Deutscher Bundestag Drucksache 17/4928 17. Wahlperiode 24. 02. 2011 Kleine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Sonderweg der Kirchen im Arbeitsrecht Entgelte, Arbeitsbedingungen und Streikrecht DasVerhältnisvonStaatundReligionsgemeinschaftenistinDeutschlandvon derreligionsfreiheit,dertrennungvonstaatundkircheunddemkirchlichen Selbstbestimmungsrechtgeprägt.EinigeKirchenwiediekatholischeKirche, dieevangelischenlandeskirchensowieauchisraelitischesynagogengemeinden werdeninderrechtsformeinerkörperschaftdesöffentlichenrechtseigener Artgeführt.ImUnterschiedzuanderenKörperschaftendesöffentlichenRechts sinddiereligionsgemeinschaftenmitkörperschaftsstatusaberkeinteildes StaatesundsomitnichtTrägeröffentlicherGewaltimSinnedesArtikels1Absatz3desGrundgesetzes.InfolgedessensinddieReligionsgemeinschaftennicht grundrechtsverpflichtet,sonderngrundrechtsberechtigt.siebesitzeneinenkörperschaftsstatuseigenerart.esgibtdeshalbkeinestaatlicherechtsaufsichtüber die öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften. DieserStatusisthistorischgewachsenundwirdauchdurchweitreichende, verfassungsrechtlichgarantierteprivilegiengeschützt.dazugehört,dassdie öffentlich-rechtlichenglaubensgemeinschaftenorganisatorischundreligiös selbstbestimmtagieren.allerdingsergibtsichgeradeausihremstatusals KörperschaftdesöffentlichenRechtsdiebesondereVerpflichtung,dieGrundprinzipienunsererVerfassungzuachtenunddenvollenDiskriminierungsschutz umzusetzen. DieArbeitsbedingungenderArbeitnehmendeninkirchlichenWirtschaftsbetriebenwieDiakonieundCaritaswerdennichtmitdenGewerkschaftenin Tarifverträgenvereinbart,sonderninsogenanntenArbeitsrechtlichenKommissionenbeschlossen.DieserkirchlicheSonderwegimArbeitsrechtwurdevon den Gewerkschaften seit jeher kritisiert. Schoninden1950er-JahrenhatdieÖTV,seit2001VereinteDienstleistungsgewerkschaftver.di,denAbschlussvonTarifverträgenunddieGültigkeitdes StreikrechtsinkirchlichenWirtschaftsbetriebeneingefordert.DieDGB-GewerkschaftenhabendenkirchlichenSonderwegnieakzeptiert.Eskamaber nichtzukonfliktenumdenmaterielleninhaltderkirchlichenregelwerke,da z.b.inarbeitsvertragsordnungenundarbeitsvertragsrichtlinienderdiakonie unddercaritasimwesentlichendietarifeundarbeitsbedingungendesöffentlichen Dienstes übernommen wurden. DieÖkonomisierungdersozialenDienstleistungenunddiedamitverbundene EinführungmarktwirtschaftlicherElementeindieEntgeltstruktursowieknappe FinanzierungenseitensderöffentlichenHandhabendieBranchengrundlegend verändert.immermehrkirchlichewirtschaftsbetriebenutzendenkirchlichen
Drucksache 17/4928 2 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode SonderwegundweichenvonEntgeltenimÖffentlichenDienstab.InderFolge entstehenwettbewerbsvorteilegegenüberprivatenundöffentlichenanbietern, die zunehmend den Lohn- und Preiswettbewerb in den Branchen prägen. AufSeitenderBeschäftigteninkirchlichenWirtschaftsbetriebensteigtderUnmut,denndieEinflussmöglichkeitenderMitarbeitervertretungenundtraditionellenkirchlichenMitarbeiterverbändeaufArbeitsbedingungen,Arbeitszeit undarbeitsentgeltesindgering.beschäftigteninkirchlicheneinrichtungen wird imunterschiedzubeschäftigteninanderenbereichen diemöglichkeitverwehrt,mitdenmittelndergewerkschaftenfürbesserearbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen. DarüberhinausergibtsichausdembesonderenTendenzschutzderReligionsgemeinschaftendasRecht,MitarbeiterinnenundMitarbeiterwegenihrerReligion oderihrerweltanschauungbeiderbeschäftigungunterschiedlichzubehandeln ( 9desAllgemeinenGleichbehandlungsgesetzes).Allerdingsbeziehtsichdieses RechtangesichtsdereuropäischenAntidiskriminierungsrichtlinienimGegensatzzurbisherigenRechtsprechunglediglichaufdenzentralenKernderGlaubensverkündigung.DiesbetrifftebenfallsdasKündigungsrechtgegenüberMitarbeiterinnenundMitarbeitern,diebeispielsweiseihreKonfessionändern,sich scheiden lassen oder eine Lebenspartnerschaft eingehen. Wir fragen die Bundesregierung: Allgemeine Fragen 1.WievieleBeschäftigtesindnachdemDrittenWegderKircheninkirchlichenEinrichtungenundinwelchenBranchenangestellt (bittedifferenziert nach Vollzeit, Teilzeit, Minijobs, Leiharbeit und Werkverträgen)? 2.WiebeurteiltdieBundesregierungdasVerfahrenindenArbeitsrechtlichen Kommissionen,densogenanntenDrittenWegderKirchen,imVergleichzu VerhandlungenzwischenArbeitgebernundGewerkschaftennachdemTarifvertragsgesetz? 3.IstesausSichtderBundesregierungakzeptabel,dassdieSonderstellungder KirchenimArbeitsrecht,überdenengenBereichderVerkündigunghinaus, auchinallenanderenkirchlicheneinrichtungen,diegesellschaftlicheaufgaben übernehmen, gilt? 4.SindderBundesregierungInformationenüberUmbrücheundKonfliktein denarbeitsrechtlichenkommissionenderkirchen,diediearbeitsvertragsrichtlinien (AVR)undVergütungsordnungenfürdieBeschäftigteninkirchlichen Einrichtungen festlegen, bekannt? Wenn ja, welche? Vereinbarkeit mit dem europäischen Binnenmarkt 5.IstderkirchlicheSonderwegimArbeitsrechtausSichtderBundesregierung mittel-bislangfristigmitdenregelneinesgemeinsameneuropäischenbinnenmarktes mit gleichen Arbeitsrechten zu vereinbaren? Wenn ja, warum? 6.SindderBundesregierungDiskussionenimEuropäischenRat,derEU- KommissionunddemEuropäischenParlamentüberdenkirchlichenSonderweg im Arbeitsrecht bekannt? Wennja,inwelcheneuropäischenInstitutionengibtesKritikamdeutschen Sonderweg,vonwemstammtdieKritik,undwelcheForderungenwerden diskutiert?
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 3 Drucksache 17/4928 7.HatdieEuropäischeKommissionseit2005mitderBundesregierung wegendeskirchlichensonderwegsimarbeitsrechtkontaktaufarbeitsebene aufgenommen? Wennja,umwelcheInhaltegehtes,wieintensivistderKontakt,underwartetdieBundesregierung,dassdieEuropäischeKommissionInitiativen zurveränderungdesdeutschensonderwegsderkirchenfordertodereinleitet? Nationaler Wettbewerb 8.WelcheAuswirkungenhatderkirchlicheSonderwegimArbeitsrechtlaut AuffassungderBundesregierungaufdieWettbewerbsbedingungenderöffentlichen,privatenundkirchlichenUnternehmenimBereichdersozialen Dienstleistungen? 9.TeiltdieBundesregierungdieEinschätzungkommunalerundprivatwirtschaftlicherUnternehmen,diesozialeDienstleistungenverrichten,dassder kirchlichesonderwegderentgeltfindungeinenlohndrucknachuntenverursachtundanbieter,diez.b.dietarifverträgedesöffentlichendienstes anwenden,vermehrtwegesuchenmüssen,umvondentarifverträgenabweichenzukönnen,umimwettbewerbmitdenkirchlicheneinrichtungen bestehen zu können? 10.WiebeurteiltdieBundesregierung,dasskirchlicheEinrichtungenimBereichdersozialenDienstleistungenihreselbstfestgelegtenArbeitsvertragsrichtlinienundVergütungsordnungendurchdenEinsatzvonLeiharbeitskräften umgehen? 11.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassdieUmgehungderAVR undvergütungsordnungenmittelsleiharbeitskräftendendrittenwegder Kirchen im Arbeitsrecht infrage stellt? Arbeitsbedingungen und Entgelte 12.WelcheUnterschiedebestehenbeidenArbeitsbedingungenundArbeitszeitenzwischenkirchlichen,privatwirtschaftlichenundöffentlichenWirtschaftseinrichtungen (bittedifferenziertnachkonfession,privatwirtschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen)? 13.LiegenderBundesregierungDatenüberdieEntgeltdifferenzzwischen kirchlichen, privaten und öffentlichen Einrichtungen vor? Wennja,wiehochistdieEntgeltdifferenz (bittedifferenziertnachkonfession, Privatwirtschaft und öffentlichen Einrichtungen)? Wennnein,wirddieBundesregierungeineUntersuchungderAbweichungenvonEntgeltenundArbeitsbedingungenzwischenkirchlichen,privaten und öffentlichen Einrichtungen in Auftrag geben? 14.WiehochsinddieMedian-undDurchschnittseinkommeninkirchlichen Wirtschaftsunternehmen im Bereich der sozialen Dienstleistungen? 15.WiehochsinddieMedian-undDurchschnittseinkommeninprivatenund öffentlicheneinrichtungenimgesundheits-undpflegebereichsowiebei anderensozialendienstleistungen,dievonkirchlichenbetriebenerbracht werden?
Drucksache 17/4928 4 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode Koalitionsfreiheit und Streikrecht 16.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassdieEinschränkungderKoalitionsfreiheit in kirchlichen Einrichtungen noch zeitgemäß ist? Wenn ja, warum? 17.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassBeschäftigteinkirchlichen EinrichtungenvergleichbareMöglichkeitenzurDurchsetzungbessererArbeitsbedingungenundEntgeltehabenwieBeschäftigteinnichtkirchlichen Unternehmen? Wenn ja, warum? 18.WelcheSchlussfolgerungenziehtdieBundesregierungausderEntscheidung deslandesarbeitsgerichtshammvom13.januar2011,dasgeurteilthat, dassstreiksinkirchlicheneinrichtungennichtgenerellunzulässigsindund eingenerellesstreikverbotunverhältnismäßigindasimgrundgesetzverbürgte Streikrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingreift? 19.HältdieBundesregierungeinStreikrechtinkirchlichenWirtschaftsbetrieben für notwendig? 20.WiebeabsichtigtdieBundesregierungdieBeschäftigteninkirchlichenEinrichtungeninihrenBestrebungennachgleichenArbeitsrechtenzustärken? Kündigungsrecht 21.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassderbesondereTendenzschutz derreligionsgemeinschaftenundinsbesonderederenkündigungsrecht sichangesichtsdereuropäischenantidiskriminierungsrichtlinienlediglich auf den zentralen Kern der Glaubensverkündigung beziehen? Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung? 22.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassBeschäftigtebeikirchlichen WirtschaftsbetriebenwiederDiakonieundderCaritas soweitsiekeine Tendenzträgersind wegenihrerkonfession,konfessionslosigkeitbzw. eineskonfessionswechselswederbevorzugtnochbenachteiligtwerden dürfen? Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung? 23.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassBeschäftigtebeikirchlichen WirtschaftsbetriebenwiederDiakonieundderCaritas soweitsiekeine Tendenzträgersind aufgrunddervonihnengewähltenfamilienformweder bevorzugt noch benachteiligt werden dürfen? Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung? 24.IstdieBundesregierungderAuffassung,dassangesichtsderneustenRechtsprechungdesEuropäischenGerichtshofesfürMenschenrechteimFalle einesarbeitsrechtlichenstreitszwischenkirchenbzw.kirchlichenwirtschaftsbetriebenundderenmitarbeiterinnenundmitarbeitereingenereller TendenzschutzbestehtoderaberderFallerstnacheinerEinzelprüfungund unterberücksichtigungdereuropäischenantidiskriminierungsrichtlinien zu entscheiden ist?
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 5 Drucksache 17/4928 25.IstdieBundesregierungderRechtsauffassung,dassangesichtsdesAufrufes derkatholischentheologen,menschennichtauszuschließen, dieliebe, TreueundgegenseitigeSorgeineinergleichgeschlechtlichenPartnerschaft oderalswiederverheiratetegeschiedeneverantwortlichleben (www. memorandum-freiheit.de),vonkeinereinheitlichenausgrenzendenhaltung derkatholischenkirchemehrausgegangenwerdenkannunddahereine BenachteiligungodergarKündigungimHinblickaufdieLebensformfür diese Gruppen im kirchlichen Dienst nicht mehr begründet werden kann? Falls nein, wie begründet sie ihre Rechtsauffassung? Berlin, den 24. Februar 2011 Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
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