Deutscher Bundestag Drucksache 17/889 17. Wahlperiode 02. 03. 2010 Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich, Diana Golze, Andrej Hunko, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Thomas Nord, Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE. Europäisches Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen Der Bundestag wolle beschließen: I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: DiegesellschaftlicheSpaltungistdiegrößtepolitischeHerausforderungder Zeit.ArmutundsozialeAusgrenzungnehmenzu.DieBundesregierungallerdingsignoriertdieHerausforderung.SieverschärftstattdessendieWirtschaftsundSozialpolitikderVorgängerregierungen,dieArmutundsozialeAusgrenzunghervorgebrachthat.SieverfolgtkeinpolitischesProgrammzur BekämpfungvonArmutundsozialerAusgrenzung,verweigertdieAnhebung derarmutsregelsätzevonhartzivunddieeinführungvongesetzlichen MindestlöhnenundgrenztdurchrhetorischeAttackenundMissbrauchsdebattendiehilfeberechtigtenMenschenaus.DerVizekanzlerredetvon spätrömischerdekadenz,wennhilfebedürftigemenschenihrerechteinanspruch nehmen.esistzeitfüreinegrundlegendekurskorrektur.das Europäische JahrzurBekämpfungvonArmutundsozialerAusgrenzung istderpassende Zeitpunkt. DasJahr2010istdurcheinengemeinsamenBeschlussvonEuropäischemParlamentundRatzum EuropäischenJahrzurBekämpfungvonArmutundsozialerAusgrenzung ausgerufenworden.derdeutschebundestagunterstütztdie ZieleundLeitprinzipien,diemitderAusrufungdes EuropäischenJahres verfolgtwerden.insbesonderebetontdasparlament,dassdemeuropäischenjahr die AnerkennungdesGrundrechtsdervonArmutundsozialerAusgrenzung BetroffenenaufeinLebeninWürdeundaufumfassendeTeilhabeanderGesellschaft zugrundeliegt.derdeutschebundestagerinnertdiebundesregierungdaran,dasssiemitderunterstützungdes EuropäischenJahres dieverantwortungübernommenhat, einenentscheidendenbeitragzurbeseitigung vonarmutundsozialerausgrenzung ( )aufallenentscheidungsebenenzu leisten (BeschlussdesEuropäischenParlamentsunddesRatesüberdasEuropäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010). DieEntwicklungdersozialenUngleichheit,diewachsendeSpaltungzwischen armundreichineuropaundindeutschlandmachteinaktivespolitisches GegensteuerninallenmaßgeblichenPolitikfeldernnotwendig.DerBundestag befürchtetallerdings,dassdaseuropäischejahrzueinerbloßenpr-aktion verkommtunddieverpflichtungzupolitischemhandelnindemjeweiligenzuständigkeitsbereichignoriertwird.diebundesregierungprovoziertmassive Zweifeldaran,dasssiedieNotwendigkeiteineraktivenPolitikzurVermeidung undbekämpfungvonarmutundsozialerausgrenzungalsihreaufgabean-
Drucksache 17/889 2 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode genommenhat.das EuropäischeJahr wirdinderkoalitionsvereinbarung zwischencdu,csuundfdpmitkeinemworterwähnt.folgerichtiglässt auchdasskizziertepolitischeprogrammfürdielegislaturperiodenichterkennen,dassdiebekämpfungvonarmutundausgrenzungeinanliegender Bundesregierungwäre.ArmutkenntdieBundesregierunginihrerKoalitionsvereinbarungnuralsProblemandererLänderundalszukünftigeAltersarmut, Ausgrenzungüberhauptnicht.InzentralenPolitikfeldern u.a.gesundheit, Bildung,Familie setztdiekoalitiondurchprivatisierungundvermarktlichungöffentlicherdienstleistungaufeinepolitikderausgrenzung.aufdas vombundesverfassungsgerichtinseinemurteilvom9.februar2010statuierte GrundrechtaufGewährleistungeinesmenschenwürdigenExistenzminimums habendiversekoalitionspolitikerstattmitvorschlägenzurverbesserungder LagevonGrundsicherungsbeziehendenmitRufennachKürzungenderRegelsätzereagiert.AndereplädierenfürSachleistungenundwollensodieStigmatisierungundAusgrenzungvonMenschenimstaatlichenHilfebezugnochverschärfen.DenzurBekämpfungvonArmuttrotzArbeitdringenderforderlichen gesetzlichenmindestlohnlehntdiebundesregierungweiterhinstriktab.siehat zureffektivenbekämpfungvonarmutundsozialerausgrenzungkeinkonzept undverschärftdieproblemedurchihrforciertesprogrammzurumverteilung von unten nach oben. II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Laufe des Jahres 2010 1.aufnationalerEbeneeinProgrammgegenArmutundsozialeAusgrenzung vorzulegen, das zumindest folgende Kriterien erfüllt: a)derkampfgegenarmutundsozialeausgrenzungwirdalspolitische Priorität ausgewiesen, b)eswerdenverbindlichezielezurreduktionvonarmutundsozialerausgrenzung mit einem konkreten Zeithorizont festgelegt, c)dieerreichungderjeweiligenzielewirdmiteinemkonkreten,mitausreichendenfinanziellenmittelnausgestattetenhandlungsprogramm unterfüttert, d)dieausarbeitungdesprogrammsbeziehtrelevanteakteure insbesondereauchgewerkschaften,sozialverbändesowievereinigungenvon Betroffenen ein; 2.aufEU-EbenedasThemaVermeidungundBekämpfungvonArmutundsozialer Ausgrenzung zu einer zentralen Priorität zu machen. Dies beinhaltet: a)daseinsetzenfüreinesozialefortschrittsklauselindaseu-vertragswerk, b)diedefinitionvonverbindlichenzielenimkampfgegenarmutund sozialeausgrenzungmiteinemkonkretenzeithorizontaufeuropäischer Ebene, c)dieunterfütterungderjeweiligenzielemiteinemkonkretenhandlungsprogramm, d)beiderausarbeitungdesprogrammswerdenrelevanteakteure insbesondereauchgewerkschaften,sozialverbändesowievereinigungen von Betroffenen einbezogen werden. Berlin, den 2. März 2010 Dr. Gregor Gysi und Fraktion
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 3 Drucksache 17/889 Begründung 1.ArmutundsozialeAusgrenzungsindgesellschaftlicheRealitätundResultateeinerPolitikinDeutschlandundderEU,diesozialeSicherungssysteme zugunstenvonstandort-undunternehmensinteressenausgehöhlthat. Agenda2010undLissabon-StrategiesindAusdruckdieserPolitik.Diesgilt gleichermaßenfürdieeuwiefürdiebundesrepublikdeutschland.die ArmutsgefährdungsquoteliegtinderEuropäischenUnionbei17Prozent.In denländernderalteneu (EU-15)undderEurozoneliegtsiemit16Prozent nurgeringfügigniedriger.deutschlandweisteinearmutsgefährdungsquote von15prozentaufundliegtdamitdeutlichüberdenwertenstrukturellvergleichbarerländerwieschweden,dänemark,derniederlande,frankreich oderösterreich (alledaten:eurostatmitstandvom29.januar2010).auch warhierderanstiegbesondersstark.dieungleichheitdereinkommensverteilunghatindereuropäischenunionebenfallseinenkritischenwerterreicht.deutschlandliegthiernahameu-durchschnittundwiederumweit überdenungleichheitsmaßenderskandinavischenländeroderösterreichs. FürDeutschlandhabendieArmuts-undReichtumsberichtederBundesregierungdenHandlungsbedarfinSachenArmutundsozialeAusgrenzung deutlichvoraugengeführt.diejüngstendatendesdeutscheninstitutsfür Wirtschaftsforschung DIW (Grabka,MarkusM./Frick,R.Joachim2010: WeiterhinhohesArmutsrisikoinDeutschland:KinderundjungeErwachsenesindbesondersbetroffen,in:DIW-Wochenbericht7/2010)unterstreichendieseneindrücklich.Demnachsind14ProzentderBevölkerungoder 11,5MillionenMenschenvonArmutbedroht.DieArmutsrisikoquoteistin denvergangenenjahrenumrundeindrittelgestiegen (ebd.,s.5).auch wenndieveröffentlichungdesdiwkeinegeschlechtsspezifischedifferenzierungenthält,istbekannt,dassdierisikoquotevonfrauenüberdervon Männernliegt (Bundesregierung:LebenslageninDeutschland DritterArmuts-undReichtumsbericht,Bundestagsdrucksache16/9915,S.184).Dies nichtzuletztdeshalb,weilbesondershaushaltemitkindernundhier wiederumbesondersvonalleinerziehendenbetroffensind.80prozentvon ihnensindfrauen.aucherwerbslose,menschenmitbehinderungenund MigrantinnenundMigrantenweiseneinerhöhtesArmutsrisikoauf.Die besondersbetroffenengruppensindindieentwicklungeinesprogramms gegenarmutundsozialeausgrenzungeinzubeziehen.inostdeutschland lagdasarmutsrisikoindenvergangenenzehnjahrendurchgängigdeutlich überdemwestdeutschenniveau.aufgrundeiner aktivierenden Arbeitsmarktpolitik,dieaufdenAufbaueinesNiedriglohnsektorssetztunddieZunahmevonLeiharbeitbefördert,schütztauchArbeitinvielenFällennicht mehrvorarmut.rund1,37millionenerwerbstätigesindaufzusätzliche LeistungennachdemZweitenBuchSozialgesetzbuch SGBII (HartzIV) angewiesen. 2.DieVerantwortungderdeutschenBundesregierungliegtinersterLinieauf nationalerebene.hierverweigerteaberbereitsdievorgängerregierungdie BestimmungvonverbindlichenZielenbeiderBekämpfungvonArmutund sozialerausgrenzung (BundesministeriumfürArbeitundSoziales:NationalerStrategiebericht.SozialschutzundsozialeEingliederung2008bis2010). DieKoalitionsvereinbarungderaktuellenRegierungausCDU,CSUund FDPignoriertdasEuropäischeJahralsHerausforderungkomplett.EinHandlungsprogrammgegenArmutundsozialeAusgrenzungistnichterkennbar. AuchdieDebatteimAnschlussandasBundesverfassungsgerichtsurteilvom 9.Februar2010zurVerfassungswidrigkeitderHartz-IV-Regelleistungen lässtaneinemangemessenenproblembewusstseinderbundesregierung zweifeln.vertreterderbundesregierungbeförderneinemissbrauchsdebatte undversuchensozialleistungsberechtigtegegenniedriglohnbeziehendeauszuspielen.
Drucksache 17/889 4 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode KonkreteMaßnahmenundUnterlassungenkonterkarierendie Nationale StrategiefürDeutschlandzurUmsetzungdesEuropäischenJahres2010 gegenarmutundsozialeausgrenzung (BundesministeriumfürArbeitund Soziales:MitneuemMut.NationaleStrategiefürDeutschlandzurUmsetzungdesEuropäischenJahres2010gegenArmutundsozialeAusgrenzung).HierhattedieBundesregierungdreiinhaltlicheSchwerpunkte präsentiert (a.a.o., S.7 bis 11): 1. Jedes Kind ist wichtig Entwicklungschancen verbessern. 2. Wo ist der Einstieg? Mit Arbeit Hilfebedüftigkeit überwinden! 3. IntegrationstattAusgrenzung SelbstbestimmteTeilhabefüralle Menschen! InderRegierungspraxisspielendieseZieleaberkeinespürbareRolle, sondernwerdenkonterkariert.soistdaskindergeldum20europromonat undkindangehobenworden.diebundesregierunglässtaberzu,dassdie ärmstenkinder KindervonElternimHartz-IV-Leistungsbezug von dieserleistungserhöhungausgeschlossenwerden.sievernachlässigtdarüberhinausdenausbauvonnotwendigersozialerinfrastrukturinsbesondereindenbereichenkinderbetreuungundbildung.gleichzeitighatdie schwarz-gelberegierungdeutlichgemacht,dasssiekeinengesetzlichen Mindestlohneinführenwill.DamitverhindertdieRegierungbewusst,dass mitarbeithilfebedürftigkeitüberwundenwerdenkann.insgesamtfehltes derbundesregierungoffensichtlichanderbereitschaft,einedringendnotwendigeumverteilungdesgesellschaftlichenreichtumsvonobennach unten durchzusetzen. 3.VerantwortungträgtdieBundesregierungaberauchaufeuropäischerEbene. DieBundesregierungmussdaraufhinwirken,dassdiesozialeDimensionder europäischenintegrationgestärktwird.dazubedarfeseinesumfassenden wirtschafts-undsozialpolitischenkurswechselsindereuropäischenunion. DieneoliberaleLissabon-StrategieführtzueinemeuropaweitenWettlaufum dieniedrigstensteuern,löhneundsozialleistungen.dieabhängigbeschäftigtenwerdengegeneinanderausgespielt.einesozialefortschrittsklausel musszurvermeidungvonsozialdumpingindaseu-vertragswerkaufgenommenwerden.indersozialpolitikmüssenverbindlichezielezur BekämpfungvonArmutundsozialerAusgrenzungdefiniertwerden.Die Bundesregierungkanndabeiaufdemsog.Zimmer-BerichtdesEuropäischenParlamentsaufbauen (EuropäischesParlamentA6-0364/2008).Das EuropäischeParlamenthatdenBerichtmiteinerüberwältigendenMehrheit beschlossen:von629abgegebenenstimmenstimmten540abgeordnete dafür.indem BerichtüberdieFörderungdersozialenIntegrationunddie BekämpfungderArmut,einschließlichderKinderarmut,inderEU werden umfassendhandlungsfelderundzielefüreinepolitikgegenarmutund sozialeausgrenzungaufgeführt.sechshandlungsfelderwerdenindem Bericht identifiziert: ein ganzheitlicher Ansatz zur aktiven sozialen Einbeziehung, diegewährleistungausreichenderzuwendungen,umalleneinmenschenwürdiges Leben ermöglichen zu können, diebeseitigungderkinderarmutdurcheinenübergangvonderanalyse zur zielgerichteten Politik und Umsetzung, Beschäftigungspolitik für soziale integrative Arbeitsmärkte, BereitstellungvonDienstleistungenhoherQualitätundGewährleistung des Zugangs für schutzbedürftige und benachteiligte Gruppen, VerbesserungderpolitischenKoordinierungundEinbeziehungaller maßgeblichen Akteure.
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 5 Drucksache 17/889 UnterdenzahlreicheneinzelnenMaßnahmenundZielensinddieForderungennachEU-VorgabenfürarmutsfesteMindestsicherungssystemeund MindestlöhneebensozubetonenwiedasZiel,bis2015Obdachlosigkeitzu beseitigen,imrahmenderbarcelona-zielebis2015indergesamtenunion Betreuungseinrichtungenfür90ProzentallerKindervomSäuglingsalterbis zumschulpflichtigenalterbereitzuhaltenundkinderarmutbis2010um 50Prozent zu verringern. DieBundesregierungistaufgefordert,sichfürdieAnerkennungundUmsetzungderZieleundHandlungsvorschlägedesZimmer-Berichtsaufder europäischen Ebene einzusetzen.
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