1 und B 2 gilt also: σ 1 C 1 l + σ 2 C 2 l = const (3.9) C 1 + σ 2 σ 1 C 2 = const lσ 1 = const (3.10) Wenn am isosbestischen Punkt das Verhältnis σ 2 /σ 1 eine ganze Zahl ist, beispielsweise eins oder zwei, erhält man: σ 2 σ 1 = 1 C 1 + C 2 = const Stöchiometrie: B 1 = B 2 (3.11) σ 2 = 2 C 1 + 2C 2 = const Stöchiometrie: 2B 1 = B 2 (3.12) σ 1 oder allgemeiner ν 1 σ 1 = ν 2 σ 2 (3.13a)

82 3.1 Zeit, Temperatur und Konzentration 75 Analoge Ergebnisse erhält man für andere Stöchiometrien, was als Regel nützlich ist. Die tatsächliche Stöchiometrie läßt sich hier durch separate Bestimmung der Absorptionsquerschnitte von Reaktanden und Produkten am isosbestischen Punkt bestimmen. Gl. (3.13a) läßt sich offenbar verallgemeinern zu Gl. (3.13b), welche die Absorptionsquerschnitte σ i (ν ) am isosbestischen Punkt mit den stöchiometrischen Koeffizienten verknüpft: ν i σ i = 0 (3.13b) i Mißt man an einer Stelle außerhalb des isosbestischen Punktes, so kann die Kinetik im Detail analysiert werden. Das folgende Beispiel eines katalysierten Ligandenaustausches in wässeriger Lösung soll dies näher erläutern: {Co(NH 3 ) 5 Cl} 2+ + H 2 O = {Co (NH 3 ) 5 H 2 O} 3+ + Cl (3.14) Katalysator: Hg (ClO 4 ) 2 oder Hg 2+ in H 2 O Man bestimmt eine zeitabhängige Absorbanz A ( ) I0 A = ln = f(t) = (σ 1 C 1 + σ 2 C 2 )l (3.15) I wobei C 1 die Konzentration des Chlorkomplexes, C 2 die Konzentration des Monoaquokomplexes ist. Im Gleichgewicht, für t, findet man nur noch den Monoaquo-Kobaltkomplex, also gilt: ( ) I0 A = ln = σ 2 C tot l (3.16) I mit und oder A A C tot = C 1 + C 2 (3.17) = [σ 1 C 1 + σ 2 (C 2 C tot )] l = [σ 1 C 1 + σ 2 (C 2 C 1 C 2 )]l = C 1 l (σ 1 σ 2 ) (3.18) ln (A A ) = ln [C 1 (σ 1 σ 2 ) l] (3.19) Nach welchem Zeitgesetz könnte diese Reaktion verlaufen (vergl. Kap )? Nimmt man eine Kinetik 1. Ordnung an, dann gilt für C 1 : ln C 1 (t) = ln C 1 (t 0 ) k(t t 0 ) (3.20)

83 76 3 Experimentelle Methoden ln A - A Steigung: - k t Bild 3.5 ln(a A ) als Funktion der Zeit. Setzt man Gl. (3.20) in Gl.(3.19) ein, so erhält man: ln (A A ) = ln {C 1 (t 0 ) (σ 1 σ 2 )l} k (t t 0 ) (3.21) Die lineare graphische Darstellung der Meßresultate in Bild 3.5 bestätigt die getroffene Annahme. Das Experiment liefert folgende Reaktionsgeschwindigkeitskonstante: k = s 1 mit [ Hg 2+] = 0.1 mol dm 3 (3.22) Man findet weiterhin durch Variation der Katalysatorkonzentration, daß k proportional zu [ Hg 2+] ist: k = k [ Hg 2+ ] (3.23) Also ist k = dm 3 mol 1 s 1. Die Kinetik dieser Reaktion ist diskutiert in [Wilkinson 1980]. Ein weiteres, schönes Beispiel, das sich für Praktikumsversuche eignet, ist die Entfärbung des Triphenylmethanfarbstoffes Malachitgrün M + (Bild 3.6) durch OH oder H 2 O M + + OH = MOH (3.24) M + + H 2 O = MOH + H + (3.25)

84 + + J 3.1 Zeit, Temperatur und Konzentration 77! " # $ % Bild 3.6 Zeitabhängige Absorbanz bei der spektroskopischen Untersuchung der Reaktionen Gl.(3.24) und Gl.(3.25) von Malachitgrün. 0! + + 0! 0! + + 0! + 0! + 0! + 0! + 0! Schema 3.1 Struktur von Malachitgrün, M + in Gl. (3.24) (2 Resonanzstrukturen nach Pauling). Bei einem Überschuß von OH (und H 2 O als Lösungsmittel) verläuft die Reaktion nach scheinbar 1. Ordnung in M +. M + hat eine starke Absorptionsbande bei 620 nm, die während der Reaktion völlig verschwindet. Das Carbinol absorbiert bei 255 nm, dazwischen gibt es weitere Absorptionen und isosbestische Punkte (das Beispiel ist behandelt in [Försterling, Kuhn 1991] und Gegenstand eines Versuches im physikalisch-chemischen Grundpraktikum an der ETH [Meister 2000] ). Spektroskopische Verfahren zur Auswertung der Geschwindigkeiten chemischer Reaktionen analog zu den hier diskutierten finden sehr häufige Anwendung in

85 78 3 Experimentelle Methoden der Kinetik. Es lohnt, sich die Prinzipien einzuprägen. 3.2 Methoden zur Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes Wir wollen hier die grundlegenden Methoden zur experimentellen Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes und insbesondere der Reaktionsordnungen und Geschwindigkeitskonstanten einfacher Reaktionen besprechen. Nahezu jeder Chemiker wird im Laufe seiner Tätigkeit diesen Methoden einmal in der Praxis begegnen. Wir werden hier im Wesentlichen fünf elementare Auswertungsmethoden reaktionskinetischer Daten kennen lernen und auch auf einige prinzipielle Fragen der Auswertung experimenteller Daten eingehen Integrationsmethode Diese Methode ist schon durch Kapitel 2 vorbereitet. Sie ist besonders naheliegend, führt jedoch zu einer voreingenommenen Auswertung. Die Ergebnisse sind dann auch mit Vorsicht zu interpretieren, etwa: Diese Reaktion verläuft am ehesten nach einem Zeitgesetz 2. Ordnung. Die anderen Ordnungen erscheinen aufgrund der Meßresultate und deren Auswertung weniger wahrscheinlich. Die Integrationsmethode liefert stets eine relative, vergleichende Aussage: eine Reaktionsordnung erscheint dem Experimentator wahrscheinlicher als die andere, grundsätzlich ebenfalls mögliche. Man geht in folgenden Schritten vor: 1. Man wählt als Ansatz ein einfaches Zeitgesetz, aufgrund einer bestehenden Theorie, durch Intuition oder man probiert alle einfachen Zeitgesetze systematisch aus. 2. Dieses gewählte Gesetz wird nach Möglichkeit auf eine lineare Form gebracht: 1 ln c = f(t) oder c = g(t) etc. 3. Es folgt die entsprechende graphische Auftragung der Meßresultate. 4. Man wertet die Daten numerisch mit Hilfe der Methode der kleinsten Fehlerquadrate (siehe Anhang) aus und entscheidet sich aufgrund der Korrelationskoeffizienten und der Graphik für ein bestes Geschwindigkeitsgesetz.

86 ÐÒ ÑÑÓÐ Ñ µ 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes 79 Beispiel: Acetylierung von Coenzym A (CoASH) mit gleichen Anfangskonzentrationen von CoASH und Acetylchlorid): CoA SH + CH 3 -COCl = CoA-S-COCH 3 + HCl (3.26) 1. Versuch: 1. Ordnung (Bild 3.7) ln c = ln c 0 kt (3.27)! # # ÈË Ö Ö ÔÐ Ñ ÒØ # # # #! Ø Bild 3.7 Auftragung nach 1. Ordnung. Man erkennt Abweichungen von der Geraden und eine systematische Krümmung. Ein Punkt fällt aus der Reihe ( ). 2. Versuch: 2. Ordnung, (Bild 3.8) Stöchiometrie A + B = Produkte mit c 0 A = c0 B = c 0 1 c = 1 c 0 + kt (3.28) Von beiden geprüften Alternativen scheint die zweite besser zu sein, denn sie zeigt nur statistische, keine systematischen Abweichungen. Die Auswertung nach der Methode der kleinsten Fehlerquadrate ist im Anhang erläutert, ebenso wie die Berechnung und Interpretation von Korrelationskoeffizienten. Gelegentlich kann man zusätzliche Randbedingungen vorgeben, z.b. daß die Gerade durch den Nullpunkt gehen muß. Das Beispiel der Acetylierung von Coenzym A mit gleichen Anfangskonzentrationen der Reaktanden (10 mmol dm 3 ) ist vorgerechnet in [Price, Dwek 1979].

87 80 3 Experimentelle Methoden ½ ÑÑÓÐ ½ Ñ "! #! # # ÈË Ö Ö ÔÐ Ñ ÒØ # # # # #!! # Ø Bild 3.8 Auftragung nach 2. Ordnung. Es gibt statistische aber keine systematischen Abweichungen von der Geraden. Ein Punkt fällt aus der Reihe ( ). Anmerkung: Eine graphische Darstellung ist ein wesentlicher Schritt der Auswertung, da sie einen Überblick verschafft. In solchen Darstellungen werden alle Meßpunkte eingezeichnet. Wenn ein einzelner Punkt aber ganz offensichtlich aus der Reihe tanzt, darf er für die numerische Auswertung (aber nicht in der Meßdatentabelle und in der Graphik!) mit gutem Gewissen weggelassen werden, wobei man in der Diskussion darauf hinweist. Analoges gilt für alle wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht nur für die Kinetik. Falls allerdings viele Messungen aus der Reihe tanzen, muß das Meßverfahren erst noch einmal durchdacht werden. Ein gutes historisches Beispiel für eine sorgfältige Dokumentation von Meßresultaten sind die Experimente von Millikan zur Bestimmung der Elementarladung. Die Grundidee des Experimentes ist das Auftreten ganzer Vielfacher einer Elementarladung. Nun hat Millikan mit seinem Öltröpfchenversuch gelegentlich auch Ladungen festgestellt, die z.b. einem Drittel der vermuteten Elementarladung entsprachen und dies auch in einer Fußnote erwähnt, diese Werte aber nicht in die Analyse seiner Resultate miteinbezogen. Bis heute weiß niemand, ob diese Drittelsladungen etwas mit den Drittelsladungen der hypothetischen Quarks zu tun haben. Dies gilt als eher unwahrscheinlich, könnte aber doch vermutet werden. Nach 1970 wurden, angeregt durch die Berichte von Millikan, Versuche unternommen, in ähnlichen Experimenten Drittelsladungen von hypothetischen Quarks auf Niobkügelchen zu finden. Obwohl diese Versuche in einigen Fällen ein positives Resultat erbrachten, konnten sie später nicht mehr reproduziert werden und gelten heute nicht mehr als glaubwürdig.

88 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes 81 Die Millikanschen Publikationen waren im Übrigen später (in den Jahren nach 1985) Gegenstand einiger Kontroversen. Während Millikan nämlich in den frühen Publikationen das Verwerfen von Ausreissern klar vermerkt hat, hat er in einer Publikation 1913 explizit geschrieben, er habe alle Daten in die Auswertung einbezogen, während aus Labordokumenten hervorgeht, daß er weiterhin die schlechten Daten verwarf. Während das Auswerten der Daten vermutlich einem korrekten Vorgehen entsprach, war die Behauptung in der Publikation 1913 nicht korrekt Zur Verwerfung von Beobachtungsergebnissen Die Behandlung von schwarzen Schafen oder Ausreissern in einer Meßreihe gibt gelegentlich Anlaß zu Diskussionen. Hier gilt zunächst einmal ohne jede Einschränkung, daß in der Dokumentation der Primärdaten in einem Laborjournal, einem Bericht oder einer ausführlichen Publikation immer alle Meßergebnisse genau so aufgeführt werden müssen, wie sie erhalten wurden. Bei der Ermittlung von Sekundärdaten (zum Beispiel hier der Geschwindigkeitskonstanten) kann es jedoch durchaus sinnvoll und auch geboten sein, Ausreisser unter explizitem Vermerk dieser Tatsache bei der numerischen Auswertung wegzulassen. Es ist ja eine offensichtliche Feststellung des praktisch arbeitenden Experimentators, daß gelegentlich auch sogenannte dumme Fehler gemacht werden. Wenn man dies während des Experimentes bemerkt, bricht man es logischerweise ab und macht ein neues Experiment. Manchmal bemerkt man den Fehler allerdings nicht während des Experimentes und stellt erst anhand des Meßergebnisses fest, daß wahrscheinlich ein solcher Fehler gemacht wurde. Es würde die Präzision der ermittelten Sekundärdaten unnötig verschlechtern, wenn man solche schlechten Primärdaten in die Auswertung mit einbeziehen würde. Es gibt auch statistische Rezepte nach denen man auf Ausreisser schließen darf. Man kann Meßdaten, die um mehr als das Fünffache des wahrscheinlichen Fehlers der übrigen Meßreihe vom erwarteten Wert abweichen als Ausreisser betrachten (nach [Margenau, Murphy 1965], Kap ). Allerdings muß man bei der Einführung solcher Automatismen noch vorsichtiger sein als bei einer expliziten Einzelentscheidung des Experimentators. Es kann nämlich auch sein, daß die Ausreisser echte Meßwerte darstellen und die große Abweichung in Wahrheit der Schlüssel zu einer Entdeckung sind, die man lieber nicht verpassen sollte. Ein historisches Beispiel für eine verpaßte Entdeckung ist die verspätete Entdeckung des sogenannten Ozonlochs, das ist die drastische Abnahme der Ozonschicht über dem Südpol zu Beginn des antarktischen Frühlings. Diese Beobachtung wurde erstmals bewußt gemacht in Messungen von einer Bodenstation in der Antarktis, mehrere Jahre nachdem man schon in Satellitenmes-

89 82 3 Experimentelle Methoden sungen die Ozonschicht der Erde routinemäßig auf eine Abnahme überprüft hatte, da eine solche Abnahme durch Nebeneffekte der Fluorchlorkohlenwasserstoffe in der Stratosphäre durch Molina und Rowland 1974 vorhergesagt wurde (siehe Kapitel 5). Allerdings vermutete man eine allmähliche Abnahme der Ozonschicht, die zunächst auch gefunden wurde. Um die Auswertung der großen Datenmengen der Messungen von Satelliten aus zu vereinfachen, wurde eine erste automatische Auswertung mit Rechenprogrammen auf Computern vorgenommen, wobei die Programme gemäß einer statistischen Regel sehr große Abweichungen der Meßwerte für die Ozondichte als Ausreisser interpretierten und nicht für die Auswertungen berücksichtigten. Die Messungen über dem Südpol entsprachen solch großen Abweichungen und wurden automatisch verworfen. Die mit der Analyse der Satellitendaten befaßten Wissenschaftler bekamen auf diese Weise das Ozonloch nicht zu sehen. Allerdings wurden die Primärdaten gespeichert und man konnte nachträglich - also nach der viel späteren Entdeckung durch die Bodenstationsmessungen - das Ozonloch auch in den Satellitendaten bestätigen. Diese Geschichte ist kein Einzelfall und lehrt uns zweierlei. Erstens, daß es wichtig ist, die Primärdaten mit eigenen Augen kritisch und explizit anzuschauen, am Besten in einer übersichtlichen Graphik. Wäre das in berichteten Fall beherzigt worden, hätten die Wissenschaftler wohl die verdächtige Regelmässigkeit der Ausreisser jedesmal beim Überflug des Südpols im Frühling bemerkt. Das Vertrauen auf numerische, automatische Auswertungen kann fatal sein. Zweitens ist klar, daß selbstverständlich die Primärdaten stets komplett und unverfälscht dokumentiert werden müssen, unabhängig davon, was nachher in der Auswertung damit gemacht wird. So kann man wenigstens nachträglich Fehler bei der Auswertung überprüfen und korrigieren. Weiterhin muß man sich stets der Tatsache bewußt bleiben, daß jede Auswertung von Daten im Rahmen einer Hypothese oder Theorie ein subjektives Element enthält. Das ist in der Wissenschaft nicht verboten, es ist sogar ein wesentliches Element der wissenschaftlichen Kreativität. Man darf dieses subjektive Element aber weder unterschlagen noch vergessen und muß stets die gemachte Hypothese anhand objektiver Daten überprüfen und bei Bedarf über Bord werfen können. Im Fall der Integrationsmethode ist die Annahme einer einfachen ganzzahligen oder auch halbganzzahligen Reaktionsordnung ein solches subjektives Element, das eigentlich nur berechtigt ist, wenn man gleichzeitig klar sagt, daß man eine vernünftige Hypothese, wie z. B. die Annahme eines einfachen Geschwindigkeitsgesetzes für eine Elementarreaktion zugrunde legt. Das mag erlaubt sein. Es empfiehlt sich aber, auch andere Hypothesen und Auswerteverfahren auf denselben Datensatz anzuwenden, und erst nach Betrachtung aller Möglichkei-

90 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes 83 ten eine endgültige Interpretation der Daten zu akzeptieren. Im vorliegenden Fall sollte man neben der Integrationsmethode auch noch ein Verfahren zur Auswertung der Daten verwenden, das beliebige Reaktionsordnungen erlaubt. Das wird im folgenden Unterkapitel vorgestellt. Es gibt einen weiteren Fall, in dem ein Teil der Primärdaten bei der numerischen Auswertung nicht berücksichtigt wird. Wenn nämlich vom verwendeten Modell oder der verwendeten, vereinfachenden Theorie her klar ist, daß sie in gewissen Bereichen die Daten gar nicht beschreiben kann, so darf man diese Daten natürlich nicht zur Auswertung und Ermittlung von Parametern der vereinfachenden Theorie verwenden. Ein Beispiel ist die Bestimmung von Geschwindigkeitskonstanten einer Reaktion nullter Ordnung gemäß Kapitel Offensichtlich darf man nur die Daten aus dem linearen Bereich in Bild 2.11 (Bereich der Sättigung in Bild 2.12) zur Bestimmung von k verwenden und es wäre töricht, die anderen Daten mit einzubeziehen. Man versteht ja qualitativ durchaus die Gründe für die von der linearen Darstellung abweichenden Daten. Natürlich wäre ein noch besserer Weg die Verwendung einer Theorie, die alle Daten beschreibt. Eine solche Theorie ist aber nicht immer verfügbar. Solchen Situationen begegnet man in der experimentellen Wissenschaft sehr häufig. Es muß abschliessend auch klar gesagt sein, daß wenn immer Zweifel an der Berechtigung der Verwerfung von Daten in der numerischen Auswertung bestehen, auch die schlechten Daten mit in die numerische Auswertung einbezogen werden sollten. Dies wird in einer größeren statistischen Unsicherheit der ermittelten Parameter der Theorie resultieren, was jedenfalls realistischer ist, als eine hohe Präzision der Parameter nach Verwerfung zahlreicher Meßdaten unbesehen zu glauben Halbwertszeitmethode Für die Halbwertszeit t 1/2 gilt die folgende allgemeine Beziehung (unter den in Kap , Gl. (2.149) diskutierten Bedingungen) t 1/2 c 1 m 0 (3.29) m = Reaktionsordnung Die Experimentatorin bestimmt nun die Halbwertszeit für verschiedene Anfangskonzentrationen c 0 und verwendet (mit a = (2 m 1 1)/(k(m 1))). t 1/2 (c 0 ) = a c 1 m 0 (3.30) ln { t 1/2 (c 0 ) } = ln a + (1 m) ln c 0 (3.31) Aus der Steigung erhält sie die Reaktionsordnung m (Bild 3.9), und zwar

91 84 3 Experimentelle Methoden ln t 1 2 lna Steigung: (1 m) lnc 0 Bild 3.9 Logarithmus der Halbwertszeit als Funktion des Logarithmus der Anfangskonzentration: lineare Darstellung zur Illustration der Halbwertszeitmethode. Der Achsenabschnitt ist lna = ln(2 m 1 1) ln(k(m 1)). können beliebige, reelle Reaktionsordnungen erhalten werden. Deshalb liefert diese Methode etwas weniger voreingenommene Resultate als die Integrationsmethode. In der Praxis findet man oft gebrochene oder beliebige, reelle Reaktionsordnungen. Anmerkung: Linearisierung eines Potenzgesetzes durch Logarithmieren ist eine Standardmethode. Man muß nicht viele Experimente mit unterschiedlichen Anfangskonzentrationen durchführen, um diese Methode zu benutzen. Wenn man einen Datensatz hat, für den sich die Konzentration über einen großen Bereich erstreckt, kann man verschiedene Datenpunkte als Anfangskonzentrationen verwenden und bestimmen, nach welcher Zeit für diesen Wert der Konzentration wiederum der halbe Wert erreicht wurde (Daten interpolieren). Siehe Aufgabe im Übungsanhang Isolationsmethode Diese Methode erweist sich in der Praxis als sehr vielseitig. Stöchiometrie: Ansatz (siehe Kapitel 1.6): v c = 1 ν i d [B i ] dt ν 1 B 1 ν 2 B 2... = ν n B n +... (3.32) = k [B 1 ] m 1 [B 2 ] m 2... [B h ] m h [B i ] m i [B j ] m j [B k ] m k (3.33)

92 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes 85 Wahl der experimentellen Bedingungen: [B 1 ],..., [B h ],[B j ],[B k ] [B i ] (3.34) Die Konzentration eines Teilnehmers B i an der Reaktion wird sehr viel kleiner als alle anderen [B 1 ],..., [B h ],[B j ],[B k ] gewählt, diese Konzentrationen können somit als praktisch konstant angesehen werden, also v c = k eff [B i ] m i (3.35a) mit k eff = k m [B 1 ] m 1... [B h ] mh [B j ] mj [B k ] m k (3.35b) lnk eff Steigung: m j ln( [ B 1 ]) Bild 3.10 ln(k eff ) als Funktion von ln([b j ]): Illustration der Isolationsmethode Mit Hilfe der Halbwertszeitmethode läßt sich durch Auswertung von Gl. (3.35a) nach t 1/2 als Funktion von [B i ] die scheinbare Reaktionsordnung m i, also die wirkliche Reaktionsordnung bezüglich B i, bestimmen. Alsdann kann man die scheinbare Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k eff mit der Integrationsmethode ausrechnen. Wenn die Reaktionsordnung m i = 1 ist, so benötigt man zur Auswertung der Kinetik scheinbar erster Ordnung nur relative Konzentrationen [B i ] t / [B i ] 0 und keine Absolutwerte von [B i ] t. k m ist die Geschwindigkeitskonstante zur wirklichen Reaktionsordnung m = i m i. Die Variation der Konzentration eines Stoffes B j bietet eine Möglichkeit zur Bestimmung der Reaktionsordnung m j. Aus der Abhängigkeit von ln (k eff ) als Funktion von ln [B j ] erhält man direkt die Ordnung m j (Bild 3.10): ln (k eff ) = lnk + m j ln ([B j ]) (3.35c)

93 86 3 Experimentelle Methoden Methode der Anfangsgeschwindigkeiten Für die Reaktionsgeschwindigkeit gilt oft der Ansatz (vergl. Kap. 1.6): v c = 1 ν i d [B i ] dt = k [B 1 ] m 1 [B 2 ] m 2... (3.36) Aus dieser Beziehung definiert man eine Anfangsgeschwindigkeit, die Reaktionsgeschwindigkeit im ersten Zeitintervall t: vc 0 1 [ ] [Bi ] (3.37) ν i t t=0,0+ t Die Experimentatorin hält nun die Konzentrationen [B 2 ] bis [B n ] konstant und variiert nur [B 1 ]. Mit dieser experimentellen Anordnung wird die Anfangsgeschwindigkeit eine Funktion von [B 1 ]. v 0 c = f ([B 1 ]) = k eff [B 1 ] m 1 (3.38a) Aus der graphischen Darstellung erhält sie die Reaktionsordnung m 1 (Bild 3.11): ln vc 0 = ln k eff + m 1 ln [B 1 ] (3.38b) ln vc 0 lnk eff Steigung: m 1 ln( [ B 1 ]) Bild 3.11 lnv 0 c als Funktion von ln [B 1 ]: Illustration der Methode der Anfangsgeschwindigkeiten. In einer Reihe von weiteren Experimenten wird dies nun für alle anderen Konzentrationen ebenso durchgeführt. Wenn anwendbar, so hat die Methode

94 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes 87 der Anfangsgeschwindigkeiten den erheblichen Vorteil, daß die Reaktionsgeschwindigkeit unter wohldefinierten Konzentrationsbedingungen für alle Reaktionspartner bestimmt wird. Damit werden Probleme ausgeschlossen, die etwa bei der Integrationsmethode durch Einflüsse von gebildeten Folgeprodukten (z.b. Produktinhibition der Reaktion) zustande kommen können Differenzenquotient statt Differentialquotient Bei dieser Methode wird der Differentialquotient in der Differentialgleichung durch einen Differenzenquotienten ersetzt. Für das Zeitgesetz 1. Ordnung erhält man: dc dt = kc c t k = 1 c c t wobei c die mittlere Konzentration von c im Zeitintervall t ist. (3.39) Als Beispiel zu diesem Verfahren sei die Analyse der Meßergebnisse des Zerfalls von N 2 O 5 bei 35 C angeführt: Stöchiometrie: 1. Versuch: 1. Ordnung N 2 O 5 = 2NO O 2 (3.40) t/min p (N 2 O 5 ) atm t/ min p /atm k(p) 10 3 min Tab. 3.1 Berechnung von k(p) nach 1. Ordnung (p c)

95 88 3 Experimentelle Methoden Verläuft die betrachtete Reaktion tatsächlich nach einem Zeitgesetz 1. Ordnung, dann ist die auf diese Weise definierte Reaktionsgeschwindigkeitskonstante über die betrachteten, gleich großen Zeitintervalle konstant. Stellt man hingegen fest, daß die Werte für k einem Trend folgen, so schließt man, daß die untersuchte Reaktion eben eher nicht nach einem Zeitgesetz erster Ordnung verläuft. Entsprechend analysiert man dann die Meßergebnisse für die Zeitgesetze höherer Ordnung. c t ( ln c ) t = k c m (3.41) = ln k + m ln c (3.42) 2. Versuch: 2. Ordnung t/min p (N 2 O 5 ) atm t/min ln ( ) p min t atm ln( p /atm) k(p) 10 2 min Tab. 3.2 Berechnung von k(p) nach 2. Ordnung (p c) Die Werte für die Reaktiongeschwindigkeitskonstante k nach 2. Ordnung nehmen stetig zu. Der Zerfall von N 2 O 5 verläuft also eher nach einem Zeitgesetz 1. Ordnung. Das Beispiel des N 2 O 5 -Zerfalls wird in [Jost, Troe 1973] diskutiert.

96 3.2 Bestimmung des Geschwindigkeitsgesetzes Einfache Verfahren: Abschließende Bemerkungen und Ausblick auf fortgeschrittene Verfahren Es gibt viele komplexe Reaktionen, die nicht nach einem einfachen Zeitgesetz verlaufen und deshalb gar keine Reaktionsordnung aufweisen können. Darum strebt der Kinetiker eine möglichst große Zeitauflösung an, welche es gestattet, Elementarreaktionen zu untersuchen. Diese verlaufen stets nach einem einfachen Zeitgesetz, und die Analyse der Resultate wird einfacher und besser interpretierbar. Die einfache, eindeutige Auswertung der schnellen Elementarreaktionen muß man allerdings mit entsprechendem experimentellen Aufwand bezahlen. Die Prinzipien dieser fortgeschrittenen Methoden sollen im folgenden diskutiert werden.

97 90 3 Experimentelle Methoden 3.3 Strömungssysteme Rührkesselreaktor In der technischen Chemie ist dieses Verfahren in der Praxis wichtig. Die grundlegende Idee sei hier zusammengefaßt: Die Reaktanden werden dem Reaktor zugeführt. Eine effiziente Rührvorrichtung garantiert eine homogene Mischung der Reaktanden. Die Produkte werden dem Rührkessel entnommen, mögliche Folgereaktionen werden durch sofortiges Abschrecken der Probe unterdrückt. Anschließend erfolgt die Analyse der Produkte. Das Prinzip ist in Bild 3.12 gezeigt. Reaktanden Stoffzufuhr c 1 A B C homogen A + B = C + c 2 Produktaustritt Abschreckung Analyse Bild 3.12 Schema eines Rührkesselreaktors. Die mathematische Beschreibung verwendet die Volumengeschwindigkeit des Durchflusses: u = dv [ ] cm 3 [u] = (3.43) dt s und die mittlere Aufenthaltszeit: τ = V V = Volumen des Reaktors (3.44) u

98 3.3 Strömungssysteme 91 Man erhält die Reaktionsgeschwindigkeit mit der Eintrittskonzentration c 1 und der Austrittskonzentration c 2 von A: v c = d [A] dt = c 1 c 2 V/u (3.45) Diese Methode eignet sich wegen der relativ langen Mischzeit nur für ziemlich langsame Reaktionen und spielt deshalb in der modernen Kinetik eine etwas geringere Rolle. Der typische Zeitbereich für Halbwertszeiten von Reaktionen beträgt für diese Technik 10 s t 1/ s (3.46) Der Rührkesselreaktor ist jedoch auch von prinzipiellem Interesse als ein offenes Reaktionssystem, in dem komplexe Reaktionen untersucht werden können Strömungsrohr Der Grundgedanke, welcher zu dieser Meßmethode führt, ist die Transformation der Zeitachse auf eine Ortskoordinate. Im Experiment ersetzt der Kinetiker die in diesem Zeitbereich schwer erfaßbare Zeit durch eine gut meßbare Ortskoordinate. Die mathematische Beschreibung verwendet die konstante Strömungsgeschwindigkeit v Str : dx dt = v Str (3.47) also dt = dx v Str (3.48) Die Transformation x t ergibt sich aus der folgenden Gleichung: (t t 0 ) = (x x 0) v Str (3.49) Die Änderung der Konzentration in einem Intervall dx ist proportional zur entsprechenden Änderung während des Zeitintervalls dt, der Proportionalitätsfaktor ist die Strömungsgeschwindigkeit v Str des Systems. Diese Technik bewährt sich hervorragend für schnelle Reaktionen, etwa Atomrekombinationen in der Gasphase und andere Atomreaktionen. Bild 3.13 beruht auf der Annahme einer idealen Pfropfenströmung. Für den anderen Grenzfall der laminaren Strömung hat man das in Bild 3.14 gezeigte Strömungsprofil.

99 92 3 Experimentelle Methoden x t Pfropfenströmung homogene, ideale Mischung Beobachtung, Ort x variabel Bild 3.13 Schema eines Strömungsrohres. Selbst für diesen Fall mit komplizierter Wechselwirkung von Transportphänomenen, chemischen Reaktionen und globaler Strömung sind entsprechend schwierige, doch lösbare Transformationen gefunden worden. Die Eigenschaften und Anwendungen der betreffenden Lösungsmethoden findet man ausführlich diskutiert in [Eyring, Henderson, Jost 1967]. In dem Verfahren mit beschleunigter Strömung wird der Beobachtungsort festgehalten und man variiert die Strömungsgeschwindigkeit v Str. Man verwendet nun, daß die Zeit umgekehrt proportional zur variablen Strömungsgeschwindigkeit ist, Gl. (3.49). r v Str ( r) Bild 3.14 Laminares Strömungsprofil.

100 3.3 Strömungssysteme Angehaltene Strömung, stopped flow Das Schema einer stopped flow Apparatur ist in Bild 3.15 gezeigt. Während der Strömung erzeugt man zunächst einen stationären Zustand, in dem sich die Konzentrationen an einem gegebenen Ort nicht ändern (siehe c(t)-diagramm vor stop ). Beobachtung turbulente homogene Mischung feste Platte "stop" c ( t) c o( t ) c 1 ( t) "Stop" t Bild 3.15 Stopped flow Apparatur: Zwei Zylinder (links) enthalten die verschiedenen Reaktanden, die durch Kolben in die Beobachtungszone gepreßt und gemischt werden. Der Mischprozeßwird durch das Auftreffen des Kolbens rechts auf die Platte angehalten. Im unteren Teil des Bildes ist schematisch die Relaxation des Systems gezeigt, wie sie in der Beobachtungszone gesehen werden kann. Wird die Strömung durch das Aufprallen des Kolbens an der festen Platte angehalten, kann die Relaxation des Systems in sein neues Gleichgewicht beobachtet werden. Das kann in der Beobachtungszone zum Beispiel durch Absorptionsspektroskopie geschehen. Der Stoffverbrauch ist bei dieser Methode

101 94 3 Experimentelle Methoden geringer als bei den oben besprochenen Strömungsverfahren. Deshalb eignet sich die angehaltene Strömung ganz besonders auch zur Untersuchung von Reaktionen in kondensierter Phase. Allerdings braucht man im Gegensatz zum Strömungsrohr ein schnelles Meßverfahren mit einer Zeitauflösung von 1 ms oder etwas besser. Das ist mit moderner Elektronik allerdings kein Problem. Sehr viel schnellere Reaktionen können mit dieser Technik nicht untersucht werden, da eine gewisse Minimalzeit für die Herstellung einer homogenen Mischung in der Strömung benötigt wird. Das ist ein prinzipielles Problem aller Methoden, die eine Mischung von Reaktanden erfordern. Wir werden in den nächsten Kapiteln Methoden besprechen, die dieses Problem umgehen. 3.4 Relaxationsmethoden mit Anwendung einer kleinen äußeren Störung In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beruhten die meisten klassischen Verfahren der Reaktionskinetik auf der Herstellung einer Reaktionsmischung unter definierten Bedingungen und anschließender zeitlicher Beobachtung des Reaktionsverlaufs. Ein prinzipielles Problem bei der Untersuchung schneller Reaktionen ergibt sich dann durch die minimale Mischzeit, die für chemische Reaktionen benötigt wird. So entstand bis etwa 1950 die Vorstellung von unmeßbar schnellen Reaktionen, die wesentlich schneller verlaufen als sinnvoll denkbare Mischprozesse für die Erzeugung wohldefinierter Bedingungen. Ein Beispiel für solche Reaktionen ist die Neutralisation H + +OH H 2 O. Etwa ab 1950 wurde diese Herausforderung aufgegriffen und es wurden mehrere unabhängige Methoden entwickelt, die dieses Problem völlig umgehen, so daß Reaktionen auf Zeitskalen von µs und schneller untersucht werden können. Die meisten dieser Methoden gehen von einer homogenen Reaktionsmischung aus, die sich entweder im Gleichgewicht befindet oder metastabil ist. Hierauf wird eine plötzliche äußere Störung von sehr kurzer Dauer angewendet. Nach dieser Störung beobachtet man die chemischen Prozesse, etwa die Relaxation in ein neues Gleichgewicht. Die Zeitauflösung ist bestimmt durch die Dauer der Störung und die Zeitauflösung der Meßtechnik nach der Störung. Der Mischprozess spielt keine Rolle, außer allenfalls auf mikroskopischer Ebene, was wir im Kapitel über diffusionskontrollierte Reaktionen besprechen werden. Man nennt diese Methoden wegen der beobachteten Relaxationsprozesse allgemein Relaxationsmethoden. Prinzipiell kann man weiterhin noch zwei Gruppen von Relaxationsmethoden unterscheiden. In der ersten Gruppe wendet man nur eine kleine äußere Störung auf eine Gleichgewichtsmischung an. Dies führt zu einer kleinen Auslenkung aus der Gleichgewichtslage mit anschließender Rela-

102 3.4 Relaxationsmethoden 95 xation in das neue Gleichgewicht. Die Relaxationskinetik nimmt unter diesen Bedingungen eine besonders einfache Form an. Man spricht hier auch von Relaxationsmethoden im engeren Sinn. Je nachdem, welcher äußere Parameter plötzlich verändert wird (Temperatur, Druck etc.) hat man eine etwas andere Technik. Wir werden in diesem Unterkapitel zunächst diese Gruppe von Relaxationsmethoden abhandeln und in den folgenden Unterkapiteln auf Methoden mit einer großen äußeren Störung zu sprechen kommen, von denen einige eine extrem hohe Zeitauflösung erlauben Temperatursprung-Methode Diese Methode beruht auf kleinen, schnellen, genau definierten Veränderungen der Temperatur. Hierzu wird Mikrowellenheizung (Puls eines Radarsenders), eine Hochspannungsentladung durch Elektrolytlösungen oder auch neuerdings die Aufheizung durch Laserpulse verwendet (vergl. Aufgabenteil). Bild 3.16 zeigt das Schema des Experimentes. Strahlungsquelle für Nachweistechnik Mikrowellen oder Laserstrahl Probe spektroskopische Beobachtung Detektor Bild 3.16 Schema eines Temperatursprung-Experimentes. Bild 3.17 zeigt den zeitlichen Verlauf der Temperatur und der spektroskopisch beobachteten Konzentrationen. Diese Methode kann man auch Relaxationsspektroskopie nennen, man beobachtet zeitaufgelöst das Relaxationsverhalten der Probe mit den Relaxationszeiten τ 1, τ 2, τ Man muß bei der Auswertung dieser Experimente stets die Rückreaktion berücksichtigen, da sich das Reaktionssystem stets in der Nähe des Gleichgewichtes befindet.

103 96 3 Experimentelle Methoden δt 1µs a) T 2 T einige Grad T 1 t 0 t c c = f ( T) b) c e 2 c e 1 t 0 t c c) t 0 τ 1 τ 2 τ 3 ln ( t s) Bild 3.17 Zeitlicher Verlauf verschiedener Meßgrößen im T-Sprung-Experiment; a) Temperatursprung, b) Konzentrationsverlauf bei einfacher Relaxation, c) Konzentrationsverlauf bei komplexer Relaxation (logarithmische Zeitskala, schematisch, mit den Relaxationszeiten τ 1, τ 2, τ 3..., siehe Erläuterungen in Kap. 5). Die mathematische Beschreibung ergibt für Elementarreaktionen mit ihren Rückreaktionen in der Nähe des Gleichgewichtes immer ein einfaches exponentielles Geschwindigkeitsgesetz. Dies wollen wir an einigen Beispielen zeigen. 1. Für die unimolekulare Reaktion mit Rückreaktion ergab die Diskussion in Kap. 2.2 c A = c 0 A exp { (k a + k b )t} (3.50) mit c A = c A c eq A c 0 A = c0 A ceq A

104 3.4 Relaxationsmethoden 97 Die Relaxation bei unimolekularen Reaktionen verläuft immer nach einem Zeitgesetz 1. Ordnung (auch bei großen Auslenkungen aus dem Gleichgewicht). 2. Für bimolekulare Reaktionen nach Gl. (3.51) A + B k a P (Produkt) (3.51) k b definiert man eine Umsatzvariable x = c 0 A c A = c 0 B c B und eine kleine Auslenkung aus dem Gleichgewicht x in Gl. (3.52) wobei x e = c 0 A ceq A Kap. 2.3). x = c A c eq A = c B c eq B = ceq P c P = x e x (3.52) der Wert der Umsatzvariablen im Gleichgewicht ist (siehe Die Reaktionsgeschwindigkeit v c kann nun mit Hilfe von x wie folgt aufgeschrieben werden: v c = dc A dt = d x dt = k a c A c B k b c P (3.53a) = k a (c eq A + x)(ceq B + x) k b (c eq P x) = k a c eq A ceq B k bc eq P + x(k ac eq B + k ac eq A + k b) + k a x 2 Es gilt die Gleichgewichtsbedingung (3.53b) (3.53c) k a c eq A ceq B k bc eq P = 0 (3.54) In den nun folgenden Approximationen wird k a x 2 für kleine x vernachlässigbar betrachtet. Hiermit folgt aus Gl. (3.53c) v c = d x x {k b + k a (c eq A dt + ceq B )} (3.55a) k eff x (3.55b) k eff = {k b + k a (c eq A + ceq B )} (3.56) Durch die Integration des Zeitgesetzes erhält man demnach näherungsweise für die Auslenkung aus der Gleichgewichtslage: mit der Relaxationszeit τ R x = x 0 exp ( k eff t) = x 0 exp ( t/τ R ) (3.57) τ R = {k b + k a (c eq A + ceq B )} 1 (3.58)

105 98 3 Experimentelle Methoden Beispiel: Neutralisationsreaktion in H 2 O (erstmals von Eigen und Mitarbeitern bestimmt) τ R = s bei 23 C k a (c eq A + ceq B ) k b weil gilt k a m 3 mol 1 s 1 k b = s 1 (mit c eq A = ceq B = 10 7 mol dm 3 = 10 4 mol m 3, c eq P = 55 mol dm 3 ) 3. Für andere Reaktionstypen findet man in ähnlicher Weise die folgenden Beziehungen: τ 1 R 2A k a P k b = 4k ac eq A + k b (3.59a) (3.59b) A + B C + D τ 1 R = k a (c eq A + ceq B ) + k b (c eq C + ceq D ) (3.60a) (3.60b) Eine Tabelle von Relaxationszeiten für weitere Reaktionstypen findet man bei [Bernasconi 1976]. Eine Sammlung der historischen Arbeiten zur Relaxationskinetik, einschließlich der Arbeit über die Neutralisationsreaktion im Wasser findet man in [Eigen 1996]. Die Vorgehensweise bei der Herleitung dieser Ausdrücke für τ R ist immer gleich. Man formuliert das Geschwindigkeitsgesetz in einer geeigneten Auslenkungsvariablen x und vernachlässigt x 2 (und höhere Potenzen) wegen der geringen Größe von x Feldsprungmethode Da das Gleichgewicht von Ionenreaktionen durch ein äußeres elektrisches Feld verschoben wird, kann eine sprunghafte Änderung dieses Feldes ebenfalls zum Studium der Relaxationskinetik herangezogen werden. Die Analyse der Meßergebnisse erfolgt wie im Kapitel erläutert Drucksprung-Methode Die chemischen Gleichgewichte sind druckabhängig, auch hier liefert eine plötzliche Änderung des Druckes Information über das Relaxationsverhalten der Probe.

106 3.4 Relaxationsmethoden Schallabsorption und periodische Relaxation Adiabatische, periodische Druckänderungen werden als Schall bezeichnet. In Flüssigkeiten wie H 2 O sind geringfügige Temperaturänderungen zu erwarten. Durch Schallwellen, also periodische Druckwellen der Frequenz ω, kann eine periodische Störung des Gleichgewichtes erzeugt werden. In einem typischen Experiment mit hochfrequentem Ultraschall hat man etwa die Temperaturamplitude T K und Druckamplitude p 30 mbar. Bild 3.18 zeigt die Verhältnisse für verschieden schnelle chemische Relaxation. Man erkennt folgende Grenzfälle: ωτ R 1: Die Probe relaxiert schnell, die Auslenkung aus dem Gleichgewicht verläuft synchron mit der Schallwelle. ωτ R 1: Das System relaxiert, verglichen mit der Frequenz der Schallwelle, langsam. Es kommt nicht nach, die Phase wird verschoben, es resultiert eine Dämpfung und die Amplituden nehmen ab. Aus der Phasenverschiebung kann die Relaxationszeit berechnet werden. ωτ R 1: Sehr langsame Relaxation. yw(t)/a ωt/(2π) Bild 3.18 Periodische Auslenkung aus dem Gleichgewicht durch eine Schallwelle. Die durchgezogene Linie zeigt das zeitliche Verhalten von Druck- und Temperaturwelle, sowie das Konzentrationsverhalten bei sehr schneller Relaxation. Die anderen Funktionen stellen verschiedene Fälle mit ωτ R gemäß Tab. 3.3 dar. Für die mathematische Beschreibung gehen wir zunächst wieder von der Reaktion (3.51) als Beispiel aus. Analog zu Kap ergibt sich die zeitliche Änderung der Umsatzvariablen x proportional zur Auslenkung aus dem Gleichgewicht x e. Im Unterschied zu Gl. (3.55) schwankt x e jetzt aber mit der Tem-

107 100 3 Experimentelle Methoden Fall A (ω) ϕ (ω) effektive Form von y W (t) 1 ωτ R 1 A 0 A sin (ωt) 2 ωτ R = 10 1 A/ (ωτ R ) π/2 [A/ (ωτ R )] cos (ωt) 3 ωτ R = 1 A/ 2 π/4 [A/ 2] sin (ωt π/4) 4 ωτ R = 3 A/2 π/3 [A/2] sin (ωt π/3) Tab. 3.3 Phasenverschiebung und Amplitude bei der chemischen Relaxation in Ultraschallexperimenten peraturamplitude T um den Wert bei der mittleren Temperatur T: dx dt = k eff (x e (T + T) x) (3.61) Solange T klein bleibt, kann die zusätzliche Temperaturabhängigkeit von k eff vernachlässigt werden. Mit x = x e (T) x und der Verschiebung des Gleichgewichtes x e = x e (T) x e (T + T) erhält man: d x dt ( ) x = ( x x e ) {k b + k a (c eq A + ceq B )} = xe τ R (3.62) Für genügend kleine Auslenkungen T, x e etc. kann man annehmen, daß alle diese Größen der sinusförmigen Druckwelle des Schalls proportional sind, also x e = A sin(ωt) (3.63) und man erhält d x dt = x A sin (ωt) (3.64) τ R τ R Führt man die Variable y(t) x ein und formt um, so erhält man die Form einer inhomogenen Differentialgleichung y(t) + τ R d y(t) dt Der Lösungsansatz für diese Gleichung lautet = A sin (ωt) (3.65) A y(t) = B exp ( t/τ R ) + sin (ωt) Aωτ R cos(ωt) (3.66) 1 + ω 2 τr ω 2 τr 2

108 3.4 Relaxationsmethoden 101 Hierbei hängt die Konstante B mit der Anfangsbedingung y(0) zusammen B = y(0) + Aωτ R 1 + ω 2 τr 2 (3.67) Man kann durch Einsetzen von Gl. (3.66) in Gl. (3.65) zeigen, daß wir hiermit eine Lösung der Differentialgleichung haben. Wir betrachten nun genügend lange Zeiten, so daß exp ( t/τ R ) = 0 gesetzt werden kann. Für diesen Grenzfall hat man die Lösung (Index W) y W (t) = A sin (ωt) Aωτ R cos(ωt) (3.68) 1 + ω 2 τr ω 2 τr 2 Man kann nun Gleichung (3.68) so umformen, daß man erkennt, daß y W eine gegenüber der anregenden Schallwelle und der hypothetischen chemischen Gleichgewichtswelle (bei unendlich schneller Einstellung des Gleichgewichtes) eine phasenverschobene und abgeschwächte Welle ist, wie in Bild 3.18 gezeigt: y W (t) = A (ω) sin {ωt ϕ (ω)} (3.69) mit A < A und ϕ 0 A (ω) = A (1 + ω 2 τ 2 R )1/2 (3.70) ϕ (ω) = arctan(ωτ R ) (3.71) Anmerkung: Zeigen Sie, daß sich Gl. (3.68) in der Form Gl. (3.69) schreiben läßt (A und ϕ nach (3.70, 3.71)), mit Hilfe der Identität C sin (α β) = C cosβ sinα C sin β cosα (3.72) Tabelle 3.3 gibt einen Überblick über die in Bild (3.18) dargestellten Fälle. Entsprechend den leicht zugänglichen Frequenzen von Schall und Ultraschallwellen, erstreckt sich der Meßbereich dieser Technik auf typische Relaxationszeiten τ R zwischen 10 4 s und 10 9 s. Natürlich ist die angegebene Herleitung unabhängig vom betrachteten chemischen Prozess, solange man nur eine einfache Relaxationszeit erhält. Allgemein ist ein kompliziertes Spektrum von Relaxationszeiten möglich und die Methode stößt bei komplizierten Reaktionen an Grenzen, besonders was die Eindeutigkeit der Interpretation der Ergebnisse betrifft.

109 102 3 Experimentelle Methoden Ein Beispiel für eine einfache Konformationsänderung unter Bildung einer Wasserstoffbrücke ist die folgende Reaktion HO O OR k a H O O OR k b Schema 3.1 Konformationsänderung und H-Brückendynamik. Hierfür wurde bei 25 C (mit R H 10.5 kj mol 1 ) τ R = s und k b = s 1 k a = s 1 gefunden [Yasunaga et al. 1969]. Eine ausführlichere Beschreibung der Technik der Ultraschallabsorption findet man in [Bernasconi 1976] und bei [Eigen, de Maeyer 1963]. Eine prinzipielle Einschränkung der Relaxationsmethoden mit kleiner äußerer Störung besteht in der ausschließlichen Anwendbarkeit auf Systeme nahe am Gleichgewicht. Diese Einschränkung wird bei Methoden mit großer äusserer Störung aufgehoben, die in den folgenden Unterkapiteln besprochen werden.

110 3.5 Stoßwellentechnik Stoßwellentechnik Mit Hilfe dieser Methode kann man hohe Temperaturen und Drücke erzeugen. Die Zeitauflösung dieses Verfahrens liegt im Mikrosekundenbereich, spezielle Techniken erlauben aber auch Messungen im Nanosekundenbereich. Bild 3.19 zeigt das Schema eines Stoßwellenexperimentes für Gasreaktionen. Membran Zeitmessung Lichtquelle Hochdruckteil H 2 He Niederdruckteil Reaktionsmischung Stosswelle u 1 Gaseinlass Gaseinlass Detektor Bild 3.19 Schema eines Stoßwellenrohres zur Anwendung der Stoßwellentechnik auf Gasreaktionen. Die Zeitmessung des Eintreffens der Stoßwellenfront dient zur Bestimmung der Stoßwellengeschwindigkeit u 1 und damit der Temperatur nach Gl. (3.74). Durch Bersten einer Membran zwischen dem Hochdruckteil und dem Niederdruckteil eines Rohres bildet sich eine Stoßwelle aus. Hinter der Stoßwelle ändert sich die Temperatur, so daß sich das Gleichgewicht des untersuchten Systems drastisch verschiebt. Nach diesem großen Temperatursprung (und auch Drucksprung) wird die Relaxation des stark gestörten Systems in die neue Gleichgewichtslage beobachtet. Beispiel: Lachgas N 2 O ist bei Zimmertemperatur praktisch stabil. Nach Durchgang der Stoßwelle springt die Temperatur auf über 1000 K, wobei N 2 O zerfällt: N 2 O N 2 + O (3.73) Diese Reaktion wurde von [Jost et al. 1964] und [Troe 1968] in Stoßwellen untersucht.

111 104 3 Experimentelle Methoden T T 2 δt T T 1 t t 1 t 2 Bild 3.20 Temperatur als Funktion der Zeit. Der erste T-Sprung rührt von der einfallenden Stoßwelle her, der zweite Temperatursprung von der reflektierten Stoßwelle, die nach Eintreffen der Stoßwelle auf das geschlossene Rohrende gebildet wird. Wir wollen hier nur die einfachste mathematische Beschreibung des Temperatursprunges angeben. Für eine hochverdünnte Reaktionsmischung in einem einatomigen Gas gilt: { Mu } { } Mu RT 1 3 5RT 1 T 2 = T 1 { } 16Mu 2 (3.74) 1 mit 15RT 1 M = Molmasse des einatomigen Gases u 1 = Geschwindigkeit der Stoßfront R = Gaskonstante J K 1 mol 1 Gl. (3.74) eignet sich zur Bestimmung der Temperatur T 2 nach der Stoßwellenfront, wenn die Ausgangstemperatur T 1 bekannt ist und die Stoßwellengeschwindigkeit u 1 gemessen wird. T 2 kann aber auch mit anderen Techniken bestimmt werden (z. B. aus der Dopplerlinienform von Spektrallinien, siehe Kap ). Die Darstellung in Bild 3.20 zeigt den Temperaturverlauf während des Experimentes. T kann einige tausend Grad sein t beispielsweise 500 µs δt 1 µs oder weniger

112 3.5 Stoßwellentechnik 105 A (a) (b) t t Bild 3.21 Oszillographische Aufnahme der UV-Absorption von Methylradikalen bei 216 nm, welche durch den Zerfall von Azomethan hinter einer Stoßwelle erzeugt werden. (a) 1280 K, (b) 1575 K. (Vergl. Kap. 2.4, [Glänzer et al. 1977]). Die Spur am Fuß des Bildes bildet das Referenzsignal ohne Absorption. Mit Hilfe dieser Technik läßt sich nicht nur die Gleichgewichtslage verschieben, auch metastabile Reaktionsmischungen können durch die plötzliche Temperaturänderung zur Reaktion gebracht werden. Beispiel: Methylradikale werden durch den sehr schnellen Zerfall von Azomethan (CH 3 NNCH 3 ) oberhalb 1000 K gebildet. Man beobachtet die anschließende Rekombination zu Ethan auf der Mikrosekundenzeitskala (siehe Bild 3.21): CH 3 -N=N-CH 3 [M] 2CH 3 + N 2 (3.75) 2CH 3 C 2 H 6 (3.76) Auf der linken Seite (a) in Bild 3.21 ist das Absorptionssignal der Methylradikale bei 1280 K gezeigt, wo die Rekombination praktisch vollständig verläuft und zum Verschwinden des Signals bei langen Zeiten führt (das Signal nähert sich dem Referenzsignal ohne Absorption an). Auf der rechten Seite (b) ist das Absorptionssignal bei 1575 K gezeigt. Bei langen Zeiten verschwindet die Absorption nicht, da im partiellen Gleichgewicht noch Methylradikale vorliegen. Man vergleiche hierzu auch die Diskussion und schematische Abbildung in Kap Das gezeigte Stoßwellenverfahren eignet sich also sowohl zur Bestimmung von (partiellen) Hochtemperaturgleichgewichten als auch zur Bestimmung der betreffenden Geschwindigkeitskonstanten [Glänzer et al. 1976].

113 106 3 Experimentelle Methoden 3.6 Blitzlichtphotolyse und Pulsradiolyse In der Blitzlichtphotolyse und Pulsradiolyse erzeugt man eine große Störung der chemischen Zusammensetzung und dementsprechend große Abweichungen von einer Gleichgewichtszusammensetzung durch eine photochemische oder pulsradiolytische Reaktion Blitzlampenmethode Bild 3.22 zeigt eine typische experimentelle Anordnung der klassischen Blitzlichtphotolyse (nach [Porter 1950], siehe auch [Porter 1995]). Lichtquelle Photoblitz Reaktionszelle Monochromator / SEV oder Spektrograph / Photoplatte kontinuierlich oder Blitzlicht Bild 3.22 Schema einer Blitzlichtphotolyse-Apparatur (SEV: Sekundärelektronenvervielfacher). Der Photoblitz wird durch eine kurze Gasentladung erzeugt. Man kann zwei Meßprinzipien unterscheiden: (i) Messprinzip I (Anregungs- und Meßblitz, englisch pump-probe ) Der Photoblitz erzeugt durch photochemische Reaktion instabile Atome und Moleküle A* in relativ hoher Konzentration, die Temperatur wird konstant gehalten. A A (3.77) Anschliessend beobachtet man mit dem zeitlich verzögerten, kurzen Beobachtungsblitz die Reaktion. A B + C... (3.78) Als direktes Meßergebnis erhält man auf der Photoplatte für jede Verzögerungszeit t i eine unterschiedliche, der Kinetik des Systems entsprechende Intensitätsverteilung des transmittierten Meßblitzlichtes. Für die Reaktanden

114 3.6 Blitzlichtphotolyse und Pulsradiolyse 107 nimmt die Intensität der Absorptionsbanden mit zunehmender Verzögerungszeit ab (Bild 3.23), für die Produkte nimmt sie entsprechend zu. Absorption (Reaktanden) t 0 t 1 t 2 v a v x v b ν Bild 3.23 Absorption als Funktion von ν in einem Blitzlichtphotolyseexperiment mit Photoplatte. Die gewünschten kinetischen Daten werden aus der Darstellung ln(i 0 /I) als Funktion von t gewonnen. Auf der Ordinate trägt man für die verschiedenen zeitlichen Verzögerungen zwischen Photoblitz und Beobachtungsblitz der aufeinanderfolgenden Experimente die Werte in ln(i 0 /I) oder das Integral hiervon auf (Kap und 3.1.4). Das ist in Bild 3.24 gezeigt. I o ln --- I t 1 t 2 t 3 t 4 t 5 t 6 t Bild 3.24 ln(i 0 /I) bei einer bestimmten Frequenz ν x als Funktion der Zeit (alternativ kann auch ν b ν a ln (I 0 /I)dν ausgewertet werden, siehe Kap. 3.1).

115 108 3 Experimentelle Methoden (ii) Messprinzip II (ein Anregungsblitz mit kontinuierlichem Nachweis) Anstelle eines Beobachungsblitzes wird eine konstant strahlende, monochromatische Lichtquelle verwendet. Mit einem schnellen Detektor, z.b. einem Sekundärelektronenvervielfacher (SEV, englisch: photomultiplier ) beobachtet man dann die Abnahme oder das Anwachsen der Intensität bei dieser Frequenz ν 0, wie in Bild 3.25 gezeigt. Der typische Zeitbereich dieser Methode liegt im Mikro- bis Nanosekundenbereich. Die Zeitauflösung wird durch die Dauer der Photoblitze und durch die Meßelektronik bestimmt. I 0 ln --- I ν0 t o " Blitz " t Bild 3.25 ln(i 0 /I) ν0 als Funktion der Zeit (bei der festen Frequenz ν 0 ). Die Blitzlichtphotolyse eignet sich vor allem für die Erforschung der Kinetik instabiler Teilchen. Als Beispiel sei der Zerfall von Dimethylquecksilber und die anschließende Rekombination der Methylradikale bei Zimmertemperatur angeführt: Es wird die Absorption der Methylradikale im UV bei 216 nm gemessen (214 nm für CD 3 ). hν (CD 3 ) 2 Hg 2 CD 3 + Hg (schnell, während des Photolyseblitzes) [M] 2 CD 3 C 2 D 6 (verzögert nach dem Photolyseblitz) Bild 3.26 zeigt die auf einer Photoplatte mit Hilfe von Meßblitzen nach verschiedenen Verzögerungszeiten beobachteten Absorptionsspektren von CD 3 (die Doppelbande bei 214 nm rührt von der Rotationsstruktur her und ist im Bild mit CD 3 (0-0) markiert). Dies ist ein Beispiel für das Meßprinzip I. Anmerkung: Bei Experimenten mit Dimethylquecksilber ist höchste Vorsicht geboten (siehe [Strasdeit 1998]). Am besten umgeht man sie durch Wahl an-

116 3.6 Blitzlichtphotolyse und Pulsradiolyse 109 Bild 3.26 Blitzlichtphotolyse und Nachweis der Kinetik des CD 3 Radikals (Doppelbande rechts) zu verschiedenen Zeiten (nach [Callear, Metcalfe 1976], man findet k rec = cm 3 s 1 bei 300 K). derer Ausgangsstoffe. Für die Erzeugung von Methylradikalen eignet sich auch Azomethan oder Aceton. Im physikalisch-chemischen Grundpraktikum der ETH Zürich wird eine sogenannte photochrome Reaktion blitzlichtphotolytisch nach dem Meßprinzip II untersucht. Hierbei wird durch den Photolyseblitz der farblose Reaktand R sehr schnell in ein absorbierendes, gefärbtes Produkt P verwandelt (Gl. (3.79a)). Die langsamere Rückkehr in den farblosen Zustand R gemäß Gl. (3.79b) wird durch zeitaufgelöste Absorptionsspektroskopie verfolgt und die Geschwindigkeitskonstante k bestimmt. R P hν (Blitz) P (3.79a) k R (3.79b) Als photochrome Substanzen dienen Spiropyranverbindungen (für Details siehe [Meister 2000]). Weitere Möglichkeiten sind Dissoziations-Rekombinationsreaktionen. Bei den bekannten phototropen Brillengläsern besteht die photochrome Reaktion in der Photolyse von AgCl oder AgBr (in Glas) unter Bildung von Ag (Dunkelfärbung) und Rückbildung von farblosem AgX in Dunkelheit.

117 110 3 Experimentelle Methoden Pulsradiolyse Prinzipiell arbeitet die Pulsradiolyse wie die Blitzlichtphotolyse, jedoch wird anstelle eines Blitzlichtes ein Puls hochenergetischer, ionisierender Strahlung verwendet, z.b. Gammastrahlung, Elektronen oder Protonen. Diese Strahlung erzeugt Ionen, Elektronen und hochangeregte Teilchen, deren Kinetik dann beobachtet werden kann, schematisch A A + + e X + Y etc. (3.80a) Die Pulsradiolyse wurde etwa zum Studium der Kinetik des solvatisierten Elektrons, des Hydroxylradikals in wässriger Lösung und in Eis oder auch von Wasserstoffatomen in der Gasphase eingesetzt. Die Zeitauflösung der Methode wird durch die Dauer der eingesetzten Pulse aus hochenergetischer Strahlung bestimmt. Mit Linearbeschleunigern ( Linac ), van de Graaff Beschleunigern oder dem kommerziellen Febetron erzeugt man Elektronenpulse von einigen Nanosekunden Dauer. In neuester Zeit wurden auch Pulse von Linearbeschleunigern bis 0.1 ps diskutiert [Mayer 1999], [Bensasson et al. 1993], [Farhataziz, Rodgers 1987]. Als Beispiel einer pulsradiolytischen Studie sei hier die Reaktion von t-butylradikalen mit O 2 in wässriger Lösung erwähnt, wobei die t-butylradikale pulsradiolytisch aus t-butanol erzeugt werden. (CH 3 ) 3 C + O 2 k a (CH3 ) 3 C OO (3.80b) 2(CH 3 ) 3 C OO k b weitere Produkte (3.80c) Man findet k a = dm 3 mol 1 s 1 und k b = dm 3 mol 1 s 1 [Piechowski et al. 1992]. 3.7 Laserblitzlichtphotolyse Die im Kapitel erwähnte untere Zeitgrenze von Mikro- bis Nanosekunden, welche durch die Länge der Lichtblitze bedingt ist, kann durch die extrem kurzen Lichtimpulse ( Laserlichtpulse ) überwunden werden. Einen Überblick über die heute verfügbaren Laserlichtpulse gibt Tabelle 3.4. Durch Einsatz von Laserlichtquellen konnte in den vergangenen Jahrzehnten die Blitzlichtphotolyse auf Zeiten weit unterhalb der Mikro- bis Nanosekundenzeitskala ausgedehnt werden, bis in den Bereich weniger Femtosekunden. Neuerdings wird auch an Techniken gearbeitet, die den Bereich kürzer als Femtosekunden ( Attosekunden ) erschliessen. Wir werden hier kurz eine sehr einfache Darstellung der Prinzipien der Laserlichtquellen zur Erzeugung von kurzen Pulsen geben und dann auf die Meßprinzipien mit Kurzpulsmethoden eingehen.

118 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 111 Dauer des Pulses Aufwand Wegstrecke 1 ns Routine (im sichtbaren Bereich) 30 cm 1 ps bis 100 fs heute kommerziell verfügbar 0.3 mm 8 fs Weltrekord verfügbar 2.4 µm 650 as Weltrekord 2002 (heute verfügbar) 0.19 µm Strecke, die das Licht während der Pulsdauer zurücklegt Tab. 3.4 Verfügbare Laserlichtpulse Laserprinzip und Erzeugung von kurzen Pulsen durch Modenkopplung mit sättigbaren Absorbern Das Wort Laser ist ein Kunstwort aus dem Akronym LASER für Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation. Eine genauere Diskussion des Lasers werden wir in Band 2 geben, wenn wir die nötigen quantenmechanischen und molekülspektroskopischen Grundlagen besitzen. Die Grundidee des Lasers können wir jedoch schon jetzt verstehen. Der Laser ist die Erweiterung des Verstärkerprinzips im Radiosender, das aus dem langwelligen Bereich des elektromagnetischen Spektrums wohlbekannt ist, auf den kurzwelligen, optischen Bereich, Infrarotstrahlung, sichtbares Licht und Ultraviolettstrahlung. Die elektronischen Bauteile zur Verstärkung sind hier Atome und Moleküle, was wir schon mit Hilfe des Lambert-Beer Gesetzes verstehen können. Bild 3.27 erläutert schematisch das Prinzip der Absorption von Licht und der induzierten (auch stimulierten ) Emission bei Besetzungsinversion. Nach der Quantentheorie gibt es für gebundene Zustände von Atomen und Molekülen diskrete quantisierte Energieniveaus mit den Energien E 1,E 2,,E n. Wenn mehrere Quantenzustände zum selben Niveau gehören, nennt man das Niveau entartet (polytrop) andernfalls nicht entartet. Die gewöhnliche, thermische Besetzung von atomaren und molekularen Energieniveaus folgt dem Boltzmanngesetz bei der Temperatur T mit der Boltzmannkonstante k (siehe Kap. 4 und Band 2) C 2 C 1 = N 2 N 1 = p 2 p 1 = exp ( E/kT) (3.81a)

119 112 3 Experimentelle Methoden hν E 2 E 1 Absorption überwiegt bei thermischer Besetzung C 1 > C 2 hν E 2 E 1 Induzierte Emission überwiegt bei Besetzungsinversion C 1 < C 2 hν E 2 Transparenz bei Sättigung C 1 = C 2 E 1 Bild 3.27 Erläuterung von Absorption, induzierter Emission und Transparenz. Es sind schematisch die Besetzungszahlen auf dem tieferen (E 1 ) und dem höheren (E 2 ) Energieniveau durch Punkte angedeutet. Die Bohrsche Bedingung E = E 2 E 1 = hν legt die Frequenz ν der Lichtquanten oder Photonen fest. C 1 und C 2 sind die Konzentrationen als Molekülzahldichten. N 1 und N 2 sind die Molekülzahlen, p 1 und p 2 die relativen Besetzungen in den Energieniveaus, die nicht entartet seien. E ist die Energiedifferenz (E 2 E 1 ). Nach der Bohrschen Bedingung gilt für einen Strahlungsübergang unter Absorption oder Emission eines Photons der Frequenz ν E = hν (3.81b) Wenn E sehr groß ist gegenüber kt, so sind die Konzentrationen C 2 in dem angeregten Niveau vernachlässigbar klein (C 2 C 1 ) und wir haben das gewohnte Lambert-Beer Gesetz der Absorption von Photonen durch die Probe (siehe Kap. 3.1) I = I 0 exp ( σ C 1 l) (3.82a) Die Moleküle nehmen Energie aus dem Strahlungsfeld auf, I < I 0. Gelingt

120 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 113 es, durch einen geeigneten physikalisch-chemischen Prozess die Verhältnisse umzukehren (C 2 C 1 ), so spricht man von einer Besetzungsinversion. Es liegt nahe zu vermuten, daß man dann ein entsprechendes Gesetz für negative Absorption hat, wobei die angeregten Moleküle vom oberen Zustand 2 in den unteren Zustand 1 übergehen und ein Photon emittieren. Das trifft auch zu, und es gilt (C 2 C 1 0). I = I 0 exp (σ C 2 l) (3.82b) Die Moleküle geben Energie an das Strahlungsfeld ab I > I 0. Man nennt diesen Prozess induzierte Emission, da er durch das einfallende Licht der Intensität I 0 induziert wird (man spricht auch von stimulierter Emission, siehe Kap. 5). Daneben gibt es noch einen Prozess der spontanen Emission, den wir hier vernachlässigen wollen. Mit Hilfe der induzierten Emission können wir also einen molekularen Verstärker bauen, wie in Bild 3.28 erläutert ist. Beim Radiosender führt man bekanntlich einen Teil des Ausgangssignals durch Rückkopplung in den Eingang zurück, wo es wieder verstärkt wird. Hierdurch wird die Senderfrequenz permanent weiterverstärkt und trotz Abgabe von Energie nach außen die Senderoszillation auf dieser Frequenz aufrecht erhalten. Beim Laser mit Licht läßt sich diese Rückkopplung sehr einfach durch zwei Spiegel erreichen. Damit dem Laser nutzbares Licht entnommen werden kann, macht man den einen Spiegel teildurchlässig, so daß ein Teil des Lichtes reflektiert und ein Teil transmittiert wird. Hiermit ist der Bau der Laserlichtquelle vollendet. Die Besetzungsinversion kann im Laser entweder durch einen dauernden Prozeß aufrechterhalten werden (Dauerstrichlaser), oder durch einen kurzzeitigen Prozeß erzeugt werden (z.b. durch eine Blitzlampe oder eine kurze elektrische Entladung) und dann durch den Laserprozeß abgebaut werden, da die Moleküle bei der Laseremission ja in das tiefere Energieniveau übergehen. Dies führt zu einem Laserpuls. Um die Eigenschaften eines solchen Laserpulses zu verstehen, muß man sich die möglichen Eigenfrequenzen des Lasers genauer anschauen. Wie in Bild 3.28 gezeigt ist, muß die Laserfrequenz so beschaffen sein, daß die Länge L des Laserresonators zwischen den beiden Spiegeln ein ganzes Vielfaches der halben Lichtwellenlänge λ ist L = n λ/2 (3.83) Weiterhin ist das Absorptionsspektrum (Bild 3.29) auf dem Laserübergang nicht völlig scharf, sondern hat eine Linienbreite (oder Bandbreite, Kap. 3.10). Bei Gasspektren kann die Linienbreite sehr klein sein (z.b. ν < 0.1 cm 1 ). Bei Festkörpern (Festkörperlaser) oder Flüssigkeiten (Farbstofflaser) ist sie oft sehr groß (hunderte bis tausende von cm 1 ). Gemäß der Bedingung in Gl.

121 114 3 Experimentelle Methoden Laserverstärker I 0 I > I 0 C > C 2 1 Elektronischer Oszillator, Sender, Selbstverstärker Eingang Ausgang Rückkopplung Laseroszillator C > C 2 1 λ L Bild 3.28 Schematische Erläuterung des Prinzips des Laserverstärkers und des Laseroszillators in Analogie zum Radiosender. Beim Laseroszillator sorgen die Spiegel für die Rückkopplung. Ein Spiegel ist teildurchlässig (Auskoppelspiegel). An der Speigeloberfläche befindet sich ein Knoten der Lichtwelle mit der Wellenlänge λ. Auf der rechten Seite der Laseroszillatorzelle ist eine Absorptionszelle gezeigt, in der sich ein sättigbarer Absorber befinden kann. (3.83) und der Gleichung (3.84), die eine Frequenz ν und Wellenzahl ν mit der Wellenlänge λ und der Lichtgeschwindigkeit c verknüpft ν = c/λ = c ν (3.84) kann es dementsprechend zahlreiche mögliche Frequenzen geben, auf denen Licht im Laser verstärkt und emittiert wird. Der Modenabstand zwischen zwei solchen möglichen Resonanzfrequenzen oder Moden entspricht δν = c/2l (3.85) Die Eigenfrequenzen überlagern sich im Resonator, was durch Interferenz zu Frequenzschwankungen und zeitabhängigen Intensitätsschwankungen führt.

122 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 115 σ( ν) ν Bild 3.29 Schematische Erläuterung der Absorptions- Emissionsbande des Molekülspektrums mit den Eigenfrequenzen des Resonators. δν = c ( 2L) ν Diese sind normalerweise regellos und in Bild 3.30(a) ist ein typisches Ausgangssignal von einem CO 2 -Laser gezeigt, das elektronisch mit kurzer Zeitauflösung gemessen werden kann und ein Abbild der im Laser umherlaufenden regellosen Lichtpulse ist, die am Auskoppelspiegel auftreffen. Setzt man in den Laser eine Absorptionszelle ein mit einer Substanz, welche die Laserfrequenzen absorbiert, so führt das zunächst zur Auslöschung des Laserprozesses, weil das Licht vor dem Auskoppelspiegel absorbiert wird. Wenn jedoch die Laserverstärkung hinreichend groß ist, kann es dem größten Lichtpuls des Lasers gelingen, genügend viele Moleküle in der Absorptionszelle anzuregen, daß der Übergang gemäß Bild 3.27 (unten) gesättigt wird. Absorption und Emission von Photonen in der Absorptionszelle sind dann gleich häufig, die Absorptionszelle wird transparent und transmittiert den stärksten Lichtpuls. Alle anderen werden durch Absorption im Idealfall unterdrückt. Man erhält einen kurzen Lichtpuls, der im Laser nach einer Umlaufzeit von jeweils t = 2L/c auf dem Auskoppelspiegel auftrifft und teilweise transmittiert und detektiert wird. Ein solches Beispiel ist im Bild 3.30(d) auch gezeigt. Der Laser emittiert eine Sequenz von kurzen Pulsen, die durch die Umlaufzeit t getrennt sind. Da dieser Vorgang auch als Erzeugung einer geregelten Phasenbeziehung ( Kopplung ) zwischen den verschiedenen Eigenschwingungen ( Moden ) des Lasers interpretiert werden kann, spricht man auch von Modenkopplung und modengekoppelten Pulsen. Die Erzeugung von Transparenz durch Absorption bis zur Bedingung C 1 = C 2 bezeichnet man auch als Sättigung des Strahlungsüberganges und die Substanz, die eine solche Bedingung erlaubt als sättigbaren Absorber. Mit anderen Verfahren kann man auch erzwingen, daß der Laser nur Licht einer Eigenschwingung ( Schwingungsmodus ) verstärkt. Man spricht dann von einem Einmodenpuls. Ein solches Beispiel ist in Bild 3.30(b) gezeigt. Für ideale Pulse hat man eine allgemeine Beziehung zwischen der Frequenz-Bandbreite ν und der Pulsdauer t ν t 1 (3.86)

123 116 3 Experimentelle Methoden = A Bild 3.30 Verschiedene Laserpulstypen am Beispiel des CO 2 -Lasers (nach [Quack et al. 1990]). Pulstyp (a) entspricht einer regellosen Überlagerung von verschiedenen Lasermoden. Pulstyp (b) ist ein Einmodenpuls, aus dem mit einer elektrooptischen Schneidetechnik ein Stück herausgeschnitten werden kann (c). Pulstyp (d) entspricht einem modengekoppelten Puls, aus dem wiederum ein Einzelpuls herausgeschnitten werden kann (e).

124 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 117 Dauer Laser Aufwand Wegstrecke des Pulses des Lichts (Atom) ns Atmosphärischer kommerziell 30 m 60 m CO 2 -Laser verfügbar ( mm) 1 ns - 2 ns Atmosphärischer verfügbar 30 cm - 60 cm CO 2 -Laser, Moden- (1 µm - 2 µm) kopplung mit sättigbarem Absorber 100 fs - 1 ps Festkörperlaser kommerziell 0.03 mm mm (z.b. Ti-Saphir) verfügbar (100 pm - 1 nm) Farbstofflaser 8 fs Laser mit anschließen- Weltrekord a) 2.4 µm der Pulskompression (8.4 pm) 6.5 fs Ti-Saphir, Moden- Weltrekord b) 2 µm kopplung, mit sättig- (6.5 pm) barem Absorber (Halbleiter) 650 as X-Ray oder XUV Weltrekord c) 0.19 µm 0 fs Spezieller Rekord 1. April 1990 d) 0 fm a) [Shank 1985] c) [Krausz 2002], [Drescher et al. 2002] b) [Jung et al. 1997] d) [Knox et al. 1990] Tab. 3.5 Beispiele für Laserpulse und Wegstrecke. Für praktische Abschätzungen kann man die Halbwertsbreiten ν und t in dieser Formel verwenden, wobei die genaue Beziehung von der Definition von t und ν und der Form der Pulse und Spektren abhängt. Allgemein gilt, daß das Frequenzspektrum die Fouriertransformierte des Zeitspektrums des Laserpulses ist. Um sehr kurze Pulse zu erzeugen, braucht man breite Spektren des Laserverstärkers, wie sie bei Farbstoffen in Flüssigkeiten und Festkörpern vorkommen (Ti-Saphir, Rubin, beides Al 2 O 3 mit Ti bezw. Cr-Ionen). Hiermit haben wir nun einige wesentliche Konzepte zur Kurzpulserzeugung mit Lasern abgehandelt. Tabelle 3.5 gibt beispielhaft einen Überblick über den Stand der Kurzpulserzeugung.

125 118 3 Experimentelle Methoden ν/thz ν/cm 1 Lasertyp VUV Laser (durch Vervielfachung) Exciplex Laser ( Excimer, g) 2000 F 2 (63400), ArF (51800), KrCl (45000), KrF (40300) XeCl (32500), XeF (28000), Xe 2 etc., XeF in Ar Matrix (s) bei N 2 (g, 29665), Ar + (g, ) Cu (g, 19600), He/Ne (g, 15803), Eu (l, 16300) Farbstofflaser (l, ) Raman verschobener Farbstofflaser (l, ) Ti-Saphir (s, ) Alexandrit (s, ), Emerald Rubin (s, 14400) Nd-YAG (s, 9391), Nd-Glas (9490, 7581), I (g, 7603) Farbzentrenlaser ( und ) HF (g, ), DF (g, ), HCl, DCl OPO (LiNbO 3, s, gepumpt von Nd-YAG, ) 100 MgF 2 /Co 2+ (s, ) Diodenlaser (InGaZ, ) Diodenlaser (s, Halbleiter, PbXY, ) CO (g), COS (g) CO 2 (g, ) Spin-flip Ramanlaser (s, CO 2 -Laser gepumpt) 10 N 2 O, CF 4, NH 3 H 2 -Raman verschobener CO 2 -Laser ( ) FIR-Gaslaser (von CO 2 -Laser gepumpt) Freie-Elektronen Laser FEL (von FIR bis UV kontinuierlich abstimmbar) Tab. 3.6 Laser in verschiedenen Spektralbereichen. Besonders wichtige Laser oder solche, die in der Laserchemie bereits heute eingesetzt werden, sind gross gedruckt. Etwas genauere Wellenzahlbereiche ( ν = 1/λ in cm 1 ) sind in Klammer angegeben (g: Gaslaser, l: Flüssigkeitslaser, s: Festkörperlaser). OPO steht für optischer parametrischer Oszillator und X,Y,Z steht für variable Elemente, z. B. Z = As.

126 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 119 Tabelle 3.5 gibt auch Wegstrecken in diesen Zeiten für Licht (mit Vakuumlichtgeschwindigkeit) und in der letzten Spalte in Klammer für Atome mit einer typischen Geschwindigkeit von 1000 m s 1 an. Diese Geschwindigkeit ist typisch für heißes Wasserstoffatomgas oder für die Maximalgeschwindigkeit eines H-Atoms in einer harmonischen Wasserstoffbrückenschwingung der Grundschwingungswellenzahl 400 cm 1. Man kann hieraus ersehen, daß es mit den kürzesten Pulsen heute prinzipiell gelingt, die Bewegung von Atomen mit einer Ortsauflösung von etwa einem Zehntel einer typischen Bindungslänge zu verfolgen. Die kurzen Wegstrecken für Licht legen ein Prinzip für die Zeitmessung in der Laserblitzlichtphotolyse nahe, das wir jetzt besprechen wollen. Tabelle 3.6 gibt einen Überblick über geeignete Lasertypen für die Laserblitzlichtphotolyse Meßprinzip der Laserblitzlichtphotolyse Die kurzen Pulse werfen natürlich sofort das Problem der Zeitmessung auf. Wiederum (vergl. Kap ) transformiert man die Zeitachse auf eine Ortskoordinate, wie in Bild 3.31 dargestellt. Spiegel 2 Spiegel 3 Beobachtungsblitz x/2 Laser Spiegel 1 Photolyseblitz Probe Detektor Bild 3.31 Schema einer Laserblitzlichtphotolyse-Apparatur. Der Spiegel 1 ist halbdurchlässig, der Laserstrahl wird in den Photolyseblitz

127 120 3 Experimentelle Methoden t 0 t 1 t 2 t 3 t 4 Bild 3.32 Laserphotolyse für ultrakurze Zeiten, Detail. und den Beobachtungsblitz geteilt. Die gewünschte Verzögerung des Beobachtungsblitzes erzielt man, indem die Position der Spiegel 2 und 3 variiert wird. Die mathematische Beschreibung ergibt sich aus der Transformation der Zeitskala auf die Ortskoordinate x (vergl. Kap ) c = dx dt dt = dx c (3.87a) (3.87b) oder t t 0 = x x 0 c mit c = m/s (3.88) Um sehr kleine Zeitverschiebungen zwischen Beobachtungsblitz und Photolyseblitz zu erzeugen, führt man eine zweite Verzögerungsstrecke für den Photolyseblitz ein, wie in Bild 3.31 gezeigt ist. Ein weiteres Meßprinzip für ultrakurze Zeiten verwendet die unterschiedliche Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen Materialien. Zwischen der Lichtquelle, also dem Laser, und der Probe wird ein transparenter, gestufter Körper eingebaut (Bild 3.32). Da die Lichtgeschwindigkeit in diesem Körper kleiner ist als diejenige im Vakuum, und weil die Weglänge durch die Abstufung für verschiedene Strahlen unterschiedlich ist, können Pulse erzeugt werden, welche nur wenige Picosekunden oder gar Bruchteile hiervon nacheinander auf die

128 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 121 Probe auftreffen. Es gibt zahlreiche weitere Tricks und Erfindungen der Kurzzeitspektroskopie, die hier nicht im Detail besprochen werden sollen. Mit Hilfe des Meßprinzips kurzer Anregungspulse mit zeitlich verzögerten Nachweispulsen ( pump-probe ) sind in neuerer Zeit kinetische Primärprozesse mit Reaktionszeiten im Bereich 10 bis 100 Femtosekunden erschlossen worden. Ein besonders frühes und leicht verständliches Beispiel ist die photochemische Prädissoziation von Natriumiodid. NaI hν NaI Na + I (3.89) Das Schema dieses 1988 erstmals von Rose, Rosker und Zewail untersuchten Prozesses ist in Bild 3.33 gezeigt. Die Anregung mit dem Laser L1 erzeugt ein gaussförmiges Wellenpaket im elektronisch angeregten Zustand (schwarz), das im Potential V (R) dieses angeregten Zustandes eine Oszillation ausführt. Jedesmal, wenn das Wellenpaket auf der Außenseite des Potentials (bei großem Wert von R) auftrifft, kann ein Teil durch Prädissoziation auf die untere Potentialfunktion übergehen und als Produkt Na (2 ) ( S 1/2 und I 2 ) P 3/2 erscheinen. Das Na (2 ) S 1/2 wird mit einem verzögerten Laserpuls (L2) nachgewiesen, indem es elektronisch angeregt wird (Na ( 2 P o 1/2 und 2 P o 3/2 )) und dann fluoresziert. Die Zeitmessung und -auflösung ergibt sich ausschließlich aus der Länge und Verzögerung zwischen Anregungs- und Nachweislaserpuls. Die Fluoreszenz wird eher langsam und sehr empfindlich detektiert. Das beobachtete Fluoreszenzsignal ist beim Nachweispuls genau auf der Na-Resonanzlinie zu finden und ist in Bild 3.33 mit LIF markiert. Die Prädissoziation zeigt also hier nicht das einfache Exponentialverhalten, sondern das schematisch in Bild 2.1 vorweggenommene Paketverhalten, das erwartet wird, aber hier durch Femtosekundenblitzlichtphotolyse brilliant nachgewiesen wurde. Die Periode der Oszillation ist wegen der schweren Atome und des flachen Potentials relativ lange, etwa 1 ps. Diese und ähnliche Untersuchungen von Ahmed Zewail und Mitarbeitern wurden an einfachen Molekülen im Molekülstrahl (Kap. 3.11) ausgeführt. Sie wurden 1999 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

129 " Experimentelle Methoden V (R)/eV 1. Na ( 2 P) + I( 2 P 3/2 ) Na + ( 1 S 0 ) + I ( 1 S 0 ) Na( 2 S 1/2 ) + I ( 2 P 1/2 ) Na( 2 S 1/2 ) + I( 2 P 3/2 ) # # R Na I /Å S (t t Puls )/ps Bild 3.33 Oben: Potentialschema (vereinfacht) für die Photodissoziation von NaI [Rosker et al. 1988]. Es sind die Potentialfunktionen V (R) als Funktion der Bindungslänge R Na I für den Grundzustand und zwei angeregte Zustände des NaI Moleküls gezeigt. Unten: Laserinduziertes Fluoreszenzsignal S (relative Intensität des Signals, schematisch), welches die Entstehung des freien Na Atoms anzeigt. In Klammern neben den Atomen sind jeweils die Termsymbole der Atome angegeben (siehe Band 2 und Anmerkung in Kap ).

130 3.7 Laserblitzlichtphotolyse 123 Ungefähr gleichzeitig mit diesem Experiment an NaI-Molekülen in der Gasphase wurden auch Femtosekundenlaserblitzlichtexperimente mit bis zu 6 fs Zeitauflösung zur cis-trans-isomerisierung in Retinal am Bacteriorhodopsin in Lösung durchgeführt [Dobler et al. 1988, Mathies et al. 1988]. Der grundlegende Prozess ist derselbe wie im Sehprozess im menschlichen Auge, der Rhodopsin verwendet. Die cis-trans-isomerisierung in Retinal ist in Bild 3.34 skizziert und das Schema 3.2 zeigt die Strukturformeln der beteiligten Spezies. Diese Experimente sollen also zu einem molekularkinetischen Verständnis des Sehprozesses führen. Obwohl die Primärprozesse auch heute noch nicht in allen Details aufgeklärt sind, weiß man, daß die Auslösung durch eine photochemische cis-trans Isomerisierung erfolgt, also auf molekularer Ebene relativ einfach. Das ist sehr bemerkenswert für einen so wichtigen neurobiologischen Primärprozess. Licht Opsin-11-cis-Retinal Rhodopsin Nervenimpuls Opsin...trans-Retinal Opsin 11-cis-Retinal trans-retinal NADH + H + NAD + 11-cis-Retinol trans-retinol Blutbahn Bild 3.34 cis-trans-isomerisierung von Retinal in Rhodopsin (nach [Karlson et al. 1994]).

131 124 3 Experimentelle Methoden Carotin Oxidation H C O + 2 H CH 2 OH Retinal 2 H Retinol (Vitamin A 1 ) CH 2 OH 11 cis Retinal H C O 3 Dehydro retinol (Vitamin A 2 ) Schema 3.2 Oxidative Spaltung von Carotin zu Retinal. Das Protein Opsin hat eine freie NH 2 Gruppe und bildet nur mit dem 11-cis-Retinal den Sehpurpur Rhodopsin, in welchem der Aldehyd Retinal mit der NH 2 Gruppe eine Schiffsche Base bildet (-CH=N- Verknüpfung). Die Position, in welcher die cis-trans Isomerisierung stattfindet, hängt vom Protein ab. (Sie ist in Rhodopsin anders als in Bacteriorhodopsin; siehe auch [Mathies et al. 1995], wobei die dortige Darstellung noch unvollständig ist.) Die Laserblitzlichtphotolyse wird gegenwärtig auch mit Erfolg zum Studium der Primärprozesse im photochemischen Reaktionszentrum des Chlorophylls und der Bindung von CO in Myoglobin eingesetzt. Allerdings ist schon die Interpretation der einfachen NaI-Photolyse wesentlich komplexer als hier (und auch in der Originalliteratur) dargestellt und Entsprechendes gilt in erhöhtem Maße auch für die erwähnten Prozesse der biochemischen Kinetik. Die hohe Zeitauflösung dieser Experimente führt zu einem Verlust der Energieauflösung, etwa beim Nachweis von Energiezuständen der Reaktionsprodukte, weshalb es prinzipiell von Interesse sein kann, einen optimalen Kompromiß zwischen Energie- und Zeitauflösung anzustreben.

132 3.7 Laserblitzlichtphotolyse Meßprinzip mit kontinuierlicher Detektion und hoher, unbestimmheitsbegrenzter Zeit- und Frequenzauflösung Das hier zu besprechende Meßprinzip ist das Analogon zum Nachweis mit einer kontinuierlichen Lichtquelle kombiniert mit Monochromator und Detektor in der Blitzlampenmethode (Kapitel 3.6.1, Bild 3.22, Prinzip II). Allerdings wird hier als Nachweislichtquelle ein extrem schmalbandiger (z.b. 1 MHz Bandbreite), kontinuierlich in der Frequenz abstimmbarer Laser verwendet. Somit kann man das Energiespektrum von Reaktionsprodukten mit einer sehr hohen Energieauflösung vermessen. Praktisch wird heute das unbestimmtheitsbegrenzte Auflösungsvermögen gemäß Gl erreicht. ν t (4π) 1 (3.90) Bild 3.35 zeigt ein vereinfachtes Prinzipschema einer realen Meßapparatur. Diese Technik mit sehr hoher Frequenzauflösung wurde zur Untersuchung der Verteilung auf verschiedene Hyperfeinstrukturniveaus im Produkt I bei der IR-Laserblitzlichtphotolyse von organischen Iodiden eingesetzt. CF 3 I nhν CF 3 + I( 2 P 3/2,F = 1, 2, 3, 4) (3.91) Die Vielphotonenanregung mit n Photonen (hν) wird im nächsten Kapitel noch genauer besprochen. F gibt wie im Fall der Cs-Atomuhr oder des H- Atom Masers die Gesamtdrehimpulsquantenzahl des I-Atoms an, die sich aus der Kombination der Kernspins (5/2) von 127 I und des elektronischen Drehimpulses (3/2) ergibt. Bild 3.36 zeigt das Energieniveauschema des Feinstrukur und Hyperfeinstrukturüberganges von I und das dazugehörende Absorptionsspektrum von sechs sehr scharfen Hyperfeinstrukturübergängen. Die Auflösung in diesen Experimenten reicht aus, um die Linienform der einzelnen Linien zu bestimmen, die auf dem Dopplereffekt durch die verschiedenen Geschwindigkeiten der Atome beruht. Hieraus kann man entweder wie in Bild 3.36 gezeigt ist, die Temperatur der I-Atome in einem Ofen, oder wie im nächsten Kapitel besprochen, die primäre Translationsenergieverteilung der Iodatome nach der Photolyse messen. Anmerkung: Atomzustände werden mit Termsymbolen vom Typ 2S+1 X J bezeichnet, wobei S die Quantenzahl des Gesamtelektronenspins ist, X die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses verschlüsselt (X = S, P, D, F,... für L = 0, 1, 2, 3,...) und J die Gesamtdrehimpulsquantenzahl ohne Kernspin angibt (siehe Lehrbücher der Allgemeinen Chemie und Spektroskopie, sowie Band 2).

133 126 3 Experimentelle Methoden EL CW-L PD D FZ S1 Zelle PY LP ST S2 Bild 3.35 Prinzip einer Laserblitzlichtphotolyseapparatur zur Messung von Reaktionsprodukten mit unbestimmtheitsbegrenzter Energie- und Zeitauflösung. Der Anregungspuls LP des CO 2 -Lasers (gestrichelt) fällt von links auf die Meßzelle, der abstimmbare Dauerstrichlaserstrahl (durchgezogen) von rechts (CW-L). Die zeitabhängige Absorbanz wird über den Detektor D bestimmt, der durch eine Filterzelle FZ gegen Streulicht vom Laser geschützt wird. Der pyroelektrische Detektor PY mißt die Energie des CO 2 Laserpulses und der Photon-drag Detektor PD den zeitlichen Verlauf des Pulses. Das Signal von D und von PD werden durch die Elektronik EL gespeichert. ST ist ein Strahlteiler und S1, S2 sind Spiegel (vereinfachtes Schema nach [Quack 1995]. Ein vollständiges Schema findet sich bei [He et al. 1995].

134 3.7 Laserblitzlichtphotolyse P cm 1 F = 0, ± 1 F = 3 Ẽ = cm 1 F = 2 T = 300 K ν D = cm 1 2 P 3 2 F = 4 F = 1 Ẽ = cm cm cm 1 Bild 3.36 Energieniveauschema und Spektrum des I( 2 P 3/2 ) I( 2 P 1/2 ) Feinstrukturüberganges mit Hyperfeinstrukturlinien (nach [He et al. 1995]). Ẽ ist die Energiedifferenz zwischen benachbarten Hyperfeinstrukturniveaus. Die unterschiedliche Linienbreite bei 100 K und bei 900 K ergibt sich aus dem Dopplereffekt (Dopplerbreite ν D, siehe Kap ).

135 128 3 Experimentelle Methoden 3.8 Vielphotonenanregung Mechanismen der Vielphotonenanregung Die gewöhnliche Blitzlichtphotolyse und oft auch die Laserblitzlichtphotolyse beruht auf photochemischen Primärprozessen, die durch Absorption eines Photons hν ausgelöst werden. Die Intensität von Laserlichtpulsen kann allerdings Werte von Megawatt über Gigawatt bis Terawatt pro cm 2 und sogar mehr erreichen (1 MW = 10 6 W, 1 GW = 10 9 W, 1 TW = W). Bei diesen Intensitäten werden Mehrphotonen- und Vielphotonenprozesse wichtig. Es gibt mehrere prinzipielle Mechanismen der Vielphotonenanregung, die in Bild 3.37 zusammengefaßt sind: Bei der direkten Mehrphotonenabsorption nach Mechanismus (i) werden eine ungerade Anzahl von 3, 5, 7 etc. Photonen benötigt, um einen angeregten Atom- oder Molekülzustand zu erreichen. Scheinbar ähnlich ist der Mechanismus (ii), der nach Maria Goeppert-Mayer benannte Zweiphotonen- (oder Mehrphotonen-) absorptionsprozess. Wie durch die gekrümmten Pfeile, die den Kopplungsweg beschreiben, angedeutet ist, spielen hier Zwischenzustände eine Rolle, die bei weitem nicht die Resonanzbedingung für die Absorption eines Photons in den Zwischenzustand erfüllen. Sie liegen ja nicht etwa in der Nähe von 1 ω sondern sogar weit oberhalb von 2 ω. Weiterhin gibt es einen quasiresonanten, schrittweisen Vielphotonenabsorptionsprozess nach Mechanismus (iii), bei dem auf jeder Anregungsstufe mit einem Photon nahezu resonante molekulare Zwischenzustände vorliegen. Schließlich kann man noch den Mechanismus (iv) für schrittweise Vielphotonenanregung mit inkohärenter Strahlung aus thermischen Lichtquellen, Sonnenstrahlung oder breitbandigen, statistischen Vielmodenlaserlichtquellen haben. Alle diese Prozesse und verschiedene Kombinationen spielen prinzipiell bei jeder Vielphotonenanregung von Atomen und Molekülen eine Rolle. Man kann jedoch grob zwei große Bereiche der Vielphotonenanregung unterscheiden. (A) Bei der Vielphotonenanregung von Molekülschwingungen mit Infrarotlasern werden normalerweise nach dem quasiresonant-schrittweisen Prozess sehr zahlreiche Photonen (typischerweise 10 bis 50) absorbiert, bis die Energie ausreicht, um eine unimolekulare chemische Reaktion, Dissoziation oder Isomerisierung auszulösen, meist im elektronischen Grundzustand der Moleküle. Der Rekord in der Zahl der absorbierten Photonen (ungefähr 500 Photonen eines CO 2 -Lasers) wurde beim C 60 -Molekül erreicht, wo dann ausnahmsweise auch Ionisierung als Primärreaktion stattfindet [Hippler et al. 1997]. Die Infrarotvielphotonenanregung ist der Ausgangspunkt einer neuen Gasphasenphotochemie, der IR-Laserchemie mit sehr zahlreichen chemischen Prozessen.

136 3.8 Vielphotonenanregung 129 n ω (i) Direkt 0 (ii) Goeppert-Mayer 2ω 0 (iii) Quasiresonante schrittweise nω Anregung 2ω ω 0 (iv) Inkohärente schrittweise Anregung 2( ω ± ω ) 1( ω ± ω ) 0 Bild 3.37 Schemata der vier Mechanismen der Vielphotonenanregung. Die durchgezogenen Doppelpfeile (links) stellen den Kopplungsweg zwischen den Energieniveaus dar, die gestrichelten Pfeile die Energie der Photonen (in Vielfachen von E/, ω bezeichnet die Frequenzbreite des Anregungslichtes bei der inkohärenten Anregung) (siehe [Quack 1998]). (B) Die Mehrphotonenanregung von elektronischen Zuständen von Atomen und Molekülen mit sichtbarer oder UV-Strahlung führt in der Regel zur Ionisation. Der Mechanismus beruht meist auf einer Kombination von direkten, Goeppert-Mayer und quasiresonant-schrittweisen Prozessen. In vielen Fällen werden nur zwei oder drei Photonen für die Ionisation benötigt. Diese Art der Mehrphotonenanregung wird besonders für spektroskopische Zwecke eingesetzt, wobei die Kombination mit einem massenspektroskopischen Nachweis der Ionen möglich ist.

137 130 3 Experimentelle Methoden Infrarotvielphotonenanregung und -laserchemie Die häufigste Laserlichtquelle für die Infrarotlaserchemie ist der atmosphärische CO 2 -Laser mit IR-Emissionslinien im Bereich 900 bis 1100 cm 1, dem Fingerabdruckbereich des Infrarotspektrums, in dem viele Molekülschwingungen angeregt werden können. Unter einem atmosphärischen CO 2 -Laser versteht man einen Laser, der bei Atmosphärendruck mit einer Mischung von wenig CO 2 in He und N 2 betrieben wird. Die Photonenenergie entspricht etwa 12 kj mol 1, so daß für typische Energien zur Auslösung chemischer Reaktionen im Bereich kj mol 1 etwa 10 bis 40 Photonen benötigt werden. Die Laserpulse des CO 2 -Lasers haben Pulsdauern von 100 ns bis 1 µs, wobei Modenkopplung zu einer Folge von kurzen Pulsen mit 1 bis 2 ns Dauer führt. Die Intensitäten liegen typischerweise im Bereich 100 MW cm 2, können aber auch geringer oder höher sein. Bild 3.38 zeigt das Schema der schon in Gl. (3.91) erwähnten Vielphotonenanregung von CF 3 I mit einem CO 2 -Laser, der CF 3 + I( 2 P 1/2 ) ν cw CF 3 + I( 2 P 3/2 ) V (rc I)/(hc cm 1 ) ν CO ν CI 40 ν CI 30 ν CI 20 ν CI D 0 E zp /hc De ν CI E zn /hc E z /hc r C I /pm Bild 3.38 Schema für die IR-Laserchemie von CF 3 I + nhν CO2 CF 3 + I( 2 P 3/2 ). Die Anregung erfolgt mit etwa 17 Quanten des CO 2 Lasers ( ν CO cm 1 ) bis zur Dissoziationsenergie D 0 = D 0 /hc cm 1. Der Nachweis der Dissoziation kann durch Absorptionsspektroskopie am Iodatom mit einem cw-laser ( ν cw ) erfolgen, siehe Kap Der Übergang vom Grundzustand des Iodatoms ( 2 P 3/2 ) in den angeregten Zustand ( 2 P 1/2 ) erfolgt bei Wellenzahlen um 7600 cm 1. Links in der Potentialfunktion V (r C I ) ist jedes zehnte Schwingungsenergieniveau der CI-Streckschwingung (ca. 286 cm 1 ) eingezeichnet. Die Länge eines kleinen vertikalen Pfeils entspricht ν CO2 eines CO 2 -Laserquants.

138 3.8 Vielphotonenanregung 131 die CF 3 -Streckschwingung bei 1070 cm 1 anregt. Hier werden mehr als 17 Photonen benötigt, um die C-I-Bindung zu brechen. Diese Photonenzahl ist ein sehr typischer mittlerer Wert für die IR-Laserchemie. Der Prozess verläuft praktisch ausschließlich nach dem schrittweisen, quasiresonanten Mechanismus. Der direkte Prozess spielt keine wesentliche Rolle. σeff/pm 2 p(cf 3 I) = 50 Pa F = 3.15 J cm 2 I/MW cm 2 t/ns F P F/J cm 2 Bild 3.39 Iodatombildung in der Laserchemie von CF 3 I. Die treppenförmige Funktion im oberen Bild zeigt die Absorbanz (ausgedrückt durch einen effektiven Absorptionsquerschnitt σ eff ) als Funktion der Zeit. Die gestrichelte Funktion zeigt die Laserintensität (rechte Ordinate). Das untere Bild zeigt den sich hieraus ergebenden Bruchteil F P der zerfallenden Moleküle als Funktion der Fluenz F (siehe Gl. (3.92) nach [He et al. 1995]. Wie wir in Kapitel 5 noch ausführlicher besprechen werden, läßt sich ein solcher Vorgang durch eine verallgemeinerte Kinetik erster Ordnung beschreiben. Bild 3.39 zeigt beispielhaft die Iodatombildung während der Anregung mit einem modengekoppelten CO 2 -Laser, dessen Intensität gestrichelt im selben

139 132 3 Experimentelle Methoden Bild dargestellt ist. Ein besonders wichtiger Parameter für die IR-Laserchemie (auch allgemeiner für die Vielphotonenanregung) ist neben der Intensität die Strahlungsfluenz F, das ist das Integral über die Intensität I F(t) = t 0 I(t )dt (3.92) Dementsprechend ist die Reaktionsausbeute F p in Bild 3.39 auch als Funktion der Fluenz F dargestellt, die jeweils nach einem weiteren Puls in der Pulssequenz erreicht wird. Am Ende der gesamten Pulssequenz mit einer typischen Fluenz F = 3 J cm 2 wird praktisch 100% des CF 3 I photolysiert. Wie in Kapitel erwähnt, können in diesem Beispiel auch die Hyperfeinstrukturproduktverteilungen am Iodatom und die Dopplerlinienformen gemessen werden, was den Translationsenergieverteilungen entspricht. Tabelle 3.7 zeigt die Ergebnisse solcher kinetischer Translationsenergieverteilungsmessungen in Form der mittleren Translationsenergie der Produkte im Massenschwerpunktssystem und mit Angabe, welchem Bruchteil der gesamten Produktenergie diese Energie im Mittel entspricht. Man erkennt, daß die mittlere Translationsenergie in den Produkten sich nicht wesentlich ändert, wenn man von einem relativ kleinen Iodid wie CF 3 I zu einem großen Iodid wie C 6 F 5 I geht. Der Anteil der gesamten Energie, der als Translationsenergie erscheint, ist jedoch beim C 6 F 5 I viel kleiner: viel mehr Energie erscheint als innere Energie des C 6 F 5 -Fragmentes. Das ist nicht verwunderlich, wenn man an die große Zahl innerer Freiheitsgrade des C 6 F 5 denkt und von einer ungefähr statistischen Verteilung der Energie auf alle Freiheitsgrade ausgeht. Solche Ergebnisse über Energieverteilungen fallen in das Gebiet der Reaktionsdynamik, ein Teilgebiet der Kinetik, auf das wir im Zusammenhang mit der Molekülstrahlkinetik nochmals eingehen werden. Sie sind wichtig für das genauere dynamische Verständnis der während einer Reaktion ablaufenden Prozesse. Reaktion E t /kj mol 1 E int /kj mol 1 f t CF 3 I CF 3 +I CF 3 CHFI CF 3 CHF+I C 6 F 5 I C 6 F 5 +I Tab. 3.7 Produktenergieverteilungen in einigen IR-laserchemischen Reaktionen. < E t > ist die mittlere, relative Translationsenergie der Fragmente, < E int > die mittlere Schwingungsund Rotationsenergie des mehratomigen Fragments und f t der Bruchteil der gesamten Produktenergie, der als Translationsenergie erscheint [He et al. 1995].

140 3.8 Vielphotonenanregung 133 In Sonderfällen kann die Infrarotlaseranregung auch zur Ionisation der Moleküle führen. Ein interessantes Beispiel ist die CO 2 -Laser induzierte Ionisation von C 60, wobei etwa 500 CO 2 -Laserphotonen absorbiert werden und die Schwingungen des Moleküls C 60 damit weit über die Ionisationsgrenze angeregt werden (n 500) C 60 C + 60 nhν C e (3.93a) mhν C C 2 (3.93b) Das entstehende C + 60 wird weiter angeregt und zerfällt unter Bildung von C 2 Einheiten schrittweise in C + 58, C + 56, (siehe [Hippler et al. 1997]) Mehrphotonenionisation Im Gegensatz zur erwähnten Ionisation nach Schwingungsanregung von C 60 erfolgt die typische Mehrphotonenionisation durch Anregung höherer Elektronenzustände. Die Mehrphotonenionisation kann prinzipiell der Erzeugung von Ionen und dem Studium ihrer Reaktionen oder zum empfindlichen Nachweis von Atomen, Molekülen und Radikalen in der Reaktionskinetik dienen. 3 ( 3 + 1) ( 3 + 2) ( 2 + 1) ( ) ( 1 + 1) Bild 3.40 Schemata der Mehrphotonenionisation. Das Ionisationskontinuum ist grau schattiert gezeichnet. Die Klassifizierung erfolgt nach der Zahl der Photonen, die zu resonanten Zwischen- und Endzuständen führen.

141 134 3 Experimentelle Methoden Tatsächlich überwiegt die zweite Anwendung. In den meisten Fällen mit Anregung durch sichtbare oder UV-Laserstrahlung genügen wenige Photonen, um die Ionisationsenergie zu erreichen oder überschreiten. Von besonderer Bedeutung ist die resonant erhöhte Mehrphotonenionisation (REMPI), bei der ein oder mehrere Zwischenzustände in Resonanz zur monochromatischen Laserstrahlung liegen (für Ein- oder Mehrphotonenprozesse). Man unterscheidet hier durch eine geeignete Nomenklatur die Mechanismen nach der Anzahl Photonen, die zu resonanten Zwischen- und Endzuständen führen (Bild 3.40). Selbstverständlich kann man mehrere Laser verschiedener Frequenz kombinieren. 30 F/F 0 x(i-atom) I/MW cm t/µs t/µs Bild 3.41 Das obere Bild zeigt die Intensität I und die reduzierte Fluenz F/F 0 für eine Einmoden CO 2 -Laserpulsform bei der Photolyse von CF 3 I. Im unteren Bild sind die Iodatomsignale durch VIS-REMPI-Spektroskopie bei Pulsen verschiedener CO 2 - Laserfluenz gezeigt (nach [Quack et al. 1986]). Als Beispiel sei hier der Nachweis des Iodatoms im Grundzustand ( 2 P 3/2 ) mit einem 3+2 Mehrphotonenionisationsprozess bei nm Laserwellenlänge erwähnt. Auch angeregte Iodatome ( 2 P 1/2 ) können selektiv nachgewiesen werden, da hier die Resonanzbedingung durch eine andere Laserwellenlänge von nm erreicht wird. Bild 3.41 zeigt als Beispiel den REMPI-Iodatomnach-

142 3.8 Vielphotonenanregung 135 weis nach IR-Laserphotolyse von CF 3 I. Es handelt sich hier um ein Experiment mit zwei verzögerten Laserpulsen, wobei der IR-Photolysepuls eine Länge von ca. 200 ns hat und der Nachweispuls mit 10 ns Länge zu verschiedenen Zeiten schon während und nach dem Photolysepuls die Iodatome nachweist ( pump-probe Technik). Hier tritt ein prinzipielles Problem der Mehrphotonenionisationstechnik zum Produktnachweis zu Tage: Die kurzwellige und sehr intensive Laserstrahlung des Nachweisblitzes photolysiert auch die Reaktandenmoleküle CF 3 I. Man weiss deshalb prinzipiell nicht, ob die beobachteten Iodatome eher vom Photolyseblitz oder vom Nachweisblitz kommen. Im vorliegenden Fall läßt sich das Problem durch die begründete Annahme lösen, daß der sichtbare Nachweisblitz in der Photolyse von CF 3 I angeregte Atome I( 2 P 1/2 ) erzeugt, während der IR-Photolyseblitz Grundzustandsatome erzeugt I( 2 P 3/2 ). Allgemein muß man aber mit einer erheblichen Störung des Reaktionssystems durch die REMPI-Spektroskopie zum Nachweis von Produkten rechnen Laserisotopentrennung und modenselektive Reaktionen Gepulste Laserstrahlung für reaktionskinetische Untersuchungen kann neben der offensichtlichen Eigenschaft der Definition der Pulse innerhalb kurzer Zeitintervalle noch weitere besondere Eigenschaften haben: 1. hohe Intensität 2. hohe Monochromasie (Frequenzschärfe) 3. Kohärenz Diese Eigenschaften können je nach Lasertyp verschieden stark ausgeprägt sein. Zum Beispiel sind mit gepulsten CO 2 -Lasern für die Infrarotlaserchemie Intensitäten im MW cm 2 bis GW cm 2 Bereich relativ leicht erreichbar, während Grenzwerte für spezielle Laser in Kernfusionsexperimenten bis W cm 2 betragen [Ditmire et al. 1999, Pretzler et al. 1998]. Die Frequenzschärfe ist im Idealfall mit der Pulslänge über eine zu Gl. (3.86) analoge Beziehung verknüpft, was aber nicht immer erreicht wird, und ähnliche Überlegungen gelten für die Kohärenz. Jede dieser Eigenschaften kann für besondere chemische Anwendungen genutzt werden. Als Beispiel sei die Frequenzschärfe genannt. Diese kann dazu genutzt werden, um in einer Mischung gezielt bestimmte Moleküle zur Reaktion zu bringen. Eine spezielle Anwendung ist hier die Isotopentrennung aus natürlichen Isotopenmischungen. Zum Beispiel ist die 12 C/ 13 C Isotopenverschiebung der Infrarotabsorption von Molekülschwingungen oft im Bereich cm 1 zu finden, was sehr groß gegenüber der Frequenzbreite der gepulsten CO 2 Laser zur IR-Vielphotonenanregung ist ( 0.1 cm 1 ).

143 136 3 Experimentelle Methoden Isotop Quelle Bemerkungen 2 H CHF 2 Cl hohe Selektivität bei Zimmertemperatur 10 B BCl 3 frühe Isotopentrennung mit einem Laser nach Vielphotonenanregung im IR 13 C CHF 2 Cl zweistufiges Trennschema (220 mg 13 C / h) 14 N, 15 N CH 3 NO 2 Selektivität bei zwei bestrahlten Absorptionsbanden 16 O, 17 O OCS IR-UV Doppelresonanz; Selektivität auch für S und C 29 Si, 30 Si Si 2 F 6 selektive Reaktionen beider Isotope mit hoher Selektivität (hohe Fluenz) 34 S SF 6 früher Bericht über laserinduzierte Isotopentrennung 35 Cl, 37 Cl CF 2 Cl 2 auch selektiv in Bezug auf C Mo MoF 6 auf mehrere Isotope angewendet; geringe Selektivität und Ausbeute 235 U UF 6 Dissoziation mittels zwei Lasern unterschiedlicher Wellenlänge ( zwei-farben Dissoziation) Tab. 3.8 Isotopentrennung in der Laserchemie (nach [Lupo, Quack 1987]). Es sind die jeweils selektierten Isotope angegeben. 13 C Isotopentrennung ist also relativ leicht durchführbar. Tabelle 3.8 gibt eine Übersicht über diese und ähnliche Anwendungen. Diese intermolekulare Selektivität (siehe Bild 3.42) kann man einer intramolekularen Selektivität oder Modenselektivität gegenüber stellen. Zum Beispiel gelingt es beim HOD innerhalb desselben Moleküls, mit einem IR-UV 2-Photonenprozess, je nach IR-Anregung der OH oder OD Schwingung, selektiv innerhalb desselben Moleküls entweder die OH oder die OD Bindung zu brechen (Erzeugung der Produkte H+OD oder HO+D, nach [Crim 1993]). Bei großen Molekülen treten solche auf intramolekularer Selektivität beruhenden Reaktionen in Konkurrenz zu schnellen intramolekularen (also unimolekularen) Schwingungsenergieübertragungsprozessen, welche die Selektivität unterdrücken. Zum Beispiel wurde beim D-Difluorbutan in Laserexperimenten abgeschätzt, daß auf Zeitskalen t > s trotz frequenzselektiver Anregung der CHDF-Endgruppe keine Selektivität der Reaktion mehr auftritt (Bild 3.42).

144 3.8 Vielphotonenanregung 137 nhν A nhν B B A Intermolekulare Selektivität B A Reaktion von A A B B Reaktion von B A A Intramolekulare Selektivität nhν 1 Chr 1 Chr 2 nhν 2 R 1 R 2 Reaktion 1 Reaktion 2 hν F D C H C H 2 H 2 C F C H 2 H H C C CH 2 F HDC H (ca. 50 %) H H HFDC C C H CH 2 (ca. 50 %) statistische Verteilung + HF + HF Bild 3.42 Oben: Allgemeines Schema zur intermolekularen und intramolekularen Selektivität in der Laserchemie. Bei der intermolekularen Selektivität regt der Laserstrahl mit der Frequenz ν A in der Mischung von A und B selektiv die Moleküle A an, die dann reagieren. Bei der intramolekularen Selektivität regt ein Strahl mit der Frequenz ν 1 einen Chromophor Chr 1 selektiv in einem Molekül an, das an dieser Stelle bevorzugt nach Reaktion 1 reagieren soll (analog will man in demselben Molekül mit ν 2 Anregung von Chr 2 die Reaktion 2 auslösen). Unten: Spezifische Anwendung auf die HF-Eliminierung von D-Difluorbutan (nach [Lupo, Quack 1987]).

145 138 3 Experimentelle Methoden Im Gegensatz zu intramolekularen Energieübertragungsprozessen, die sehr schnell ablaufen können, sind die intermolekularen Energieübertragungsprozesse, welche die intermolekulare Selektivität unterdrücken oder reduzieren könnten, an bimolekulare Energieaustauschprozesse gebunden, die in der Regel viel langsamer sind (durch die Stoßhäufigkeit begrenzt, s. Kapitel 4). Strategien zur Erzielung der intermolekularen und intramolekularen Selektivität sind ein aktuelles Forschungsgebiet mit noch vielen offenen Fragen. Bei Verwendung von Kohärenzeigenschaften spricht man auch von kohärenter Kontrolle, welches ein Teilgebiet im Bereich der selektiven, kontrollierten Reaktionssteuerung ist, das wir hier aber nicht näher erläutern können. Bild 3.42 stellt die Schemata der intermolekularen und intramolekularen Selektivität gegenüber [Gerber et al. 1995, Shapiro, Brumer 2003]. 3.9 Konkurrenz-Methoden Bei diesen Methoden wird eine Reaktionsgeschwindigkeit relativ zu einer bereits bekannten gemessen, und zwar durch Vergleich von Ausbeuten. Die prinzipielle Gleichung lautet k B k C A k B B A k C C = Ausbeute B Ausbeute C (3.94a) (3.94b) (3.94c) Bei Kenntnis von k C läßt sich k B durch Messung eines Verhältnisses von Ausbeuten bestimmen Fluoreszenzumwandlung (nach Weller und Förster) Durch Messung der Phasenverschiebung des Fluoreszenzlichtes bei periodischer Anregung lassen sich Fluoreszenzlebensdauern ziemlich leicht bestimmen. Das erlaubt indirekt die Messung von schnellen Reaktionen in angeregten Elektronenzuständen. Dies zeigt das in Bild 3.43 schematisch dargestellte Beispiel. β-napthol zeigt eine UV-Fluoreszenz hν nach Anregung mit hν. Die Geschwindigkeitskonstante k Fl wird durch die physikalische Messung der Phasenverschiebung des Fluoreszenzlichtes bestimmt (Phasenfluorimeter).

146 3.9 Konkurrenz-Methoden 139 OH hν OH * hν' k Fl ka k b O O * + H + + H + hν" hν' : UV-Fluoreszenz, k Fl hν'' : blaue Fluoreszenz OH β-naphtol, Grundzustand sehr schwache Säure (pk = 9.5) OH * β-naphtol, angeregter Zustand mittelstarke Säure (pk = 3.1) Bild 3.43 Schema der Fluoreszenzumwandlung in β Naphthol. Die Konkurrenzreaktionen für ROH folgen dem einfachsten kinetischen Schema: k a [ ROH ] hν RO + H + RO + H + k b (blau) hν (3.95) (UV) k Fl ROH ROH Wenn die Rückreaktion zur Protolyse von ROH vernachlässigbar ist, also bei kleinen Protonenkonzentrationen, gilt k b [ RO ][ H +] k a [ROH ] für [ H +] 0 (3.96)

147 140 3 Experimentelle Methoden [ H + ] muß trotzdem so groß sein, daß im Grundzustand hauptsächlich ROH vorliegt. Somit kann für die Abnahme von [ROH ] approximativ die folgende Differentialgleichung aufgestellt werden: d [ROH ] dt = (k a + k Fl ) [ROH ] (3.97) Also gilt für das Verhältnis der Intensitäten I der blauen Fluoreszenz und der UV-Fluoreszenz: I blau = k a (3.98) I UV k Fl Die phasenfluorimetrischen Messungen ergeben: k Fl = s 1 (3.99a) Mit dieser Kenntnis lässt sich k a aus dem Verhältnis I blau /I UV bestimmten, nämlich (bei 25 C): k a = s 1 (3.99b) Neben der durch T-Sprung bestimmten Neutralisation in Wasser (Kap ) war dies eines der ersten Beipiele der Messung einer sehr schnellen Säure-Base Reaktion [Weller 1951] Konkurrenzreaktionen bei Radikalen Dasselbe Radikal kann mit mehreren Partnern reagieren, zum Beispiel CH 3 + NO k NO CH 3 NO (3.100) CH 3 + ClNO k ClNO CH 3 Cl + NO (3.101) k NO2 CH 3 + NO 2 CH3 NO 2 (3.102) Die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k NO sei tabelliert. Man mißt alsdann die Verhältnisse der entsprechenden Reaktionsausbeuten: n CH3 NO = k NO [CH 3 ] t [NO] n CH3 NO 2 k NO2 [CH 3 ] t [NO 2 ] = k NO [NO] k NO2 [NO 2 ] n CH3 NO n CH3 Cl = k NO [CH 3 ] t [NO] k ClNO [CH 3 ] t [ClNO] = k NO [NO] k ClNO [ClNO] (3.103) (3.104) Es braucht also nur eine Reaktionsgeschwindigkeitskonstante absolut bekannt zu sein (z.b. k NO ). In diesen Ergebnissen wird angenommen, daß die stabilen Reaktionspartner NO, NO 2 und ClNO im Überschuß mit praktisch konstanter

148 3.9 Konkurrenz-Methoden 141 Konzentration vorliegen. Die unbekannte Konzentration [CH 3 ] t kürzt sich in diesen Ausdrücken heraus. Analoge Überlegungen gelten auch für andere Systeme mit entsprechenden Abänderungen. Hat man aber eine bimolekulare Reaktion des Methylradikals mit sich selbst zu berücksichtigen, muß man explizit die zeitabhängige Konzentration von CH 3 mit einer Integration über die Reaktionszeit einführen: CH 3 + CH 3 C 2 H 6 (3.105a) d [C 2 H 6 ] dt = k rek [CH 3 ] 2 (3.105b) CH 3 + X CH 3 X (3.106a) d [CH 3 X] dt = k CH3 X [CH 3 ] [X] (3.106b) n C2 H 6 n CH3 X = 0 k rek [CH 3 ] 2 dt 0 k CH3 X [CH 3 ] [X] dt (3.107) Chemische Aktivierung und Konkurrenz-Methoden Neben der Erzeugung hochangeregter reaktiver Moleküle und Radikale durch thermische Aufheizung in Stoßwellen, durch Lichtabsorption (mit einem Lichtquant in der gewöhnlichen Photochemie und Blitzlichtphotolyse) oder durch IR-Vielphotonenanregung in der IR-Laserchemie gibt es auch die Möglichkeit der chemischen Aktivierung. Hier werden in einem ersten Schritt reaktive Teilchen durch eine chemische Reaktion erzeugt. Die folgenden Reaktionen dieser reaktiven Moleküle werden oft mit Hilfe von Konkurrenzreaktionen ausgewertet, wobei besonders auch die Stoßdesaktivierung der angeregten Moleküle als eine der Konkurrenzreaktionen eingesetzt wird. Das allgemeine Schema besteht aus folgenden Reaktionstypen mit hoch angeregtem, chemisch aktiviertem XY X + Y XY (Aktivierung) (3.108a) XY A + B (Zerfall) (3.108b) XY + M XY + M (Stabilisierung) (3.108c) Man bestimmt das Verhältnis der Zerfallsprodukte A+B zur Stabilisierung im XY Molekül als Funktion der Konzentration [M]. Ein bekanntes Beispiel ist die Erzeugung hoch angeregter bizyklischer Verbindungen mit anschließenden Eliminierungsreaktionen, mit dem Ziel, die Ge-

149 142 3 Experimentelle Methoden schwindigkeit intramolekularer Energiewanderungsprozesse zu bestimmen [Rynbrandt, Rabinovitch 1971]. Die Reaktionen sind in Schema 3.3 gezeigt. Es werden photochemisch erzeugte Methylenmoleküle CD 2 an Doppelbindungen angelagert. F F F 2 C C C CF 2 + CD C 2 H 2 F F 2 C C C H 2 F C CF 2 k F IVR ** F 2 C C * C C D 2 H 2 F C CF * 2 C D 2 k A [M] k B k A k B k C F F 2 C C C H 2 F C CF 2 C D 2 F F F F 2 C C C CD 2 H 2 C C F C CF 2 C C H 2 D 2 + CF 2 + CF 2 A B C Schema 3.3 Chemische Aktivierung zur Erzeugung eines hochangeregten Bizyklus. bezeichnet eine Energielokalisierung im Dreiring (siehe Text). Durch Analyse der Produktausbeuten in den Reaktionskanälen A, B und C als Funktion der Konzentration [M] des Stoßpartners, werden Aussagen über die Geschwindigkeit intramolekularer Schwingungsenergieumverteilung ( intramolecular vibrational redistribution, k IVR ) gewonnen. Hierbei wird angenommen, daß die chemische Bindungsenergie zunächst in einem Dreiring lokalisiert ist (in Schema 3.3 mit (**) markiert), der bevorzugt aus der Position CF 2 eliminiert. Nimmt man weiterhin an, daß ka und k A ungefähr proportional zur Stoßhäufigkeit sind (siehe Kap. 4), so ergeben sich Werte für k IVR s 1. Ähnliche Untersuchungen an vergleichbaren Systemen ergaben ähnliche Größenordnungen für k IVR [Doering et al. 1968, Setser 1972, Holmes, Setser 1975]. Es verbleiben jedoch prinzipielle Fragen, ob eine solch einfache Analyse der Schwingungsenergieumverteilung überhaupt gerechtfertigt ist (siehe Kap ) und ob k IVR auch durch Stöße mit M beeinflußt wird,

150 3.10 Linienform-Methoden 143 also in Wahrheit von [M] abhängt. In einer neueren Untersuchung wurden mittels chemischer Aktivierung hoch schwingungsangeregter Sauerstoffmoleküle erzeugt und ihre Relaxation in Stößen mit O 3 und anderen Stoßpartnern untersucht [Mack et al. 1997]. Diese Studie kombiniert Laserblitzlichtphotolyse mit chemischer Aktivierung, wobei die Schwingungsanregung des Produkts O 2 mittels zeitaufgelöster, laserinduzierter Fluoreszenz nachgewiesen wird. Ein Laserblitz mit einer Wellenlänge von 532 nm erzeugt aus reinem Ozon Sauerstoffatome mit hoher Translationsenergie. In einem chemischen Aktivierungsschritt reagieren diese mit Ozon und bilden hoch schwingungsangeregten (v 1) Sauerstoff O 2 ( X 3 Σ g,v ). Dieser Aktivierungsschritt ist mit k = cm 3 s 1 etwa eine bis zwei Grössenordnungen schneller als die nachfolgende Desaktivierung der hoch schwingungsangeregten Sauerstoffmoleküle durch Stöße Linienform-Methoden Linienformen in Spektren sind gelegentlich mit kinetischen Prozessen verknüpft. Die mathematische Verknüpfung von Energiespektren und zeitabhängigen Phänomenen erfolgt prinzipiell über eine Fouriertransformation. Allerdings muß man bei der Interpretation von Energiespektren im Hinblick auf zeitabhängige Phänomene größte Vorsicht walten lassen. Die Zusammenhänge sind nicht immer einfach und eindeutig. Hier sollen nur zwei relativ unproblematische Methoden besprochen werden, die sehr häufige Anwendung finden. Auf die allgemeinen Zusammenhänge kommen wir auch später nochmals zu sprechen (Kap. 3.12) Linienbreite und exponentieller Zerfall Die spontane Emission eines jeden angeregten Systems (Bild 3.44) führt zur sogenannten natürlichen Linienbreite. A k j A j + hν j (3.109) Für die Besetzung des angeregten Niveaus gilt die Beziehung d [A ] dt = j k j [A ] = k [A ] (3.110a)

151 144 3 Experimentelle Methoden Die spontane Emission verläuft exponentiell nach einem Zeitgesetz 1. Ordnung: ( ) [A ] = [A ] 0 exp t j k j (3.111) In der Regel bestimmt man die Geschwindigkeitskonstante k = j k j (3.112) aus dem Zeitgesetz für die verschwindenden angeregten Zustände A und die individuellen Konstanten k j gemäß den Prinzipien aus Kap. 3.9 und dem entsprechenden Bruchteil der beobachteten Emissionen k j = k p j (ν j) j p j (ν j) (3.113) wobei p j(ν j ) die Wahrscheinlichkeit der Emission bei der Frequenz ν j ist. Zwischen der vollen Halbwertsbreite im Absorptionsspektrum, das heißt der Breite bei halber Höhe ( FWHM, für englisch full width at half maximum ) (siehe Bild 3.45) Γ = Γ j (3.114) j und der Geschwindigkeitskonstanten k besteht folgender Zusammenhang (siehe quantenmechanische Herleitung im Anhang): k = 2πΓ/h = 2πc Γ = 2π ν (3.115) Γ ist die Linienbreite in den spektroskopisch gebräuchlichen Wellenzahlen (z.b. in cm 1 ) und ν die Frequenzbreite. Das Spektrum als Funktion der Energie A * angeregtes Niveau hν j + 1 * A j + 1, k j + 1 * A j, k j * A j - 1, k j - 1 Bild 3.44 Spontane Emission von A in mehrere Endzustände j und natürliche Linienbreite.

152 3.10 Linienform-Methoden 145 besteht aus einer Lorentzfunktion (in der Mathematik auch Cauchy-Verteilung genannt): L(E) = 1 π Γ/2 (E E 0 ) 2 + (Γ/2) 2 (3.116a) L max = (πγ/2) 1 (3.116b) Für den energieabhängigen Absorptionsquerschnitt im Absorptionsspektrum nach Lambert-Beer ergibt sich also σ = σ max (Γ/2) 2 (E E 0 ) 2 + (Γ/2) 2 (3.117) Die Umrechnung auf die Frequenz ν erfolgt mit E = hν. Ein solches Spektrum mit Halbwertsbreite ist in Bild 3.45 gezeigt. σ( E) σ max σ max 2 Γ E 0 E = hν Bild 3.45 Illustration einer Linienform eines Absorptionsspektrums mit voller Halbwertsbreite Γ (FWHM). Ein ganz entsprechendes Gesetz gilt für das Energiespektrum, wenn eine chemische Zerfallsreaktion des angeregten Moleküls auftritt, die einem exponentiellen Gesetz folgt. A Produkte (3.118) Solche photochemischen Zerfallsreaktionen mit einer ausgeprägten Lorentzlinienform für gut getrennte Absorptionslinien bezeichnet man als Prädissoziation. Ein Beispiel für eine solche Prädissoziation ist der Zerfall des durch UV-Strahlung bei 216 nm angeregten Methylradikals CH 3 in Produkte CH 3 Produkte (3.119) Dieser führt zu sehr breiten Linien, die viel breiter sind als für spontane Lichtemission möglich ist. Man kann deshalb mit einiger Sicherheit von einem photochemischen, unimolekularen Prozeß ausgehen, dessen Natur allerdings

153 146 3 Experimentelle Methoden Vermuteter Zerfallsprozeß Γ = Γ/hc ν = c Γ k = 2π ν τ = 1/k CH 3 CH 2 +H 60 cm s s 1 88 fs CD 3 CD 2 +D 8 cm s s fs Tab. 3.9 Linienbreiten der Absorption beim photochemischen Zerfall des Methylradikals CH 3 (bei Anregung im UV bei 216 nm), sowie für CD 3 bei 214 nm. durch die Linienform nicht festgelegt wird. Die Linienverbreiterung wurde von [Herzberg und Shoosmith 1956] beobachtet und von [Glänzer et al. 1977] quantitativ auf die Linienformen hin ausgewertet. Die Ergebnisse sind in Tabelle 3.9 angegeben. Man findet einen sehr großen Deuteriumisotopeneffekt. Ein zweites, für die Photochemie der oberen Erdatmospäre wichtiges Beispiel ist die Prädissoziation von Sauerstoff im Bereich der Schumann-Runge- Absorptionsbanden im UV oberhalb etwa cm 1 (nach den Entdeckern Übergang vom Grundzustand 3 Σ g in den angeregten Zustand O 2, 3 Σ u ). O 2 O + O (3.120) Dies ist die Quelle der Sauerstoffatome, die mit dem Luftsauerstoff Ozon bilden O 2 + O [M] O 3 (3.121) Für die Linienbreiten der Schumann-Runge-Banden findet man eine sehr ausgeprägte Abhängigkeit vom Schwingungszustand im angeregten Elektronenzustand. So findet man für v = 1, v = 4 und v = 15 Γ cm 1 Γ 4 = 4 cm 1 Γ 15 = 0.8 cm 1 ; k 1 = s 1 ; k 4 = s 1 ; k 15 = s 1 (siehe [Ackermann et al. 1979, Cheung et al. 1989]). In diesem Beispiel nimmt also die Linienbreite und die Zerfallsgeschwindigkeitskonstante mit wachsender Schwingungsanregung zunächst zu und dann wieder ab. Es gibt auch eine relativ geringfügige Abhängigkeit vom Rotationszustand. Prinzipiell wäre auch hier der bisher noch nicht genau untersuchte Isotopeneffekt ( 16 O, 17 O, 18 O) von Interesse, insbesondere in Anbetracht noch ungeklärter Abweichungen der O-Isotopenverteilungen im atmosphärischen Ozon von der durchschnittlichen Isotopenverteilung. Linienbreitenmessungen eignen sich gut zur Bestimmung extrem schneller Zerfallsprozesse. Wenn man außerdem die Produktausbeuten für alle möglichen

154 3.10 Linienform-Methoden 147 primären Reaktionsprodukte quantitativ (aber ohne Zeitauflösung) bestimmen kann, so erhält man mit Hilfe der Auswertung nach der Methode der Konkurrenzreaktionen alle Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten für die einzelnen Zerfallsprozesse. Ein besonders grundlegendes Beispiel für die Verwendung von Linienbreiten zur Bestimmung der extrem kurzen Zerfallszeit des Z-Teilchens im Bereich von Bruchteilen einer Yoctosekunde ( 1 ys = s) findet sich in der Hochenergiephysik in Experimenten aus den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Z-Teilchen ist ein neutrales Feldteilchen (Boson), welches die schwache Wechselwirkung vermittelt. Seine Rolle für die schwache Wechselwirkung ist analog der Rolle des Photons für die elektromagnetische Wechselwirkung. Während das Photon jedoch keine Masse und eine unendliche Lebensdauer hat, besitzt das Z-Teilchen eine Masse von ca. 100 u und eine sehr kurze Lebensdauer. Hinzu kommen noch die W + und W Bosonen. Das Z-Teilchen wurde 1983 am CERN beobachtet. Die Bestimmung seiner Masse und seiner Lebensdauer war für das Verständnis des sogenannten Standardmodells von entscheidender Bedeutung. Standardmodell ist ein sehr bescheidener Name für die heutige, sehr umfassende mikroskopische Theorie der Materie, welche praktisch unsere gesamten Kenntnisse in diesem Bereich in einem grundlegenden Bild zusammenfaßt. Es enthält die quantenmechanische Theorie der Atome und Moleküle der Chemie als kleinen Teilbereich. Die Ermittlung der Lebensdauer des Z-Teilchens ist in Bild 3.46 dargestellt. Die dort gezeigte Linie zeigt nicht einen spektroskopischen Absorptionsquerschnitt nach Absorption elektromagnetischer Strahlung, sondern einen sogenannten Resonanzquerschnitt σ Z für die Reaktion von Elektronen e und Positronen e + bei sehr hohen Energien e + e + Z Produkte (3.122) Die hier verwendeten Energien der Hochenergiephysik sind GeV (1 GeV = 10 9 ev, ein Elektronenvolt 1 ev ist die Energie, die ein Elektron durch eine Spannung von 1 Volt erhält, 1 ev aj entsprechend 96.5 kj mol 1 ). Die Auswertung erfolgt analog zur spektroskopischen Bestimmung der Form und Breite einer Absorptionslinie. Man paßt eine Lorentzfunktion, Gl. (3.116), an die Meßdaten an (einschließlich einer relativistischen Korrektur, die zu einer Asymmetrie führt). Das Maximum des Resonanzquerschnittes entspricht der Energie oder Masse des Z-Teilchens (m Z 97.9 u mit der Umrechnung E = mc 2 ; wir geben hier gerundete Daten an.) m Z c 2 = GeV (3.123a) Die Halbwertsbreite ergibt sich aus einer genauen Auswertung, die auch den Untergrund und eine Asymmetrie der Linienform berücksichtigt Γ = 2.49 GeV (3.123b)

155 ! Experimentelle Methoden N ν = 2 σz/(am) 2 N ν = 4 N ν = 3 & & ' ' ' " ' $ E cm /(GeV) Bild 3.46 Linienform des Reaktionsquerschnittes σ Z (in am 2, 1 am = m) zur Bildung des Z-Teilchens aus e + + e als Funktion der Energie E cm in Gigaelektronenvolt (GeV). Die Messungen (Punkte) wurden am LEP (Large Electron Positron Collider) des CERN ausgeführt. Die drei gezeigten Auswertungen entsprechend dem Standardmodell mit der Annahme von 2, 3 und 4 verschiedenen Familien von Leptonen (nach [Schopper 1999]). Neuere Auswertungen finden sich bei [Martinez et al. 1999], die den bisher genauesten Wert von Γ = ( ± ) GeV ergeben. Hieraus ergibt sich k = s 1 (3.123c) τ = ys = s (3.123d) t 1/2 = τ ln 2 = ys (3.123e) Bild 3.46 erläutert auch noch ein wichtiges Ergebnis zur Interpretation der gemessenen Lebensdauer. Das Z-Teilchen zerfällt in zahlreiche unterschiedliche Produkte, unter anderem in (e +, e ), (µ +, µ )-Paare und in Paare von Neutrinos und Antineutrinos. Wir haben schon das gewöhnliche Elektronneutrino und sein Antineutrino, die gewissermaßen Geschwister des Elektrons e und des Positrons e + sind, erwähnt. Neben dem Elektron kennt man noch das Myon µ und sein Antiteilchen µ + mit dem dazugehörenden Myonneutrino und Myonantineutrino und schließlich als dritte Familie das Tauon τ ± und

156 3.10 Linienform-Methoden 149 die dazugehörenden τ-neutrinos und Antineutrinos. Man kann im Rahmen des Standardmodells die Lebensdauer des Z-Teilchens in Abhängigkeit von der Zahl der Neutrino-Antineutrinopaare berechnen, in die es zerfallen kann. Je mehr Zerfälle in verschiedene Familien von Produkten möglich sind, umso kürzer wird die berechnete Lebensdauer und umso breiter wird die Resonanz. Im Vergleich zum Experiment ergibt sich aus dem Standardmodell für zwei Familien eine zu schmale Linie (eine zu lange Lebensdauer) in Bild 3.46, für drei Familien paßt es gerade, während sich für die Hypothese eines Zerfalls in vier Familien eine zu breite Linie (eine zu kurze Lebensdauer) berechnet. Q Quarks Leptonen Q +2/3 ν e ν µ ν τ 0 up charm top -1/3 e - µ - τ - -1 down strange bottom Elektron Myon Tau rot blau grün Bild 3.47 System der Elementarteilchen des Standardmodells, wie es sich aus der Linienbreite und Lebensdauer des Z-Teilchens als vollständig ergibt. Quarks unterliegen der starken Kernkraft (unterschiedliche Farbladungen ziehen sich an), Leptonen unterliegen der schwachen Kernkraft. Farbladungen werden mit rot, blau und grün bezeichnet, elektrische Ladungen mit eq (eq ist ein Vielfaches oder Bruchteil der Elementarladung e). Zu jedem Teilchen gehört noch ein Antiteilchen gleicher Masse aber entgegengesetzter Ladung (z.b. Positron e + zum Elektron e, µ + zu µ, τ + zu τ usw., nach [Schopper 1999], siehe Bild 3.46). Das Experiment zeigt also im Rahmen dieser Auswertung durch das Standardmodell, daß es nur genau drei Familien von Leptonen (e ±, µ ±,τ ± ) mit ihren Neutrinos gibt. Aus Symmetriegründen kann man schließen, daß es auch nur drei Paare von Quarks gibt ( down, strange, bottom mit elektrischer Ladung e/3 und up, charm, top mit Ladung +2e/3) jeweils mit drei sogenannten Farbladungen (rot, blau, grün). Noch bis vor Kurzem wurde über die Existenz einer vierten Familie spekuliert mit dem hypothetischen L-Lepton, L-Neutrino ν L etc. (siehe Tab. 1.2 in [Grotz et al. 1989]). Diese Möglichkeit ist jetzt ausgeschlossen. Das Experiment zur extremen Kurzzeitkinetik des Z-Bosons hat also gezeigt, daß unser heutiges Periodensystem der Elementarteilchen (Bild 3.47) voll-

157 150 3 Experimentelle Methoden ständig ist und zumindest im Rahmen des Standardmodells nicht mehr durch weitere Teilchen ergänzt werden wird. Die Linienformanalyse für die Lebensdauer des Z-Bosons hat ein sehr fundamentales Ergebnis für unser Verständnis der elementaren Materie erbracht. Das Z-Teilchen und die schwache Wechselwirkung spielen indirekt für das heutige Verständnis der molekularen Chiralität in Chemie und Biologie eine wichtige Rolle. Die geringe Asymmetrie, die sich aus der elektroschwachen Wechselwirkung in Molekülen ergibt, führt zu einem kleinen Energieunterschied zwischen R und S Enantiomeren, der die Struktur und Dynamik von solchen chiralen Molekülen dominiert, die unter gewöhnlichen Bedingungen als langlebige, isolierte Enantiomere bekannt sind (mit Lebensdauern größer als Stunden, siehe [Quack 1999]) Andere Ursachen der Linienverbreiterung Ein ganz offensichtliches Problem bei der Auswertung von Linienbreiten im Hinblick auf kinetische Prozesse besteht darin, daß Linienbreiten alle möglichen Ursachen haben können, nicht nur kinetische. Eine triviale Ursache ist zum Beispiel eine mangelhafte Experimentiertechnik, die zu breiten Linien wegen schlechter spektraler Auflösung führt. Ein geflügeltes Wort der Spektroskopiker besagt: Breite Linien deuten meist nicht auf kinetische Prozesse hin, sondern auf schlechte Experimente. Natürlich läßt sich diese Ursache durch geeignete Techniken überprüfen und ausmerzen. Selbst wenn die experimentelle, spektroskopische Auflösung wesentlich besser ist als zur genauen Vermessung der Linienformen und -breiten mindestens nötig ist, gibt es dennoch physikalische Ursachen für Linienbreiten, die nicht auf reaktionskinetischen Vorgängen beruhen. Eine solche Ursache für Linienbreiten in Gasen ist der Dopplereffekt. Moleküle, die sich mit einer Geschwindigkeit v auf die Lichtquelle hin bewegen, absorbieren bei einer anderen Frequenz ν, als Moleküle in Ruhe oder Moleküle, die sich von der Lichtquelle weg bewegen. Der Effekt ist auch für Schallwellen im täglichen Leben bekannt. Der Dopplereffekt führt zu einer gaußschen Linienform mit einer Halbwertsbreite ν D (FWHM), die durch folgende Gleichungen gegeben ist: σ G (ν) = σ 0 exp[ c 2 (ν ν 0 ) 2 /(vwν 2 0)] 2 ν D = ν D = Γ D 8kT ln 2 = =7.16 ν 0 ν 0 E 0 c m (T/K) (m/u) (3.124a) (3.124b) Hierbei ist σ G (ν) der Absorptionsquerschnitt, c die Lichtgeschwindigkeit, v w die wahrscheinlichste Geschwindigkeit der Moleküle bei einer Maxwell-Boltzmann Verteilung (s. Kap. 4) und ν 0 ist die Linienfrequenz am Maximum. Aus

158 Linienform-Methoden 151 der praktischen Gleichung (3.124b) ganz rechts erhält man direkt ν D /ν 0, wenn man T in Kelvin einsetzt und die Molekülmasse in u. Wegen der gaußschen Linienform läßt sich dieser Effekt bei guter Auflösung von der natürlichen Lorentzlinienform aufgrund exponentieller Zerfallsprozesse trennen und beide separat bestimmen. Wenn die Dopplerbreite jedoch groß gegenüber der natürlichen Breite ist, läßt sich die natürliche Linienbreite praktisch nicht mehr bestimmen. Für das oben erwähnte Beispiel der Schumann-Runge-Banden ergibt sich bei ν 0 = cm 1, T = 300 K und mit m 32 u eine Dopplerbreite von ν D cm 1. Das ist deutlich kleiner als die oben erwähnten Prädissoziationslinienbreiten, die deshalb quantitativ ermittelt werden können. Für das Beispiel des Iodatomspektrums bei 7603 cm 1, welches wir in Kapitel 3.7 besprochen haben, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die natürliche Lebensdauer für spontane Lichtemission ist τ = 14 ms k = s 1 Γ = k 2πc = cm 1 Die Dopplerbreite dieses Überganges ist bei 300 K I (2 P 1/2 ) I ( 2 P 3/2 ) + hν (3.125) ν D = cm 1 Γ Unter diesen Bedingungen läßt sich Γ praktisch nicht mehr aus der Messung der Linienform und -breite ermitteln. Das mit extrem hoher Auflösung (1 MHz) gemessene IR-Spektrum des (HF) 2 - Komplexes mit der Reaktion Schema 3.4 Dissoziation des HF-Dimers nach selektiver Schwingungsanregung der mit gekennzeichneten HF-Bindung. ist ein neueres Beispiel, für welches sowohl der Anteil der gaussförmigen Dopplerlinienform als auch der Anteil der durch Prädissoziation nach Schema 3.4 bestimmten Lorentzlinienform bestimmt werden konnten. Die Bindungsenergie beträgt R H 0 0 = D kj mol 1. Regt man die eine HF-Streckschwingung mit zwei Quanten an (im Schema 3.4 durch einen Stern markiert), so entspricht das etwa einer Energie von 92 kj mol 1, also einem Vielfachen der Energie, die für den Bruch der Wasserstoffbrückenbindung benötigt wird. Die Lebensdauer

159 152 3 Experimentelle Methoden konnte durch Messung der Linienform im Spektrum von (HF) 2 Molekülen im Überschallstrahl zu τ = 1.33 ns bestimmt werden. Bild 3.48 zeigt das entsprechende Infrarotspektrum und die Analyse am Beispiel einzelner Linien. Diese Lebensdauer ist zwar recht kurz, aber im Vergleich zur Schwingungsperiode von τ S 9 fs der HF-Streckschwingung doch recht lang: Die Wasserstoffbrückenbindung überlebt trotz der extrem hohen Energie ungefähr HF-Streckschwingungsperioden. Der Grund hierfür ist die relativ langsame Übertragung der Energie von der hochfrequenten HF-Streckschwingung auf die niederfrequente Wasserstoffbrückenbindungsschwingung (Periode τ B 277 fs 30 τ S ). Bild 3.48 Ausschnitt aus dem Infrarotspektrum und Linienanalyse in (HF)-Dimer. (a) und (b) Einzelne Linien mit experimenteller Linienformanalyse und daraus bestimmter Temperatur. (c) Teil des (HF) 2 Infrarotspektrums mit zugeordneten Rotationsübergängen (nach [He et al. 2007], siehe auch [Hippler et al. 2007]). Aus der Linienformanalyse ergibt sich auch der Anteil der Dopplerlinienbreite

160 3.10 Linienform-Methoden 153 zu ν D 133 MHz, was einer effektiven Temperatur von 26 K entspricht. Die Linienformanalyse für die Dopplerverbreiterung entspricht also einem Thermometer zur Messung der effektiven Temperatur im Überschallstrahl. Man kann das Thermometer, wie in Bild 3.49 gezeigt ist, durch Messungen an HF Monomermolekülen bei Zimmertemperatur überprüfen. In dem gezeigten Beispiel ergibt sich ν D = (633 ± 2) MHz, was einer Temperatur von (292 ± 1) K entspricht. Bild 3.49 IR Absorptionsspektrum des ersten Obertones des HF Monomeren in der Zelle (oben) und im Überschallstrahl (Mitte). Das untere Bild zeigt Etalonsignale, die zur Frequenzeichung dienen (nach [He et al. 2007]). Die Linienformen von Spektrallinien sind meist keine reinen Gauss- oder Lorentzprofile. Die durch eine Kombination (mathematisch spricht man von Faltung, falls beide linienverbreiternden Prozesse unkorreliert sind) von gaussscher Dopplerlinienform und Lorentzlinienform entstehende Linienform heisst Voigtprofil P(x,y) mit (nach [Armstrong 1966]) P(x,y) = c 1 K(x,y) ν 0 v w π (3.126a) 1/2

161 154 3 Experimentelle Methoden Hier haben wir die Abkürzungen x = 2(ν ν 0) ln 2 ν G (3.126b) und y = ν Lh ν G (4 ln 2) 1/2 (3.126c) verwendet. Das sind Skalierungen der Frequenzachse und der Lorentzbreite in Vielfachen von ν G. ν G bezeichnet die volle Halbwertsbreite der Gaussfunktion (oder Dopplerbreite ν D = ν G ) und ν Lh die halbe Halbwertsbreite der Lorentzfunktion (also ν Lh = ν L /2). Die Voigtfunktion K(x,y) ist gegeben durch das Integral K(x,y) = y π e r2 y 2 + (x r) 2 dr (3.126d) welches in der Regel nur numerisch ausgewertet werden kann. In zwei einfachen Grenzfällen kann man einen analytischen Ausdruck für K(x, y) angeben, den wir schon kennen: Im Fall einer reinen Dopplerfunktion (also ν Lh = 0 oder y = 0) erhält man P(x, 0) = c 1 K(x, 0) = c ν 0 v w π1/2 1 ν 0 v w π 1/2 e x2 (3.126e) was der gaussförmigen Linienformfunktion Gl. (3.124a) entspricht. Im Falle einer verschwindenden Dopplerfunktion (also ν G = 0 oder äquivalent x und y ) ergibt sich die Lorentzfunktion Gl. (3.116a) P(x,y ) = 1 π ν Lh ν 2 Lh + (ν ν 0) 2 (3.126f) Man sollte die absolute Genauigkeit einer solchen Analyse mit zwei unabhängigen Beiträgen zur Linienbreite (Gauss- und Lorentzbreite) aber nicht überschätzen, da es meist Korrelationen zwischen den verschiedenen Beiträgen gibt. Eine andere Ursache für Linienbreiten ist die Stoßverbreiterung durch Stöße mit einem Partner M Γ Stoss = k eff h/ (2π) (3.127a) k eff = ( 8kT πµ ) 1/2 σ eff [M] (3.127b)

162 3.10 Linienform-Methoden 155 σ eff ist der effektive Stoßquerschnitt und µ die reduzierte Masse für den Stoß von A mit M (siehe Kapitel 3.1 und 4, µ = m A m M /(m A + m M )). Die Stoßverbreiterung ist auch eine Art Lebensdauerverbreiterung aufgrund eines kinetischen Prozesses scheinbar erster Ordnung. Sie führt zu einer Linienbreite, die linear von [M] abhängt und deshalb prinzipiell separat bestimmt werden kann. Wenn jedoch Γ Stoß unter den experimentell erreichbaren Bedingungen stets wesentlich größer ist als die natürlichen oder Prädissoziationslinienbreiten, können diese praktisch nicht mehr aus den Linienformmessungen bestimmt werden. In kondensierten Phasen gibt es noch zahlreiche weitere Mechanismen der Linienverbreiterung und andere Komplikationen, so daß man bei der erwähnten Auswertung höchste Vorsicht walten lassen muß. Vorsicht ist schließlich auch geboten bei der Betrachtung des Zusammenhanges zwischen der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation E t h/ (4π) (3.128) und Gl. (3.115). Die Unbestimmtheitsrelation ist eine Ungleichung zwischen dem Produkt von Unbestimmtheiten E und t (Wurzel aus der mittleren quadratischen Abweichung vom Mittelwert). Gleichung (3.115) ist eine Gleichung. In der Tat muß Gl. (3.115) die zusätzliche Bedingung (Gl. (3.128)) erfüllen, sie läßt sich jedoch nicht aus Gl. (3.128) herleiten. Es zeigt sich, daß das Produkt der Unbestimmtheiten für die Lorentzfunktion der Energie und die Exponentialfunktion des Zerfalls E L t e = ergibt ( E L =, während t e endlich groß ist). Dies erfüllt (3.128) in ziemlich trivialer Weise. Man darf nicht E L = Γ und t e = k 1 = τ einsetzen und Gl. (3.128) als Gleichung verwenden, wie dies oft gemacht wird. Schließlich sollte noch darauf hingewiesen werden, daß man nicht immer die gesamte Linienbreite und Linienform aus der Kombination von verschiedenen Prozessen durch Faltung der Linienformen ermitteln kann, wie dies oben beim Voigtprofil getan wurde. Hat man zum Beispiel eine Stoßverbreiterung durch Stöße zwischen Gasmolekülen und gleichzeitig eine zunächst wesentlich größere Dopplerverbreiterung durch die thermische Bewegung der Gasmoleküle, so kann man bisweilen beobachten, daß die große Dopplerlinienbreite bei Erhöhung des Gasdruckes mit Erhöhung der Stoßzahl zunächst reduziert wird. Die Dopplerlinien werden also nicht stoßverbreitert sondern stoßverschmälert. Ein solcher Effekt ist zum Beispiel im Infrarotspektrum von Wasserdampf beobachtet worden und wird als Dicke-Verschmälerung (nach dem Entdecker Dicke) bezeichnet. Die physikalische Ursache ist der Linienverschmälerung durch chemischen Austausch in der NMR Spektroskopie verwandt, die wir im nächsten Kapitel besprechen.

163 156 3 Experimentelle Methoden Magnetische Resonanz und chemischer Austausch Wir betrachten als Beispiel die einfache Reaktion A k a k b B (3.129) A B a) b) S c) Bild 3.50 NMR und chemischer Austausch (Absorptionssignal S): a) Langsame Reaktion, tiefe Temperatur bzw. kein Katalysator; b) mässige Reaktionsgeschwindigkeit; c) schnelle Reaktion, hohe Temperatur bzw. mit Katalysator. ν Wenn die Umwandlungsgeschwindigkeit sehr klein ist, kann man jedem Isomeren ein NMR-Spektrum mit einer bestimmten chemischen Verschiebung zuordnen. Man denke zunächst an das unterschiedliche Spektrum der Methylprotonen in den verschiedenen Isomeren oder Konformeren eines im Schema 3.5 gezeigten Amids.

164 3.10 Linienform-Methoden 157 O R 1 CH 3 N R 2 O R 1 R 2 N CH 3 A B Schema 3.5 Chemischer Austausch in Methylprotonen von Isomeren eines Amids, R 2 =CH 3 entspricht dem symmetrischen Austausch. Die Beschleunigung der Reaktion durch eine Temperaturerhöhung führt zu Koaleszenz (Zusammenfallen der Linien) und bei hoher Temperatur schließlich zu einer einzigen, scharfen Linie. Wenn die Reaktion nicht elementar ist, sondern z.b. durch einen Katalysator beschleunigt wird, kann man die Reaktionsgeschwindigkeit durch die Konzentration des Katalysators bei konstanter Temperatur variieren (Bild 3.50). Für den Fall des symmetrischen Austausches k = k a = k b (z.b. mit R 2 =CH 3 ) erhält man das in Bild 3.51 dargestellte Verhalten. Bei tiefer Temperatur (a) ist die Umwandlung langsam und man erhält für die beiden möglichen Positionen der Methylgruppe zwei verschiedene NMR-Resonanzfrequenzen, die um δ getrennt sind. Bei hoher Temperatur (c) ist die Umwandlung sehr schnell und man erhält ein einzelnes Signal. Wenn gerade Koaleszenz (b) vorliegt, beschreibt Gl. (3.130) die Geschwindigkeitskonstante k für die Umwandlung. Hier kann man natürlich keines der Signale bei langsamer Reaktion einem Isomeren, wohl aber einer Lage der Methylgruppe zuordnen. Für den symmetrischen Austausch gilt bei Koaleszenz für die Geschwindigkeitskonstanten die besonders einfache Formel: k = πδ/ 2 (3.130) δ ist der Frequenzunterschied der Signale bei langsamer Reaktion (Bild 3.51). Der Effekt läßt sich mit Hilfe der Unbestimmtheitsrelation Gl. (3.128) qualitativ verstehen. Eine quantitative, ausführliche Behandlung wird im Lehrbuch über NMR Spektroskopie gegeben [Ernst, Bodenhausen, Wokaun 1987]. Beispiel: [Anderson et al. 1967] haben die Umwandlung der Enantiomeren A und B untersucht: k H 3 C k N N CH 3 N N CH 3 CH3 Schema 3.6 Chemischer Austausch bei der Umwandlung von zwei Enantiomeren

165 158 3 Experimentelle Methoden Eine solche Stereomutation oder Enantiomerisierung ist ein Sonderfall des symmetrischen Austausches, bei dem die gewöhnlichen NMR Spektren der getrennten Enantiomeren gleich sind, obwohl die beiden Substanzen auf anderem Wege unterscheidbar sind (z. B. mit polarisiertem Licht). Die beiden Signale bei tiefen Temperaturen entsprechen also nicht den beiden Enantiomeren sondern den verschiedenen Positionen der Methylgruppen in jedem der Enantiomeren. Durch die Paritätsverletzung würde allerdings die exakte Spiegelbildäquivalenz der beiden Enantiomere aufgehoben [Quack, Stohner 2001, Quack 2002]. δ sehr langsame Umwandlung a) S Koaleszenz b) schnelle Umwandlung c) Bild 3.51 Symmetrischer Austausch (Absorptionssignal S): a) langsame Reaktion, tiefe Temperatur; b) Koaleszenz; c) schnelle Reaktion, hohe Temperatur. Bei 39 C findet man zwei Signale (Bild 3.51 a) mit einer Separation von δ = 16 Hz, Koaleszenz findet bei 15 C statt (Bild 3.51 b) und schließlich findet man ein scharfes Signal bei 57 C (Bild 3.51 c), ähnliche Ergebnisse erhält man sowohl in CDCl 3 als auch in Pentan als Lösungsmittel. Man erhält aus Gl. (3.130) k = 35 s 1 bei 288 K. Für allgemeine Fälle und kompliziertere Reaktionen gibt es keine einfachen Formeln für die Geschwindigkeitskonstanten. Man kann die Spektren aber mit einer allgemeinen Theorie simulieren und die ν

166 3.10 Linienform-Methoden 159 Geschwindigkeitskonstanten aus der Anpassung an experimentelle Spektren erhalten. Weiterführende Lehrbücher zur Bestimmung von Geschwindigkeitskonstanten nach dieser Methode sind [Ernst, Bodenhausen, Wokaun 1987], [Oki 1989], [Sandström 1982] und [Bain 2001] Anmerkung zu den Linienformmethoden Die Messung der Linienform eines Spektrums im chemischen Gleichgewicht ist etwas prinzipiell anderes als die Messung der zeitabhängigen Relaxation eines chemischen Systems in das Gleichgewicht (vergl. Kap. 3.5.). Bei geeigneter Interpretation lassen sich oft dieselben Geschwindigkeitsparameter - die Geschwindigkeitskonstanten k - ermitteln. Manchmal haben jedoch diese Größen in den verschiedenen Verfahren eine verschiedene Bedeutung und verschiedene Zahlenwerte (vergl. [Quack 1984a]).

167 160 3 Experimentelle Methoden 3.11 Molekülstrahlkinetik Mit dieser Technik werden Wirkungsquerschnitte von bimolekularen Reaktionen bestimmt. Man untersucht Stöße zwischen Teilchen, Elementarreaktionen im wahren Sinne, und analysiert die Produkte Absorptionsexperiment, Streukammer und Wirkungsquerschnitt σ Ein Molekülstrahl von Molekülen A mit der Intensität I 0 wird durch eine kleine Öffnung auf eine Streukammer mit dem Gas B gerichtet, dessen Druck und Konzentration durch permanente Gaszufuhr konstant gehalten werden, um den Verlust durch die Öffnung auszugleichen. Der Rest der Apparatur wird durch ein Vakuumsystem auf sehr geringem Druck (p 0) gehalten. Der Teilchendetektor mißt die austretende Intensität I des Gasstrahls A (Bild 3.52). Streukammer x Molekülstrahl I 0 p = const I Gas A Gas B Absorptionslänge Teilchendetektor Vakuumapparatur Pumpe Bild 3.52 Schema einer Streukammer. Die mathematische Beschreibung verwendet zunächst die Intensität des Molekülstrahls I = v A C A (3.131) mit der Geschwindigkeit v A der Moleküle A und ihrer Konzentration C A als

168 3.11 Molekülstrahlkinetik 161 Teilchenzahldichte. I 0 = v A CA 0 ist die einfallende Anfangsintensität (Teilchenzahl cm 2 s 1 ) und CA 0 ist die Dichte der Teilchen A (Teilchenzahl/cm3 ) im einfallenden Molekülstrahl. Das streuende Gas B in der Kammer soll im Vergleich zum Molekülstrahl der Teilchen A ruhen, seine thermische Geschwindigkeit v B sei viel kleiner als die Geschwindigkeit der Teilchen im Strahl. v B 0 Die Veränderung der Intensität des Strahles während seines Weges durch die Streukammer wird durch folgende, dem Lambert-Beerschen Gesetz analoge Beziehung beschrieben: di = σi C B dx (3.132) mit σ I Die Integration liefert: oder = Wirkungsquerschnitt für die Absorption von A bei Stößen mit B = Intensität an der Stelle x = v A C A ln I 0 I = σ C B l (3.133) σ = 1 C B l ln I 0 I (3.134) Aus diesem Wirkungsquerschnitt läßt sich die Geschwindigkeitskonstante berechnen, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden Spezifische bimolekulare Geschwindigkeitskonstante Wir betrachten das Beispiel A + B Produkte (3.135) Für diese Reaktion gelte zunächst vereinfachend die Annahme, daß jede Absorption auf demselben reaktiven Prozess beruhe. Dann gilt für die Konzentration von A dc A dt = k (E t ) C A C B = k(v r ) C A C B k (v A ) C A C B (3.136) Wir nehmen hier vereinfachend an, daß die relative Stoßenergie E t und die Relativgeschwindigkeit v r beim Stoß gleich der Translationsenergie und entsprechend der Geschwindigkeit der Teilchen A ist. Eine genaue Betrachtung

169 162 3 Experimentelle Methoden zeigt, daß stets die Größen der Relativbewegung von A und B relevant sind. Also gilt: E t = Translationsenergie von A relativ zu B, das entspricht der Stoßenergie v r = 2E t /µ v A Relativgeschwindigkeit beim Stoß µ = m A m B / (m A + m B ) reduzierte Masse C i = Molekülzahldichte, molekulare Konzentration Man transformiert die Ortskoordinate auf die Zeitachse; die Abnahme von C A entlang der Streukammer entspricht einer Abnahme mit der Zeit. Unter Verwendung von Gl. (3.131) und (3.132) erhält man: di dx = d (C Av A ) dx Hinweis: v A ist konstant, also gilt dc A = v A dx = dc A dt v A = dx dt = const; = σ C A v A C B (3.137) dv A dt = 0 Durch Vergleich von Gl. (3.136) mit (3.137) erhält man: oder und k (E t ) C A C B = σ v A C A C B (3.138) k (E t ) = σ v A = k (v A ) k (E t ) = σ 2E t /µ (3.139a) (3.139b) Wir haben hiermit also eine allgemeine theoretische Beziehung zwischen einem Wirkungsquerschnitt σ und einer Geschwindigkeitskonstanten k erhalten. Anmerkung: In der Herleitung haben wir vereinfachend angenommen, daß die Teilchen B ruhen und eine sehr große Masse haben. Wichtig für den Stoß von A mit B ist aber in jedem Fall die relative Geschwindigkeit und die kinetische Energie der Relativbewegung. Man kann allgemein die kinetische Energie zweier Teilchen mit den Geschwindigkeiten v A und v B in einen Anteil aus der Bewegung des gemeinsamen Schwerpunktes S und einen verbleibenden Anteil aus der Energie der Relativbewegung zerlegen (siehe Übungsanhang). Die angegebenen Gleichungen mit v r,e t und der reduzierten Masse µ sind richtig für den allgemeinen Fall.

170 3.11 Molekülstrahlkinetik Aufteilung in reaktive und nicht reaktive Stöße (einfachstes Experiment) Wir betrachten das Beispiel H + CCl 4 HCl + CCl 3 (3.140) Vakuumapparatur CCl, Gaszufuhr 4 x T Ofen = 2400K I 0, H I dn dt Pumpe Pumpe Kühlfalle ( l - N 2 ) Bild 3.53 Schema des experimentellen Aufbaus. In der Kühlfalle wird HCl kondensiert (Bild 3.53) und dn HCl /dt zum Beispiel durch Titration bestimmt. Für das Verhältnis der reaktiven Querschnitte zu allen Querschnitten gilt (F = Querschnittsfläche des Molekülstrahls): σ R σ tot = dn HCl dt { } 1 d (n0 n) (3.141a) dt = dn HCl dt {F (I 0 I)} 1 (3.141b) Die Messergebnisse dieses Experimentes lauten: σ tot = 77 Å 2 und σ R = 10 Å 2. Die meisten Stöße führen also nicht zur Reaktion [Seidel 1965].

171 164 3 Experimentelle Methoden Potentialfunktionen und Energieabhängigkeit des Wirkungsquerschnittes Die Reaktionsquerschnitte σ R sind nicht konstant, sondern hängen von der Stoßenergie ab. Man unterscheidet mehrere Typen von Reaktionen (siehe auch Kap. 4). (i) Typ 1: Hier ist eine Aktivierungsenergie E 0 nötig, damit die Reaktion stattfinden kann. Bild 3.54 zeigt die entsprechende potentielle Energie der V( r) E 0 K+CH 3 I KI+CH 3 r Bild 3.54 Potentialfunktion V (r) (qualitativ) als Funktion einer Reaktionskoordinate r. 0.5 σ nm E E ( kj mol - 1 ) Bild 3.55 Reaktionsquerschnitt σ als Funktion der Stoßenergie für die Reaktion K + CH 3 I (gemessene Werte, schematisch). Wechselwirkung V (r) der reagierenden Teilchen als Funktion einer Reaktionskoordinate r, die für große Abstände der Distanz zwischen den Reaktanden

172 3.11 Molekülstrahlkinetik 165 (K + CH 3 I) oder den Produkten (KI + CH 3 ) entspricht (siehe auch Kap. 4). Wir betrachten die Reaktion [Bernstein 1982, Rulis, Bernstein 1972]: K + CH 3 I KI + CH 3 R H 0 0 = kj mol 1 E 0 20 kj mol 1 (3.142) Die potentielle Energie V (r) als Funktion der Reaktionskoordinate r ist in Bild 3.54 dargestellt und die dazu gehörende Form der Reaktionsquerschnittes σ als Funktion der Energie E in Bild (ii) Typ 2: Bei diesem Typus ist keine Aktivierungsenergie E 0 notwendig, was in Bild 3.56 für V (r) gezeigt ist. Die Reaktion findet bei jeder Stoßenergie statt. Der Querschnitt nimmt mit wachsender Energie stetig ab, in Bild 3.57 V( r) À µ Ö ¾ ÈË Ö Ö ÔÐ Ñ ÒØ À µ Ö Ö Bild 3.56 Potentialfunktion V (r) (qualitativ) als Funktion einer Reaktionskoordinate r für die Reaktion H(D) + Br 2 H(D)Br + Br. r σ σ 0 D 2 1 H E ( kj mol - 1 ) Bild 3.57 Reaktionsquerschnitt σ als Funktion der Stoßenergie E (gemessen, schematisch). σ 0 ist ein Referenzwert zur Skalierung.

173 166 3 Experimentelle Methoden gezeigt für die Reaktionen: H + Br 2 HBr + Br (3.143a) D + Br 2 DBr + Br (3.143b) Man stellt einen Isotopeneffekt fest (siehe Bild 3.57). (iii) Typ 3: Diese Klasse von Reaktionen zeichnet sich durch eine ausgeprägte Abnahme des Reaktionsquerschnittes mit der Energie aus. Die Potentialfunktion zeigt ein tiefes Minimum, das einer metastabilen Zwischenstufe entspricht. Im Beispiel von Bild 3.58 ist die Zwischenstufe HD + 2, die auch als stabiles Molekül (oder Molekülion) vorliegen kann. V( r) H + +D 2 HD + D + HD + 2 Bild 3.58 Potentialkurve V (r) für die Reaktion H + + D 2 HD + D +, qualitativ. r σ nm E ev Bild 3.59 Reaktionsquerschnitt σ der Reaktion H + + D 2 HD + D + als Funktion der Stoßenergie E.

174 3.11 Molekülstrahlkinetik 167 Das ist am Beispiel der folgenden Reaktionen in Bild 3.58 und 3.59 gezeigt: H + + D 2 HD + D + (3.144a) D + + H 2 HD + H + (3.144b) Die Energieabhängigkeit des Reaktionsquerschnittes allgemein und die Konsequenzen für die Theorie chemischer Reaktionen werden in Kapitel 4 noch ausführlicher diskutiert Winkelabhängigkeit und molekularer Mechanismus Die Messung der Winkel- und Energieverteilung der Stoßprodukte in ihrem Schwerpunktssystem liefert sehr detaillierte Informationen über die Natur der chemischen Reaktionen, anhand der folgenden drei Beispiele soll dies qualitativ gezeigt werden. A drehbarer Detektor AB θ BC BC Bild 3.60 Darstellung einer Apparatur zur Messung der Winkelabhängigkeit von Streuquerschnitten einer Reaktion A + BC AB + C. Das Produkt AB wird durch einen drehbaren Detektor nachgewiesen. A Die Winkelabhängigkeit der Stoßprodukte für die Bildung von Fluorethylen [Farrar, Lee 1974, Lee, Shen 1980, Lee 1987] ist in Bild 3.61 gezeigt. F + C 2 H 4 C 2 H 4 F C 2 H 3 F + H (3.145) Jeder Punkt in einem solchen Diagramm gibt die Wahrscheinlichkeit an, ein Produktteilchen mit der Geschwindigkeit v unter dem Winkel θ zu finden. Der Abstand vom Kreuzungspunkt der Achsen gibt den Betrag der Geschwindigkeit der Produkte an, der Winkel θ die Richtung, unter der das Produkt

175 168 3 Experimentelle Methoden F + C 2 H 4 C 2 H 4 F * C 2 H 3 F + H θ= π 2 C 2 H 3 F Winkel θ C 2 H 4 F Geschwindigkeitsachse (v) θ = - π 2 Linien gleicher Wahrscheinlichkeit höchste Wahrscheinlichkeit Bild 3.61 Winkelabhängigkeit der Stoßprodukte für die Reaktion F + C 2 H 4 (siehe Text). K + CH 3 I KI + CH 3 KI θ= π 2 K v 100 ms - 1 ( ) Winkel θ CH 3 I höchste Wahrscheinlichkeit Bild 3.62 Winkelabhängigkeit der Stoßprodukte für die Reaktion K + CH 3 I (siehe Text).

176 3.11 Molekülstrahlkinetik 169 (z.b. C 2 H 3 F) gefunden wird. Jede Linie gleicher Wahrscheinlichkeit wäre mit einem Zahlenwert zu versehen (im Bild nur qualitativ gezeigt). Die Verteilung ist symmetrisch um θ = π/2, dies deutet auf eine Komplexbildung hin. Dieser Zwischenkomplex scheint langlebig zu sein, er zerfällt erst nach mehreren Schwingungs- und Rotationsperioden. Es gibt keine Bevorzugung für einen Zerfall in die Einfallsrichtung der Stoßpartner, wie es vielleicht für einen sehr kurzen Stoß zu erwarten wäre. Die Ergebnisse für die Reaktion K + CH 3 I KI + CH 3 (3.146) sind in Bild 3.62 dargestellt. Die Verteilung ist hier sehr asymmetrisch. Das ist ein Hinweis auf eine direkte Reaktion mit Rückwärtsstreuung. Die Reaktion RbCl + Cs Rb + CsCl (3.147) wurde von Herschbach und Mitarbeitern ([Herschbach 1987] und dort zitierte Literatur) untersucht. Die Ergebnisse sind in Bild 3.63 dargestellt. Man findet Vorwärts- und Rückwärtssymmetrie. Es bildet sich vermutlich ein Komplex, der gerade etwa eine Rotationsperiode lang lebt. RbCl + Cs Rb + CsCl θ= π 2 RbCl Rb Winkel θ Cs CsCl Bild 3.63 Winkelabhängigkeit der Stoßprodukte für die Reaktion RbCl + Cs. Geschwindigkeitsachse (v) höchste Wahrscheinlichkeit Es kann hier nicht im Detail erläutert werden, wie man aus der Auswertung von Molekülstrahlexperimenten zu solchen Schlußfolgerungen kommt. Es ist aber offensichtlich, daß diese Technik es erlaubt, die molekularen Mechanismen chemischer Elementarreaktionen in ihren feinsten Einzelheiten aufzuklären (vergl. [Fluendy, Lawley 1973]).

177 170 3 Experimentelle Methoden 3.12 Molekulare Quantenkinetik aus hochauflösender Spektroskopie Intramolekulare kinetische Prozesse Die im vorhergehenden Unterkapitel besprochene Molekülstrahlkinetik bimolekularer Reaktionen ist von prinzipiellem Interesse, da eine genaue theoretische Analyse zeigt, daß die kinetischen Schlußfolgerungen im Prinzip aus einem stationären Experiment mit einem kontinuierlichen Strom von Teilchen gezogen werden. Aus den Reaktionsquerschnitten werden Geschwindigkeitskonstanten für die Kinetik und zeitabhängige Prozesse errechnet. Diese errechneten Größen sind dennoch als experimentell zu betrachten. Allerdings weiß man aus diesen Experimenten nichts Genaues über die zeitabhängigen Prozesse, die während des Stosses ablaufen, die man innerhalb eines möglicherweise sogar relativ langlebigen Stoßkomplexes als unimolekular oder intramolekular betrachten kann. Man betrachtet ja nur den Ausgangszustand vor dem Stoß und den Endzustand nach dem Stoß im Molekülstrahl. So wäre zum Beispiel von prinzipiellem Interesse, welche intramolekularen Prozesse zu dem schon in Kapitel 2 erwähnten großen Unterschied zwischen der Atomrekombination H + H + H H 2 + H (3.148) die trimolekular zu einer chemischen Bindung in einem zweiatomigen Molekül führt und der Radikalrekombination H + CR 1 R 2 R 3 CHR 1 R 2 R 3 (3.149a) M + CHR 1 R 2 R 3 CHR 1 R 2 R 3 + M (3.149b) die in zwei bimolekularen Schritten abläuft, mit einem relativ langlebigen Stoßkomplex CHR 1 R 2 R 3. Eine weitere Möglichkeit für diese allgemeine Reaktionsfolge ist die chemische Aktivierungsreaktion mit der weiteren Möglichkeit eines Bindungsbruchs H + C 2 H 5 C 2 H 6 (3.150a) C 2 H 6 + M C 2 H 6 + M (3.150b) C 2 H 6 2CH 3 (3.150c) Offenbar ist die H H Bindungsbildung (und die C H-Bindungsbildung) im zweiatomigen Molekül dynamisch sehr verschieden von der C H-Bindungsbildung in einem vielatomigen, organischen Molekül. Qualitativ besteht im vielatomigen Molekül offensichtlich die Möglichkeit, die Energie von der neugebildeten Bindung auf andere Freiheitsgrade intramolekular zu übertragen. In dem folgenden Reaktionsschema ist die Lokalisierung der Anregungsenergie

178 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie 171 durch die Position der Sterne in den Molekülformeln angedeutet ! ! ! ! ! !! ! ! " ! ! # Schema 3.7 Intramolekulare Energieumverteilung in gesättigten Kohlenwasserstoffen mit isoliertem CH-Chromophor. Anregung ist mit einem gekennzeichnet und eine durch Schwingungsanregung gelockerte Bindung gestrichelt. Besonders hohe Anregungen sind durch und markiert. In dem Zwischenprodukt Z (Schema 3.7) ist die Energie so auf die verschiedenen Teile des Moleküls verteilt, daß sie nicht zum Bruch einer CH-Bindung oder einer anderen Bindung ausreicht. Eine solche Reaktion ist erst wieder möglich, wenn hinreichend viel Energie in einer Bindung lokalisiert ist, um diese zu brechen (z.b. C H oder C R 3 ). Es wäre offensichtlich lohnend, solche und andere intramolekularen Prozesse im Detail zu verstehen. Prinzipiell könnte man daran denken, mit Hilfe von Femtosekundenimpulsspektroskopie solche Vorgänge zeitaufgelöst zu verfolgen. Die Schwierigkeiten dieses Ansatzes ergeben sich aus der Kürze der benötigten Zeiten und aus der häufig vieldeutigen Interpretation der zeitaufgelösten Signale. Es zeigt sich, daß eine prinzipiell andere Idee zum Studium kinetischer Vorgänge auch zum Ziel führt Molekülspektren und Moleküldynamik Ein Ansatz zum Studium zeitabhängiger intramolekularer Dynamik ist in schematischer Darstellung in Bild 3.64 gezeigt. Der Ausgangspunkt sind sehr hochaufgelöste Frequenz- oder Energiespektren von Molekülen, in der Regel ohne jede Zeitabhängigkeit stationär gemessen. Die Analyse dieser Spektren erlaubt im Idealfall die experimentelle Ermittlung eines molekularen Hamiltonoperators (oder der relevanten Teile hiervon). Mit Hilfe dieses Operators

179 172 3 Experimentelle Methoden kann über einen geeigneten Zeitentwicklungsoperator die vollständige molekulare Hamilton-Schrödingersche Quantendynamik berechnet werden. Hieraus ergeben sich alle relevanten zeitabhängigen Phänomene. Als Hilfsmittel bei MOLEKÜLSPEKTREN Hochauflösende Molekülspektroskopie Fourier Transform Spektroskopie Laserspektroskopie (Symmetrieauswahlregeln) Effektive Hamilton operatoren (Effektive Symmetrien) Rovibronische Schrödingergleichung Ab initio Hamiltonoperatoren (Theoretische Symmetrien) Elektronische Schrödingergleichung Molekulare Hamilton operatoren H ^ (Beobachtete Symmetrien) ^ Zeitevolutionsoperator U (Matrix) Ab initio Potentialflächen und Hamiltonoperatoren (Symmetrien) Molekulare Kinetik und Statistische Mechanik (Erhaltungssätze und Konstanten der Bewegung) MOLEKÜLDYNAMIK Bild 3.64 Schema zur Ermittlung der Moleküldynamik aus Molekülspektren (nach [Quack 1999]). der Auswertung und Interpretation der experimentellen Daten dienen ausgiebige theoretische Rechnungen. Dennoch sind die Ergebnisse schließlich als aus Experimenten gewonnen zu werten. Die Quantenmechanik dient lediglich zur Übersetzung der spektroskopischen Experimente in kinetische Ergebnisse. Die Details dieses etwas abstrakten Schemas können erst in Band

180 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie besprochen werden, wenn die wesentlichen quantenmechanischen Grundlagen vorliegen. Wir wollen hier ein besonders einfaches Beispiel und einige neuere Ergebnisse zur Erläuterung der Prinzipien ausführen. Das hier besprochene experimentelle Prinzip erlaubt grundsätzlich die Ermittlung der vollen Dynamik ohne Einschränkungen über den Zeitbereich. Sehr kurze Zeiten sind gut zugänglich, wenn die Molekülspektren über große Frequenzbereiche hinweg korrekt analysiert werden können. Wenn etwa eine Analyse des Rotations-Schwingungsspektrums eines Moleküls über den Wellenzahlbereich von 20 cm 1 bis cm 1 ( ν) gelingt, ein schon in einigen Fällen realisiertes Ziel, so entspricht das mit der Abschätzung nach Gl. (3.90) einer effektiven Zeitauflösung von t (4πc ν) fs (3.151) Es werden also sehr tiefe Einblicke in die extreme Kurzzeitdynamik von Molekülen möglich, ohne daß experimentelle Kurzzeittechniken nötig sind. Allerdings erhält man solche Ergebnisse deshalb noch lange nicht gratis: Der Teufel steckt im Detail der Analyse der Spektren, die wir hier übergehen. Es ist jedoch ganz abgesehen von den Problemen der Detailanalyse von Interesse, daß mit dieser prinzipiell neuartigen Methode Zeitbereiche erschlossen werden können, die weit über die gegenwärtigen Techniken der Kurzzeitspektroskopie hinausführen. Es sind aber auch langsamere Prozesse beobachtbar, die wir in den folgenden Abschnitten erläutern werden Zweizustandsdynamik: Tunnelprozesse in der Wasserstoffbrückendynamik und bei der Stereomutation chiraler Moleküle Ein sehr einfaches Beispiel einer molekularen Quantendynamik mit einem Hamiltonoperator aus Spektren ergibt sich für den Fall einer Tunneldynamik zwischen äquivalenten Minima A und B auf einer Potentialhyperfläche, die der Isomerisierung zwischen zwei chemischen Strukturen entsprechen möge (siehe Kap. 4). Bild 3.65 zeigt die potentielle Energie V (q) als Funktion der Isomerisierungskoordinate q. Das ist ein relevanter Teil des im Schema 3.64 angesprochenen Hamiltonoperators. Weiterhin ist das Energiespektrum gezeigt. Im Idealfall ist die Aufspaltung E 12 sehr klein gegenüber anderen Energieabständen. Man spricht von Tunnelaufspaltung, da die Energieeigenfunktionen ϕ 1 und ϕ 2 zu den Energien über beide Strukturbereiche A und B delokalisiert sind, obwohl diese durch ein Potentialmaximum mit V max > E 1,2 getrennt sind. In der klas-

181 174 3 Experimentelle Methoden V( q) V max E 4 E 3 E 2 E 1 A B q E 12 «E 23 Bild 3.65 Tunneldynamik zwischen Isomeren A und B, Potentialfunktion V (q) und Energiespektrum ( E 12 = E 2 E 1 E 23 = E 3 E 2 ). sischen Mechanik wäre eine Verbindung zwischen den beiden Potentialminima unterhalb der Energie V max nicht möglich. Quantenmechanisch tritt dieses Phänomen jedoch auf, quasi als ob es einen Tunnel durch den Potentialberg gäbe. Man spricht vom quantenmechanischen Tunneleffekt (natürlich gibt es nicht wirklich einen Tunnel). Ein auf einer Seite lokalisierter Zustand Ψ erfüllt die zeitabhängige Schrödingergleichung i h Ψ (t,q) 2π t = ĤΨ (t,q) (3.152) Ψ (t,q) = Û (t,t 0) Ψ (t 0,q) (3.153) Û ist der Zeitentwicklungsoperator. Ψ ist die Zustandsfunktion (oder auch Wellenfunktion ). Das Betragsquadrat Ψ (t,q) Ψ(t,q) = Ψ(t,q) 2 = P(t,q) hat eine einfache Interpretation: Es ist die Wahrscheinlichkeitsdichte P(t, q) dafür, daß man einen Wert der Koordinate q mißt (hier einen Wert für die Reaktionskoordinate des Tunnelprozesses). Die Lösung läßt sich allgemein schreiben Ψ (t,q) = n c n ϕ n (q) exp ( 2πiE n t/h) (3.154) Die E n sind die Energieeigenwerte und die ϕ n sind die Energieeigenfunktionen

182 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie 175 aus der zeitunabhängigen Schrödingergleichung Ĥϕ n (q) = E n ϕ n (q) (3.155) Für den einfachsten Fall, daß nur zwei Energieeigenfunktionen (oder Zustände) ϕ 1 und ϕ 2 mit gleichem Gewicht beteiligt sind und alle anderen vernachlässigt werden können, erhält man mit E 12 = E 2 E 1 Ψ (t,q) = 1 2 [ϕ 1 exp ( 2πiE 1t h = 1 ( exp 2πiE 1t 2 h ) + ϕ 2 exp ) [ ϕ 1 + ϕ 2 exp ( 2πiE 2t h ( 2πi E 12t h ) ] (3.156a) )] (3.156b) Man erkennt, daß die beobachtbare Wahrscheinlichkeitsdichte ΨΨ = Ψ 2 eine periodische Funktion der Zeit ist, mit der Periode τ r = h/ E 12 (3.157) Das ist die Periode der Tunnelbewegung zwischen den beiden Strukturen A und B. Die Zeit für den Übergang A B ist gerade τ r /2. E 12 wird auch als Tunnelaufspaltung bezeichnet. Bild 3.66 zeigt zusätzlich zu dem Potential 3000 V (τ)/(hc cm 1 ) ϕ 2 E2 ϕ 1 E τ/ o Bild 3.66 Energieeigenwerte E 1, E 2 und Energieeigenfunktionen ϕ 1, ϕ 2 für ein typisches Tunnelpotential V (τ) (hier von Anilin). und den Energieeigenwerten auch noch die Energieeigenfunktionen ϕ 1 und ϕ 2

183 Experimentelle Methoden für ein realistisches Beispiel. Man erkennt qualitativ leicht das Verhalten der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion P(q,t) = ΨΨ = Ψ 2 = (1/2) ϕ 1 + ϕ 2 exp( 2πi E 12 t/h) 2 (3.158) Für t = 0 ergibt sich nämlich P(q,t = 0) = (1/2) ϕ 1 + ϕ 2 2 (3.159) Das beschreibt eine Funktion, die auf der linken Seite in Bild 3.66 lokalisiert ist. Demgegenüber wird der Phasenfaktor exp( 2πi E 12 t/h) für die Zeit der halben Periode t = τ r /2 = h/2 E 12 = exp( iπ) = 1, also P(q,t = τ r /2) = (1/2) ϕ 1 ϕ 2 2 (3.160) Das ist eine Funktion, die auf der rechten Seite in Bild 3.66 lokalisiert ist. Die Tatsache, daß die Wahrscheinlichkeitsdichte von der einen Seite der Potentialschwelle auf die andere wandern kann, ohne daß die Energien (E 1 E 2 ) ausreichen, diese zu überschreiten, ist ein typischer quantenmechanischer Effekt (eben der Tunneleffekt ), der zahlreiche Anwendungen hat. Als Beispiel für eine solch einfache Dynamik geben wir die Wasserstoffbrückenumlagerung im Dimeren von Fluorwasserstoff an: Schema 3.8 Tunnelprozess in HF-Dimer. Man findet im Spektrum des Grundzustandes eine Tunnelaufspaltung ν = E 12 / (hc) = 0.66 cm 1 τ r = h/ E = 1/(c ν) = s = 50.5 ps In diesem Beispiel sind die Strukturen nicht chemisch verschieden. Ein chemisch etwas offensichtlicheres Beispiel ist die Stereomutation von chiralen Aminen., 0, Schema 3.9 Stereomutation in chiralem Monodeuteroanilin.

184 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie 177 Zum Beispiel findet man beim N-Monodeuteroanilin für den Übergang zwischen den Enantiomeren aus dem experimentellen Wert von ν = E 12 / (hc) 23.8 cm 1 : τ Stereomutation τ r = 1/(c ν) = 1.4 ps (3.161) = 0.7 ps Die Periode τ r wird auch als Rekurrenzzeit bezeichnet. Sie ist keinesfalls mit der Zerfallszeit τ = 1/k für den unimolekularen Zerfall oder der Relaxationszeit τ R = 1/(k a + k b ) für die Relaxation ins Gleichgewicht zu verwechseln. In der Tat liegt bei der Tunnelbewegung ein völlig anderer, quantendynamischer Oszillationsprozess vor. Deshalb können wir bei diesem Prozess auch nicht von einer Razemisierung sprechen, wohl aber von einer Stereomutation, d.h. von der vollständigen Umwandlung eines Enantiomeren in das andere in einer Zeit von 0.7 ps. Nach weiteren 0.7 ps wird das ursprüngliche Enantiomere wieder zurückgebildet und diese Oszillation setzt sich fort, bis andere Prozesse auf längeren Zeitskalen schließlich doch zu einer Razemisierung führen. Eine effektive Razemisierung ergibt sich auch durch Mittelungsprozesse [Quack 1989]. Ein weiteres Beispiel ist die Stereomutation von H 2 O 2, die ebenfalls im Picosekundenzeitbereich stattfindet [Fehrensen et al. 1999]. Bild 3.67 zeigt eine Wellenpaketdynamik für die Stereomutation von H 2 O 2, die hier realistisch als Ergebnis einer vieldimensionalen intramolekularen Quantendynamik ermittelt wurde, wenn sie auch als eindimensionale Wahrscheinlichkeitsdichte graphisch dargestellt ist. Man erkennt die Oszillation der Wahrscheinlichkeitsdichte im betrachteten Zeitbereich. Das Bild zeigt weiterhin die Veränderung der Tunnelperiode bei Anregung einer Schwingungsbewegung mit einem Quant (v 6 = 1), im Vergleich zum Grundzustand mit v 6 = 0. Der Tunneleffekt bei chiralen Molekülen wurde erstmals von F. Hund 1927 als prinzipielle Möglichkeit diskutiert [Hund 1927]. Im folgenden Kapitel werden wir neuere Beispiele komplizierterer quantendynamischer Vorgänge besprechen.

185 178 3 Experimentelle Methoden V (τ)/(hc cm 1 ) τ/ o ν 6 = 0 ν 6 = 1 Bild 3.67 Oben: Potential V (τ) entlang der Reaktionskoordinate τ (Minimum-Energiepfad) für die Stereomutation von Wasserstoffperoxid. Unten: Modenspezifische Stereomutation (Tunneln) in H 2 O 2 : zeitabhängige Wahrscheinlichkeitsdichte Ψ 2 als Funktion der Reaktionskoordinate τ. Die Wahrscheinlichkeitsdichte ist über alle anderen 5 Koordinaten integriert (OH-Streck-, OH-Knick- und OO-Streckkoordinaten). Das Wellenpaket zu Anfang t = 0 ist auf einer Seite der Torsionspotentialbarriere lokalisiert. ν 6 = 0 bezeichnet den Grundzustand und nu 6 = 1 den Anfangszustand mit einem Quant in der antisymmetrischen OOH-Knickschwingung (nach [Luckhaus, Quack 2001]).

186 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie Intramolekulare Schwingungsenergieumverteilung in HCR 1 R 2 R 3 Das eingangs in Kapitel erwähnte Beispiel war Gegenstand genauer spektroskopischer Untersuchungen (mit unterschiedlichen Substituenten R 1, R 2, R 3 ). Von Interesse ist hier besonders die sehr schnelle Übertragung von CH- Streckschwingungsanregung auf zwei CH-Knickschwingungsfreiheitsgrade. Das Ergebnis kann als Ψ (t, q) oder der beobachtbaren Wahrscheinlichkeitsdichte Ψ 2 dargestellt werden, was auch als Quantenwellenpaketdynamik bezeichnet wird. Bild 3.68 Zweidimensionale Wellenpaketbewegung von CF 3 H nach IR-Laseranregung zur Zeit t = 0 fs (oben), 102 fs (Mitte) und 400 fs (unten) (nach [Marquardt, Quack 1991]). Bild 3.68 zeigt das Ergebnis für hochangeregtes Trifluormethan (CHF 3 ), bei dem in der Tat nur zwei Schwingungsfreiheitsgrade auf kurzer Zeitskala beteiligt sind. CHF 3 war das erste Beispiel, für welches eine experimentelle mehrdimensionale Quantenwellenpaketdynamik auf der Femtosekundenzeitskala aus spektroskopischen Daten ermittelt wurde. Dargestellt ist hier die zweidimensionale Wahrscheinlichkeitsdichte Ψ 2 mit der CH-Streckkoordinate Q s als Ab-

187 180 3 Experimentelle Methoden szisse und der CH-Knickkoordinate Q b als Ordinate. Jedes Bild stellt Ψ 2 zu einem Zeitpunkt dar, angefangen bei t = 0 fs (oben), t = 102 fs (Mitte) und t = 400 fs (unten). Man erkennt ein Zerfließen der ursprünglich entlang der Streckschwingungskoordinate Q s konzentrierten Wahrscheinlichkeitsdichte auf den gesamten Raum der Streck- und Knickschwingungskoordinaten. In der Tat ist der nach etwa 200 fs erreichte Zustand sehr ähnlich einer statistischen Verteilung, wie in Bild 3.69 gezeigt ist. (Eine mikrokanonische statistische Gesamtheit entspricht einem statistischen Mittelwert bei gegebener Energie.) Das = >? Bild 3.69 Zweidimensionale Wahrscheinlichkeitsdichte von CF 3 H: (a) mikrokanonisch für Polyade N = 6 (das entspricht einer Schwingungsenergie von etwa (hc) cm 1 ), (b) typischer Vertreter der mikrokanonischen statistischen Gesamtheit und (c) Zustand v s = 6 nach 200 fs (nach [Marquardt, Quack 1991]). Die Polyade N = 6 entspricht einer Gruppe von Quantenzuständen mit ähnlicher Energie (entsprechend 6 Quanten CH-Streckschwingung aber unterschiedlicher Verteilung der Energie auf die CH-Streck- und die CH-Knickschwingung v s = 6, v b = 0; oder v s = 5, v b = 2 usw. als Beispiele für Kombinationen von Streckschwingungsanregung v s und Knickschwingungsanregung v b ). Die durchgezogene nierenförmige Linie, die von zwei gestrichelten Linien umgeben ist, zeigt die Äquipotentiallinien für die mittlere Energie des quantenmechanischen Zustandes; die gestrichelten Linien zeigen die Äquipotentiallinien entsprechend der quantenmechanischen Unbestimmtheit. prinzipiell neue Ergebnis ist hier der Verlust der wohldefinierten dreidimensionalen Struktur durch quantenstatistische Delokalisierung des Wellenpaketes. Für die Moleküle, bei denen dieses zutrifft, würde eine Reaktion aus einer solchen statistischen Dichte dann wieder ein Zeitverhalten gemäß Fall 1 aus Bild 2.1 entsprechen. Dieses Ergebnis ist also gewissermaßen komplementär zum Ergebnis am NaI mit der eindimensionalen Wellenpaketoszillation. Das Verhalten ist mit dem zweidimensionalen Schema in Bild 3.70 erläutert. Ähnlich wie in Bild 3.69 ist hier schematisch eine Äquipotentiallinie für zwei gekoppelte Schwingungen gezeigt, welche den klassisch-mechanisch energetisch zugänglichen Konfigurationsraum in den beiden Koordinaten x und y umschließt. Am oberen Rand ist die Potentialmulde offen, was chemisch die Möglichkeit einer Reaktion bedeutet (die Koordinate y könnte eine Bindungs-

188 3.12 Quantenkinetik und Spektroskopie 181 länge sein, die beim Austritt am oberen Ende gegen unendlich wächst). Man kennt für ein solches System von quantenmechanisch gekoppelten Schwingungen zwei vereinfachte, grundlegende Modelle, die völlig verschiedenes kinetisches Verhalten ergeben: Nach dem einen Modell wird nach sehr kurzer Zeit der gesamte energetisch zugängliche Bereich in der (x, y)-ebene erreicht, ideal mit statistisch gleicher Wahrscheinlichkeit (Modell S). Bild 3.70 Schematische Darstellung der Ausfüllung des energetisch zugänglichen Raumes für zwei gekoppelte Pendel (x- und y-richtung). S: statistisch, mit Reaktion und N: nicht statistisch (A: reaktiv und B: sehr langsame Reaktion (z.b. Tunneleffekt) oder keine Reaktion), nach [Quack 1984b, Quack 1990]. Aus diesem Zustand kann dann eine chemische Reaktion eintreten. Dieses Modell ist die Grundlage statistischer Quasigleichgewichtstheorien chemischer Reaktionen, die wir in Kapitel 4 kennenlernen werden. In dem zweiten, nichtstatistischen Normalschwingungsmodell N sind die Schwingungen zumindest auf kurzen Zeitskalen entkoppelt, so daß je nach Anfangsbedingung unterschiedliche, eingeschränkte Bereiche des energetisch zugänglichen Raumbereiches erfaßt werden (schraffierte Zonen A und B in Modell N, rechts). Für den Fall A wird dann der Potentialausgang mit hoher Wahrscheinlichkeit (in einer Schwingungsperiode) erreicht, während für den Fall B trotz gleicher Schwingungsenergie keine Reaktion eintritt (oder nur eine langsame Reaktion durch den quantenmechanischen Tunneleffekt, der durch den gestrichelten Bereich symbolisiert ist). Gemäß Bild 3.69 entspricht die Kopplung der CH-Streckund CH-Knickschwingung in CHF 3 offenbar dem statistischen Fall S auf der Femtosekundenzeitskala. Allerdings zeigen die anderen, hier nicht abgebildeten Schwingungen des CHF 3 auf dieser Zeitskala ein entkoppeltes, nicht statistisches Verhalten. Bild 3.71 stellt eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion P(q s,t) für die Streckschwingungskoordinate und P(q b,t) für eine der beiden CH-Knickschwingungskoordinaten in CHD 2 F dar In diesem Beispiel ist das Verhalten unter dem Einfluß eines starken Laserfeldes gezeigt, aber wiederum ausschließlich aus spektroskopischen Daten erschlossen. Man erkennt die kurzzeitige Wellenpaketoszillation entlang der CH-Streckschwingung mit einer Periode von etwa 12 fs teilweise Delokalisierung nach 450 fs und Übertragung auf die anfänglich ruhende Knickschwingung nach etwa 1 ps. Die Grundgleichungen für die Dynamik sind hier dieselben wie in dem einfachen Beispiel aus Kapitel Allerdings sind nun nicht nur zwei, sondern hunderte und tausende von Zuständen beteiligt - für lange Zeiten, die hier nicht berück-

189 182 3 Experimentelle Methoden Bild 3.71 Wahrscheinlichkeitsdichte von CHD 2 F, P(q s, t) (Vordergrund Streckkoordinate q s ; Zeit nach hinten im Abstand von 1 fs). (a) Zwischen t = 50 fs und t = 150 fs nach IR-Laseranregung. (b) zwischen 400 und 450 fs. P(q b, t) (Vordergrund eine Knickkoordinate q b, Zeit wie oben) (c) zwischen 950 und 1050 fs, nach [Luckhaus et al. 1993]. sichtigt werden können, wären es Milliarden und mehr. Die hier in Bild 3.71 gezeigten Ergebnisse entsprechen einer zeitaufgelösten Strukturmessung etwa mit Elektronen- oder Röntgenbeugung auf der Femtosekundenzeitskala. Obwohl es auch Überlegungen und Ansätze für solche Experimente gibt, sind sie bisher noch nicht für so kurze Zeiten realisiert worden. Vorläufig ist also der hier beschriebene Weg durch hochauflösende Infrarotspektroskopie noch der einzige experimentelle Zugang zu solchen Ergebnissen. Zum Abschluß sei hier noch die zeitabhängige Entropie für das Beispiel von CHD 2 F bei einer anfänglichen CH-Streckschwingungsanregung mit 6 Quanten erwähnt. Bild 3.72 zeigt die extrem schnelle Relaxation in einen Zustand partiellen Gleichgewichtes innerhalb dieses einzelnen Moleküls mit nahezu (partiell) maximaler Entropie nach 100 fs und anschließende Schwankungen um diesen Zustand. Zeitumkehr bei 1 ps führt allerdings zum Ausgangszustand mit der Entropie Null zurück, was für ein makroskopisches System (Bild 1.5) nicht realisierbar wäre. Eine

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