Sozialpolitik I (Soziale Sicherung) Wintersemester 2005/ Vorlesung
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1 Sozialpolitik I (Soziale Sicherung) Wintersemester 2005/06 2. Vorlesung Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Strengmann@wiwi.uni-frankfurt.de 1
2 Gliederung 3. Gerechtigkeitstheorien 4. Staatliche Eingriffe 5. Versicherung Literatur: Barr, Kap. 3 bis 5 2
3 Gerechtigkeitstheorien es werden im Folgenden 3 Arten von Gerechtigkeitsvorstellungen betrachtet: englische/ amerikanische Bezeichnung 1. libertarians 2. liberals 3. collectivists deutsche Bezeichnung (neo-)liberal sozialliberal sozialistisch wirtschaftspolitische Vorstellung reine Marktwirtschaft soziale Marktwirtschaft demokratischer/ freiheitlicher Sozialismus 3
4 Gerechtigkeitstheorien libertarians Naturrechtlicher Liberalismus (Nozick, 1974) jedes Individuum das natürliche Recht hat, sich die durch seine Arbeit erworbenen Erträge anzueignen. Dies bezieht sich auch auf ererbte Vermögen, sofern diese gerecht angehäuft worden sind (d.h. ebenfalls durch Arbeit oder durch gerechte Vererbung). Alle anderen Vermögen, die illegal erworben sind, dürfen durch den Staat umverteilt werden. Hauptaufgabe des Staates: Schützen der Eigentumsrechte (property rights) zu schützen. Besteuerung ist dann Diebstahl, da es gerecht erworbene Einkommen oder Vermögen entwendet. Umverteilungsaufgaben fallen nur im geringen Umfang an. Damit deckt sich diese Position weitgehend mit der liberalen Position des Nachtwächterstaates. 4
5 Gerechtigkeitstheorien libertarians Empirischer Liberalismus (Hayek/ Friedman) Umverteilung zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit wird abgelehnt ab, da dadurch Freiheit (= ökonomische Freiheit) eingeschränkt wird. Die individuelle Freiheit besitzt absoluten Vorrang. Markt soll nicht gestört werden, da er individuelle Freiheit durch seine hohe Effizienz ermöglicht und beschützt. Der Begriff der Gerechtigkeit kann sich nur auf menschliche Aktivitäten beziehen. Daher ist der Markt an sich und dessen Ergebnis nicht gerecht oder ungerecht. Die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit führe zu immer stärkeren Staatseingriffen in die individuelle Freiheit und damit letztlich zum Totalitarismus. Für von Hayek wie auch für Friedman hat der Staat damit letztlich keine verteilungspolitische Aufgabe, außer für die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter zu sorgen und Armut zu reduzieren. 5
6 Utilitarismus Gerechtigkeitstheorien liberals Grundlage Neoliberalismus des frühen 20. Jahrhundert. Kapitalismus ist ökonomisch effizient, verursacht aber hohe soziale Kosten in Form von Armut und Ungleichheit, die durch staatliche Intervention reduziert werden können. Kombination aus Kapitalismus und Staatseingriffen. Ziel des Wirtschaftens ist "Das größte Glück der größten Zahl" (Jeremy Bentham), die Summe des Nutzens der Gesellschaftsmitglieder, also W=Σ u i 6
7 Utilitarismus Gerechtigkeitstheorien liberals W: gesellschaftliche Wohlfahrt u i individueller Nutzen, Güter: neben rein physischen Gütern auch Rechte, Freiheit und politische Macht. Wohlfahrt als Summe Gerechte Verteilung ist erreicht, wenn die gewichteten Grenznutzen der Einkommen aller Individuen ausgeglichen sind. Dies bedeutet aber nicht unbedingt eine Gleichverteilung der Einkommen. Gleichverteilung ist nur dann das Optimum, wenn die Grenznutzenfunktionen aller Individuen identisch sind und alle Nutzenfunktionen gleichgewichtet sind. 7
8 Utilitarismus Gerechtigkeitstheorien liberals Kritik: Nutzenmessung Verteilung der Nutzen spielt keine Rolle (bei Summe der Nutzen als Wohlfahrtsfunktion) individuelle Freiheit und Gesamtnutzen können im Widerspruch stehen (wenn das eigene Handeln den Nutzen von anderen negativ beeinflusst) 8
9 Rawls ( justice as fairness ) Gerechtigkeitstheorien liberals Gedankenexperiment zur Ermittlung der gerechten Verteilung(sregel) hinter einem Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance): Annahmen: alle Individuen haben alle relevanten Informationen über die Gesellschaft außer über sich selbst, (d.h. ihre angeborenen Fähigkeiten, ihre Position in der Gesellschaft) Individuen sind risikoscheu Verhandlung über die Art der Gesellschaft und der Verteilungsregeln 9
10 Rawls ( justice as fairness) Gerechtigkeitstheorien liberals daraus folgt (nach Rawls): 1. Freiheitsprinzip: Maximale Freiheit der einzelnen Individuen, sofern die der anderen nicht beeinträchtigt wird 2. Differenzprinzip: Maximin-Regel: Nutzen des am schlechtesten Gestellten soll maximiert werden Chancengleichheit Rechtfertigung von Grundsicherung und Sozialversicherungen sowie Regeln gegen Diskriminierung 10
11 demokratischer Sozialismus Ziele: Gerechtigkeitstheorien collectivists Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Gerechtigkeit = Gleichheit nicht nur auf Chancengleichheit beschränkt Freiheit staatliches Handeln ist notwendig, um Freiheit herzustellen (im Gegensatz zur Vorstellung der libertarians) Brüderlichkeit / Solidarität Kooperation und Altruismus im Gegensatz zu Wettbewerb und Eigennutz 11
12 Marxismus Gerechtigkeitstheorien collectivists zentraler Kritikpunkt am Kapitalismus: Privatbesitz an Produktionsmitteln ökonomische und politische Macht der Kapitalisten Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung Mehrwert (Differenz zwischen Wert der Arbeit und Lohn) Konsequenz: Vergesellschaftung/ Verstaatlichung der Produktionsmittel Gerechtigkeit: jedem nach seinen Bedürfnissen 12
13 Fragestellung: 4. Staatliche Eingriffe Erklärung und Begründung, warum manche Güter weitgehend dem freien Markt überlassen bleiben und es bei manchen Gütern Staatseingriffe gibt 4.1 formaler Rahmen (Wohlfahrtsökonomie) 4.2 Effizienz 4.3 Effizienz und soziale Gerechtigkeit 4.4 Arten von staatlichen Eingriffen 4.5 Marktversagen 13
14 Staatliche Eingriffe formaler Rahmen Einfacher Fall: 2 Individuen, 2 Güter, 2 Produktionsfaktoren gesellschaftliche Wohlfahrt W = W (U A,U B ) max.! U i = U i (X i,y i ): Nutzenfunktion von i X=X(K x,l x ): Produktionsfunktion (Technologie) für Gut X (entsprechend für Y) K=K x +K Y, L=L x +L y : Ressourcen 14
15 Staatliche Eingriffe 3 Bedingungen für gesamtwirtschaftliche Effizienz: Produktionseffizienz (effiziente Technologie) maximaler Output bei gegebenen Inputfaktoren (oder umgekehrt) Transformationskurve Effizienter Produktmix bei gegebener Technologie und Präferenzen optimaler Punkt auf der Transformationskurve Konsumeffizienz: effizienter Einsatz des Einkommens effizienter Tausch Edgeworthbox 15
16 Staatliche Eingriffe Effizienz und soziale Gerechtigkeit am Beispiel Edgeworthbox: Effizienz ist notwendige Bedingung für ein first-best Optimum in allen Gerechtigkeitsvorstellungen Libertarians Nozick: Alle Punkte auf der Pareto-Linie sind optimal Hayek, Friedman: Eingriff in die Güterausstattung nur, wenn Paretooptimum für ein Individuum unter dem Existenzminimum 16
17 Staatliche Eingriffe Effizienz und soziale Gerechtigkeit Utilitarians Annahme 1: Nutzen ist nur ordinal messbar, aber Grenznutzen sind vergleichbar Bei gleichen Grenznutzenfunktionen: Gleichverteilung der Einkommen alle Pareto-optimalen Punkte in der dazugehörigen Besser-Linse sind optimal Annahme 2: Nutzen ist kardinal messbar einzelne Punkte auf der Pareto-Linie sind optimal 17
18 Staatliche Eingriffe Effizienz und soziale Gerechtigkeit Rawls MaxiMin-Prinzip: Maximierung des geringeren Nutzens In der Edgeworth-Box: Gleichverteilung der Nutzen Sozialismus Ressourcen sollten gleichverteilt sein Umverteilung der Erstausstattung Ergebnis soll gleich sein Optimal ist Gleichverteilung der Nutzen auf der Pareto- Linie 18
19 Staatliche Eingriffe Effizienz und soziale Gerechtigkeit Optimal (in der Edgeworthbox): Effizienz und Gleichverteilung (außer bei den Libertarians) Was ist, wenn Effizienz und Gleichverteilung nicht gleichzeitig erreichbar ist, z.b. weil Ungleichheit die Effizienz erhöht oder weil es Beschränkungen gibt? Typischerweise (aber nicht unbedingt) ist Effizienz weiterhin eine notwendige Bedingung der optimale Punkt unterscheidet sich dann je nach Gewichtung der Gleichheit unterschiedliche soziale Wohlfahrtsfunktionen 19
20 Staatliche Eingriffe Arten möglicher Eingriffe Regulierung Qualität: z.b. Arbeitsschutz, Verbraucherschutz Quantität: z.b. Pflichtversicherungen, Schulbesuch Preise: z.b. Mindestrendite bei der Riester -Rente Finanzierung Preis- oder Einkommensveränderungen durch Steuern und Subventionen Öffentliche Produktion Einkommenstransfers indirekte Effekte 20
21 Staatliche Eingriffe Bedingungen, unter denen Märkte effizient sind Perfekter Wettbewerb alle sind Preisnehmer alle haben die gleiche Macht vollständige Märkte alle Güter alle Zeiten beschränkte Kapitalmärkte kein Marktversagen öffentliche Güter externe Effekte steigende Skalenerträge Vollständige Information Qualität, Preise, Zukunft 21
22 Staatliche Eingriffe Schlussfolgerungen durch Antworten auf folgende Fragen: Kann der Markt das Problem (mehr oder weniger) selbst lösen? Welche Folgen hat das Marktversagen? Wenn nein, welche Art der Intervention ist angebracht? Regulierung, Finanzierung, öffentliche Produktion, staatliche Transfers Lohnt sich der Eingriff? 22
23 5. Versicherung 5.1 Nachfrage 5.2 Angebot 5.3 Bedingungen bzw. Probleme 23
24 Nachfrage nach Versicherung Beispiel Annahme: unsicheres Einkommen mit zwei Zuständen y 1 (schlecht) und y 2 (gut) Erwartetes Einkommen: E(y)=p 1 y 1 + p 2 y 2 Erwarteter Nutzen: E(U)=p 1 U(y 1 ) + p 2 U(y 2 ) dann gilt bei abnehmendem Grenznutzen: E(U)<U[E(y)], d.h. bei konstantem Einkommen wäre der Nutzen höher oder anders ausgedrückt E(U)=U(y * ) mit y * <E(y) V=y-y * wird Risikoprämie genannt 24
25 Nachfrage nach Versicherung Beispiel (Fortsetzung) Rationales Wirtschaftssubjekt wäre also bereit, einen Preis Φ < V für eine Versicherung zu zahlen, die das Einkommen glättet Φ ist die Nettoprämie und darf nicht mit der (Brutto-) Versicherungsprämie π verwechselt werden, die die Versicherung kostet. Es gilt: Φ = π minus dem erwarteten Verlust p*l 25
26 Nachfrage nach Versicherung bisher: individuelle Betrachtung Aggregation Annahme Versicherung als pooling risk alle Individuen sehen sich der gleichen Wahrscheinlichkeitsverteilung beim Einkommen gegenüber die Verteilungen sind unabhängig voneinander das individuelle Risiko wäre dann Var (y i ) werden die Einkommen gepoolt, erhielte jede Person (y 1 + y y N )/N Varianz des gesamtgesellschaftlichen Einkommens ist N*var(y), aber die Varianz jeder einzelnen Person ist N*Var(y/N), d.h. das individuelle Risiko geht für unendlich großes N gegen Null 26
27 Nachfrage nach Versicherung Beispiel Alterssicherung Angenommen zu Beginn des Ruhestands steht ein Vermögen von x zur Verfügung, das für den Rest des Lebens reichen soll Die Lebenserwartung sei bekannt, z.b. z Jahre, ist aber unsicher Deshalb ist es besser das Vermögen einer Versicherung zu geben, die für den Rest des Lebens einen konstanten Betrag y auszahlt. Da es Leute gibt die früher und Leute die später sterben, lohnt sich das insgesamt sowohl für die Betroffenen als auch für die Versicherung 27
28 Angebot an Versicherungen Die Prämie, die eine Versicherung verlangt, ist π i = (1+α)*E(L)=(1+ α)*p i *L mit α: Aufschlag für die Versicherung für Verwaltungskosten, Gewinn sowie Risikoprämie für die Versicherung 28
29 Bedingungen bzw. Probleme Bedingungen bzw. Probleme: unabhängige Wahrscheinlichkeiten private Versicherungen können normalerweise nur individuelle und keine systematischen Risiken absichern Wahrscheinlichkeit muss kleiner als 1 sein Die Wahrscheinlichkeiten müssen bekannt oder berechenbar sein Asymmetrische Information Adverse Selection, moral hazard 29
30 Bedingungen bzw. Probleme Adverse Selection Angenommen, die Versicherung kennt die individuellen Wahrscheinlichkeiten nicht, aber die Versicherten usw. Die Versicherung berechnet eine Versicherungsprämie auf der Basis der gepoolten Wahrscheinlichkeiten Personen mit geringen Risiken steigen aus, weil das zu teuer ist Die Prämien steigen 30
31 Bedingungen bzw. Probleme moral hazard moral hazard entsteht, wenn die Wahrscheinlichkeit oder die Höhe des Schadens von den Versicherten beeinflussbar ist Wahrscheinlichkeit und Höhe des Schadens sind dann nicht mehr von der Art der Versicherung unabhängig 31
allgemeine Form der SWF mit Individuen i = 1, 2,...H
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