6. Zusammenfassung. Es fanden sich folgende Ergebnisse:
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- Adolf Huber
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1 6. Zusammenfassung Im Zeitraum 1990 bis 1992 wurden in dieser prospektiven Studie die Daten von 102 stationär in der Neurologischen Universitätsklinik Bochum-Langendreer behandelten MS-Patienten erhoben. Die Ergebnisse spiegeln den Stand an Begleitkrankheiten und Komplikationen vor Einführung der Interferone in die Therapie der MS wieder. Es wurden die erhobenen anamnestischen und neurologischen Befunde durch eigene standardisierte Befragung, Untersuchung und Anwendung von anerkannten und neuen Scores (Minimal Record of Disability (MRD), Expanded disability status scale (EDSS), Alltags- und Sozialscore) erfaßt. Es lagen nach den Poser-Kriterien 87 (85 %) sichere und 15 (15 %) wahrscheinliche MS-Erkrankungen vor. Es fanden sich folgende Ergebnisse: 1. Im Vergleich mit anderen epidemiologischen Untersuchungen stimmt diese MS-Studie hinsichtlich der Geschlechtsverteilung mit 72 (71 %) weiblichen zu 30 (29 %) männlichen MS-Patienten sowie der vorwiegend schubförmigen Verlaufsform (55 %) überein. Es zeigt sich vorliegend zum Untersuchungszeitpunkt mit einem Altersmedian von 35,4 Jahren ein junges Patientenkollektiv mit einer geringen Verlaufsdauer der Erkrankung von durchschnittlich 7,6 Jahren. Dies spricht dafür, daß das in dieser Studie untersuchte Kollektiv nicht dem zufälligen Durchschnitt einer Gruppe MS-Erkrankter entspricht, sondern die typischen Merkmale stationär behandelter Patienten aufweist. Der mediane EDSS-Grad ist mit 3,75 niedriger, als dies bei einer statistischen Krankenhauserhebung zu erwarten war. 2. Es zeigen sich nach den hier zugrundegelegten Kriterien insgesamt 356 Begleitkrankheiten und Komplikationen verschiedenster Art. Das entspricht durchschnittlich 3,5 zusätzlichen Erkrankungen pro MS-Patient. Bei 92 % der Untersuchten sind mindestens eine, bei 68 % mehr als eine unabhängige Begleitkrankheit vorhanden. Ohne Berücksichtigung von Nebenwirkungen der Steroidbehandlung zeigen sich bei 33 % der Patienten die Lebensqualität beeinträchtigende Komplikationen der MS-Erkrankung. 20 % der Patienten weisen zusätzlich Beeinträchtigungen durch eine Steroidbehandlung in der MS-Therapie auf. Vier Patienten weisen weder eine Komplikation, Komplikation einschließlich Steroid-Wirkung oder Begleitkrankheit auf. 89
2 3. Folgende Begleitkrankheiten treten bei mehr als 5 % des Patienten-Kollektivs auf: Hyperlipidämien (42 %), Allergie im allgemeinen (37 %), degenerative Erkrankungen des Skelettsystems (21 %), Dorsopathien (16 %), Struma (15 %), atopische Erkrankungen (14 %), Haltungsschäden (12 %), Ödeme der Beine (10 %), Varizen (9 %), Hypertonie (7 %), Hypotonie (7 %), Diabetes mellitus (6 %), gutartige Neubildungen (6 %). Die Varianzanalyse weist für das Auftreten von mehr als einer Begleitkrankheit einen signifikanten Unterschied (p = 0,001) bezüglich des Ausmaßes der Behinderung durch MS auf. Das Auftreten einer Hypertonie (p = 0,006) bzw. des Übergewichts (p = 0,029) ist im vorliegenden MS-Kollektiv auf dem 5 %-Niveau signifikant geringer als in der Gesamtbevölkerung. Ein statistischer Vergleich mit Daten der Allgemeinbevölkerung zu den hier vorgefundenen häufigen Begleitkrankheiten Struma-Erkrankung, Hypotonie (p = 0,301) Hyperlipidämie (p = 0,305) und Atopien ergibt auf dem Signifikanzniveau von 5 % keine für dieses MS-Kollektiv signifikante Häufung. Es zeigt sich bei diesem Kollektiv, daß Begleitkrankheiten signifikant mit dem Lebensalter korrelieren (Spearman-Rang-Korrelationskoeffizient rho = 0,57; α = 0,05). 4. Als Komplikation ohne Einbeziehung der Steroidnebenwirkungen werden gewertet: Harnwegsinfekt (20 %), Verletzungen durch beeinträchtigte Beweglichkeit auf Grund der MS (10 %), Lumbago durch Fehlhaltung (1 %), Tendinitis (1 %), Extremitätenschmerz (1 %), Decubitus (3 %), Kontrakturen (2 %), Kachexie (2 %), Kopfschmerz bei Sehstörungen (3 %), Insuffizienz der Niere (1 %), Ödeme im Bereich der Beine (1 %). Insgesamt läßt sich unter Anwendung der Varianzanalyse mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 5 % (p = 0,021) berechnen, daß die Stärke der Behinderung durch MS in der Gruppe der Patienten mit Komplikationen signifikant höher ist als in der Gruppe ohne Komplikationen. Das Auftreten von Komplikationen steigt beim Übergang zur EDSS-Gruppe größer als 7,5 um das Dreifache. Die durchschnittliche Anzahl an Komplikationen verdoppelt sich mit dem Wechsel zwischen den Patientengruppen voll gehfähig zu nicht voll gehfähig. 47 % der Patienten mit einem sekundär chronisch-progredienten Verlaufstyp leiden unter Komplikationen der MS-Erkrankung. Komplikationen der MS finden sich jedoch altersunabhängig auch bei 27 % der Erstmanifestationen. Ebenfalls bei den durch die MS-Erkrankung Leichtbetroffenen (EDSS-Grad < 2,5) läßt sich eine mittlere Befundzahl von 0,4 Komplikationen ermitteln. Dies liegt im Durchschnitt über den Befunden der mäßig (EDSS-Grad 3,0-3,5: 0,2 90
3 Komplikationen pro Patient) und relativ schwer (EDSS-Grad 4,0-5,0: 0,2 Komplikationen pro Patient) Betroffenen. Demnach muß auch in dieser Gruppe auf Komplikationen geachtet werden. Unter den MS-abhängigen Komplikationen dominieren mit 20 (20 %) Betroffenen die Harnwegsinfekte, die auf dem α = 5 %-Niveau signifikant mit höheren neurologischen Behinderungsgraden assoziiert sind (p = 0,003). Eine Abhängigkeit zwischen den Merkmalen Spastik und Harnwegsinfekt ist auf dem Signifikanzniveau α = 0,05 nachweisbar (p = 0,036). Wendet man aus der Prüfstatistik den Chi-Quadrat-Test für Kontingenztafeln an, so muß mit der Irrtumswahrscheinlichkeit α = 0,05 der Hypothese zugestimmt werden, daß Verlaufstyp der MS und Harnwegsinfekt unabhängig sind (p = 0,068). 5. Auf dem 5 %-Niveau läßt sich kein signifikanter Bezug zwischen Komplikationen inclusive Steroid-Wirkungen und dem Behinderungsgrad der MS-Erkrankung nach Maßgabe der Kurtzke-Skala darstellen (p = 0,194). 6. Gemessen am Alltagsscore (Summe der Fähigkeitseinschränkungen) mit maximal 60 möglichen Punkten zeigen sich Patienten mit einer chronischprogredienten Verlaufsform besonders von den Einschränkungen durch die MS-Erkrankung betroffen. Der mittlere Alltagsscore beträgt 27,2 Punkte bei den sekundär chronisch-progredienten, 19,1 Punkte bei den primär chronisch-progredienten Verlaufsformen gegenüber 10,2 Punkten bei schubförmigen Verläufen sowie 5,9 Punkten bei Erstmanifestationen. Durch Anwendung des nichtparametrischen U-Tests wird ermittelt, daß die erhaltene Gehfähigkeit mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 5 % einen signifikanten Einfluß auf die Gesamtsumme der Fähigkeitseinschränkungen (Alltagsscore) hat. Durch Vergleich der Spearman-Rang-Korrelationskoeffizienten kann auf dem Signifikanzniveau von α = 0,05 festgestellt werden, daß Behinderungen durch MS für den einzelnen Patienten im Bereich der Alltagsfähigkeiten (rho = 0,80) von einem statistisch größeren Stellenwert sind als Einschränkungen durch Begleitkrankheiten (rho = 0,44) und Komplikationen (rho = 0,38). Die Beanspruchung medizinischer Unterstützung (MRD-Skala: medizinische Probleme) unterscheidet sich auf dem 5 %-Niveau signifikant zwischen der Gruppe der voll gehfähigen zur Gruppe der nicht voll gehfähigen MS- Patienten. Bei Anwendung der Varianzanalyse ist auf dem 5 %-Niveau die Notwendigkeit medizinischer Hilfe signifikant mit dem Anstieg des Lebensalters verbunden (p = 0,002). 91
4 7. Handicaps im sozialen Umfeld steigen ebenso wie die zuvor beschriebenen Alltagseinschränkungen mit Zunahme des Lebensalters und der Verlaufsdauer der MS an. Der Sozialscore (Summe der sozialen Handicaps) mit maximal 34 möglichen Punkten weist für die sekundär chronisch-progredienten Verlaufstypen im Durchschnitt 20,4 Punkte, für die primär chronischprogredienten Verlaufsformen 12,4 Punkte, für die schubförmigen Verläufe 6,6 Punkte sowie für die Erstmanifestationen 4,1 Punkte auf. Auf dem Signifikanzniveau von α = 0,05 kann festgehalten werden, daß Behinderungen durch MS für den einzelnen Patienten im Bereich der sozialen Handicaps (rho = 0,75) von einem statistisch größeren Stellenwert sind als Einschränkungen durch Begleitkrankheiten (rho = 0,49) und Komplikationen (rho = 0,40). 28 % der Patienten schätzen sich nach einer mittleren Verlaufsdauer von 7,6 Jahren als arbeitsunfähig ein. Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit aus Sicht des Arztes durch die Einstufung in der EDSS-Skala gegenüber der Selbsteinschätzung differiert bei den Frauen stärker als bei den Männern. Eine berufliche Veränderung auf Grund der MS war in 34 (33 %) Fällen notwendig. Unter Anwendung der Vierfeldertafel ist auf dem 5 %-Niveau zwischen den Merkmalen Berufliche Änderung und Auftreten von Komplikationen eine Abhängigkeit nachzuweisen (p = 0,025). Dies gilt nicht für das Vorhandensein von Komplikationen einschließlich Steroid-Wirkung (p = 0,575) bzw. Begleitkrankheiten (p = 0,193). 60 % der erwerbsunfähigen Patienten litten unter mindestens einer Komplikation der MS. Durch Anwendung des nichtparametrischen U-Tests wurde ermittelt, daß die erhaltene Gehfähigkeit mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 5 % einen signifikanten Einfluß auf die Gesamtsumme der Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld (Sozialscore) hat. Signifikante Unterschiede zwischen der Gruppe der voll gehfähigen und der Gruppe der nicht voll gehfähigen MS- Patienten zeigen sich auch bei der Arbeitsfähigkeit (MRD-Skala: Arbeit), der Notwendigkeit fremder Hilfe (MRD-Skala: Fremde Hilfe) sowie der Gestaltung gesellschaftlicher Aktivitäten (MRD-Skala: Gesellschaftliche Aktivität). Abgesehen von der Unterscheidung in voll gehfähige und nicht voll gehfähige Patienten hat sich im Rahmen dieser Untersuchung der EDSS-Grad > 5,5 als kritischer Schwellenwert mit deutlicher Zunahme an Behinderung und Beeinträchtigung in ökonomischer sowie sozialer Hinsicht erwiesen. Er lag nach einer durchschnittlichen Verlaufsdauer von 13,2 Jahren bei 29 (28 %) Untersuchten vor. 92
5 8. Der U-Test für unverbundene Stichproben zeigt auf, daß sich die Verwendung alternativer Methoden nicht signifikant auf die Verlaufsdauer der MS auswirkt. Ebenso zeigt die Anzahl an Komplikationen bzw. Begleitkrankheiten keinen nennenswerten Unterschied. 9. Seit einigen Jahren werden neue immunologisch orientierte Medikamente verwandt. Etwas mehr als die Hälfte (53 %) des hier untersuchten Kollektivs erfüllt die Kriterien zur Indikationsstellung der Medikamentengabe. Die größte Anzahl an Begleitkrankheiten und Komplikationen erfahren Patienten, die auf Grund ihrer hohen MS-Behinderung noch nicht von den neuen Medikamenten profitieren. Heutige Untersuchungen über Begleitkrankheiten und Komplikationen müßten vergleichbare Werte erbringen. Ein Hauptteil der Bemühungen für MS-Patienten muß weiterhin in einer Verbesserung ihrer Lebensqualität mit Förderung einer möglichst langen Selbständigkeit liegen. 93
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