Arbeitsrecht in Sanierung und Insolvenz
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- Bella Lehmann
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1 Arbeitsrecht in Sanierung und Insolvenz 1. Skript: Kündigungsrechtliche Grundlagen Prof. Dr. Georg Annuß Universität Regensburg Sommersemester 2011
2 Arbeitsrecht in Sanierung und Insolvenz eine Übersicht Kündigungsschutzrecht Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung Betriebsverfassungsrecht: betriebsverfassungsrechtliche Grundlagen der Restrukturierung Tarifvertragsrecht Betriebsübergang und Umwandlung sozialversicherungsrechtliche Rahmenbedingungen Besonderheiten der Insolvenz 2
3 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (1) Anwendbarkeit des KSchG Arbeitsverhältnis hat länger als 6 Monate bestanden ( 1 I KSchG). Im Betrieb sind regelmäßig mehr als 10 AN beschäftigt ( 23 I 2 KSchG). Übergangsregelung für bis einschließlich begonnene Arbeitsverhältnisse beachten ( 23 I 3 KSchG)! Verfassungskonforme Auslegung des Betriebsbegriffs in 23 KSchG (BVerfG BvL 15/87; neuerdings BAG AZR 392/08). Anwendbarkeit auf Organe und leitende Angestellte (vgl. 14 KSchG). 3
4 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (2) Systematik des KSchG Erster Abschnitt ( 1 14): Allgemeiner Kündigungsschutz. Zweiter Abschnitt ( 15, 16): Kündigungsschutz im Rahmen der Betriebsverfassung und Personalvertretung. Dritter Abschnitt ( 17 22): Anzeigepflichtige Entlassungen. Vierter Abschnitt ( 23 25): Schlussbestimmungen. Die betriebsbedingte Kündigung Beendigungskündigung/Änderungskündigung Prüfungsaufbau Beendigungskündigung: dringendes betriebliches Erfordernis/fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit/Sozialauswahl 4
5 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (3) Das dringende betriebliche Erfordernis Unternehmerentscheidung, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes führt - Außerbetriebliche Gründe - Innerbetriebliche Gründe (Die Kündigung als solche ist keine Unternehmerentscheidung in diesem Sinne) - Beachte: Unterscheidung des BAG zwischen inner- und außerbetrieblichen Gründen ist dogmatisch ohne Wert Wegfall des Arbeitsplatzes (vgl. dazu BAG AZR 66/04). 5
6 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (4) Dringlichkeit: (Nach BAG und hm wird nicht danach gefragt, ob die unternehmerische Entscheidung dringlich ist; insoweit finde nur eine Willkürkontrolle statt. Dabei sei nur eine beschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung (ohne Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) vorzunehmen. Die Dringlichkeit im Einzelnen - Erforderlich ist, dass den unternehmerischen Vorgaben auf Betriebsebene nicht anders als durch Kündigung entsprochen werden kann (v. Hoyningen-Huene/ Linck: Trotz der Bindung an die Entscheidung der Unternehmensleitung ist von den Arbeitsgerichten im Rahmen des Tatbestandsmerkmals dringend [ ] zu prüfen, ob nur der Entschluss zur Kündigung in den Rahmen der umgestalteten Betriebsorganisation passt oder ob dieser auch ohne Kündigung verwirklicht werden kann ). - Weil Dringlichkeit nach hm die Unternehmerentscheidung als Datum hinnimmt, Kündigung auch zur Gewinnsteigerung. - Abbau von Leiharbeit vorrangig? - Überstundenabbau vorrangig? - Kurzarbeit als milderes Mittel? 6
7 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (5) Unternehmensebene Unternehmerische Überlegungen geben Anlass für betriebsbezogene Entscheidung Unternehmerentscheidung: Die Betriebsorganisation muss mit einem bestimmten Ziel geändert werden. Betriebsebene Dringendes betriebliches Erfordernis für die Kündigung liegt vor, wenn der Entscheidung über die Betriebsorganisation nur durch eine Kündigung Rechnung getragen werden kann. 7
8 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (6) Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Einzelnen: Nur freie Arbeitsplätze werden berücksichtigt. Dabei ist richtiger Weise auf das Freisein im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist abzustellen (Was passiert, wenn Arbeitsplatz erst gewisse Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist frei wird?). Weiterbeschäftigungspflicht ist nach hm stets unternehmensbezogen (auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG). Weiterbeschäftigungspflicht ist nicht konzernbezogen! Weiterbeschäftigungspflicht nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen bzw. zu geänderten Arbeitsbedingungen. 8
9 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (7) 100 % M-GmbH 100 % T1-GmbH T2-GmbH 9
10 Grundlagen der betriebsbedingten Kündigung (8) Das Sozialauswahlerfordernis im Einzelnen (Prüfungsschema) Betriebsbezogenheit (also anders als nach hm bei Weiterbeschäftigungspflicht keine Unternehmensbezogenheit). Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer. - Einzubeziehen sind grds. nur AN, die austauschbar sind; also nur horizontaler, kein vertikaler Vergleich ( kein Verdrängungswettbewerb nach unten ); die AN müssen somit grds. derselben Hierarchieebene angehören (vgl. etwa BAG AZR 244/03). - Einarbeitungszeiten von mehr als 3 Monaten stehen Vergleichbarkeit regelmäßig entgegen. - Teilzeitarbeitnehmer/Vollzeitarbeitnehmer Herausnahme einzelner Arbeitnehmer bei berechtigtem betrieblichem Interesse. Gewichtung der 4 Sozialkriterien (besonders probl.: Alter) 10
11 Der Abfindungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung AN hat Anspruch auf 0,5 Brutto-Monatsverdienste für jedes Jahr des Bestehens des Arbeitsverhältnisses gem. 1a KSchG, wenn AG wegen dringender betrieblicher Erfordernisse kündigt. Hinweis des AG in Kündigungserklärung, dass Kündigung auf dringende betriebliche Erfordernisse gestützt ist und AN bei Verstreichenlassen der Klagefrist Abfindung beanspruchen kann. AN binnen Frist des 4 KSchG keine Kündigungsschutzklage erhebt. Bislang kaum praktische Bedeutung. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Bei wirksamer AG-Kündigung gibt es nach KSchG keinen gesetzlichen Abfindungsanspruch. 11
12 Grundlagen des Sonderkündigungsschutzes (1) Sonderkündigungsschutz kann auf Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag beruhen. Sonderkündigungsschutz gemäß 9 MuSchG: Während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von 4 Monaten nach der Entbindung. Ausnahmsweise kann gem. 9 Abs. 3 MuSchG die Kündigung für zulässig erklären (zuständig in Bayern: Gewerbeaufsichtsämter). Der bloße Wegfall des Arbeitsplatzes soll keine Ausnahme nach 9 Abs. 3 Satz 1 MuSchG rechtfertigen, wohl aber die Schließung des Betriebes. Sonderkündigungsschutz gem. 18 BEEG: AG darf das Arbeitsverhältnis ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt ist, höchstens jedoch 8 Wochen vor Beginn der Elternzeit, und während der Elternzeit nicht kündigen. Allerdings kann in besonderen Fällen ausnahmsweise eine Kündigung für zulässig erklärt werden (zuständig in Bayern: Gewerbeaufsichtsämter). 12
13 Grundlagen des Sonderkündigungsschutzes (2) Die Behörde soll einen Ausnahmefall insbesondere dann annehmen, wenn: 1. der Betrieb, in dem der AN beschäftigt ist, stillgelegt wird und der AN nicht in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann, 2. die Betriebsabteilung, in der der AN beschäftigt ist, stillgelegt wird und der AN nicht in einer anderen Betriebsabteilung des Betriebes oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann, 3. der Betrieb oder die Betriebsabteilung, in welcher der AN beschäftigt ist, verlagert wird und der AN an dem neuen Sitz des Betriebes oder der Betriebsabteilung und auch in einer anderen Betriebsabteilung oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens nicht weiterbeschäftigt werden kann. 13
14 Grundlagen des Sonderkündigungsschutzes (3) Sonderkündigungsschutz schwerbehinderter Menschen ( 85 ff. SGB IX) Kündigung durch den AG bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes (ist in Bayern bei den Regierungen gebildet worden). Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung, kann der AG die Kündigung nur innerhalb eines Monats nach Zustellung erklären. Einschränkungen der Ermessensentscheidung des Integrationsamtes gem. 89 SGB IX: Bei nicht nur vorübergehender Einstellung oder Auflösung von Betrieben. Nicht nur vorübergehende wesentliche Einschränkung von Betrieben, wenn Beschäftigungsquote nach 71 SGB IX. weiterhin erfüllt wird. Weitere Erleichterungen im Insolvenzverfahren gem. 89 Abs. 3 SGB IX. 14
15 Grundlagen des Sonderkündigungsschutzes (4) Sonderkündigungsschutz im Rahmen der Betriebsverfassung: 15 KSchG (für die außerordentliche Kündigung von Betriebsratsmitgliedern, des Wahlvorstandes sowie von Wahlbewerbern ist die Zustimmung des Betriebsrates gem. 103 BetrVG erforderlich). Die außerordentliche ordentliche Kündigung bei Sonderkündigungsschutz aufgrund Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Einzelvertrag. Sonderkündigungsschutz und Sozialauswahl. 15
16 Grundlagen der Änderungskündigung - 2 KSchG (1) Grundstruktur: AG kündigt das Arbeitsverhältnis und bietet gleichzeitig Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen an (auch insoweit ist Kündigungsfrist beachtlich!). AN kann Angebot der Fortsetzung zu geänderten Bedingungen unter dem Vorbehalt annehmen, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist. AN muss Vorbehalt innerhalb der Kündigungsfrist, spätestens innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung erklären ( 2 Satz 2 KSchG). HM: Kündigung und Änderungsangebot bedürfen der Schriftform gem. 623 BGB. 16
17 Grundlagen der Änderungskündigung - 2 KSchG (2) Grundsatz des Vorrangs der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung. Ist ein freier Arbeitsplatz im Unternehmen vorhanden, auf dem der AN tatsächlich eingesetzt werden kann, so muss statt Beendigungskündigung immer Änderungskündigung ausgesprochen werden. Ausnahmen: Beschäftigung des AN auf dem anderen Arbeitsplatz ist für AG unzumutbar. Gibt AN unmissverständlich zu erkennen, dass er unter gar keinen Umständen auch nicht unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung bereit ist, zu den geänderten Arbeitsbedingungen zu arbeiten, kann der Arbeitgeber eine Beendigungskündigung aussprechen (BAG AZR 132/04). 17
18 Grundlagen der Änderungskündigung - 2 KSchG (3) Selbständige Rechtfertigung der Entgeltänderung erforderlich? BAG: Eine besondere Rechtfertigung der Vergütungsänderung ist nur entbehrlich, wenn sich die geänderte Vergütung für die neue Tätigkeit aus einem im Betrieb angewandten Vergütungssystem ergibt (BAG AZR 642/04). Änderungskündigung nur zur Entgeltsenkung? nach BAG theoretisch ja bei Existenzgefahr für Betrieb, Voraussetzung sei aber in jedem Fall ein umfassender Sanierungsplan, so dass nicht nur AN einen Sanierungsbeitrag liefern. praktisch hat das BAG bislang keinen Fall anerkannt. vgl. BAG ABR 40/99; vgl. aber auch BAG AZR 74/02. 18
19 Grundlagen der Änderungskündigung - 2 KSchG (4) Prüfungsschema betriebsbedingte Änderungskündigung nach herrschender Auffassung 1. Stufe: Dringende betriebliche Erfordernisse bedingen das Änderungsangebot 2. Stufe: Ultima ratio ( ob, wie hm: hat sich AG bei verschiedenen Änderungsmöglichkeiten auf den Vorschlag sol-cher Änderungen beschränkt, die der AN billiger Weise hin-nehmen muss?) 3. Stufe: Nach verfehlter Ansicht des BAG muss Vergleich-barkeit sowohl hinsichtlich des bisherigen als auch hinsichtlich des neuen Arbeitsplatzes bestehen. 19
20 Besonderheiten bei Massenentlassungen Der AG ist zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit verpflichtet, wenn die Zahl der Entlassungen die in 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG genannten Schwellenwerte überschreitet. Begriff der Entlassung im Sinne des 17 Abs. 1 KSchG wurde in Deutschland früher nicht im Sinne des Ausspruchs der Kündigung, sondern im Sinne der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden. EuGH hat zur Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie 98/59 EG mit Urteil vom entschieden, dass Kündigungserklärung des AG als Entlassung im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie gilt (EuGH Rs. C-188/03). BAG hat mit Rücksicht auf die Entscheidung des EuGH vom Abs. 1 Satz 1 KSchG mittlerweile richtlinienkonform ausgelegt (BAG AZR 243/05). 20
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